Lyle Lovett

Seine musikalischen Einflüsse waren urtexanisch: Lefty Frizzells Honky Tonk, dem er als Kind im Radio lauschte, Bob Wills' Western Swing, zu dem die Eltern tanzten, der Blues von Lightnin' Hopkins, die Outlaws um Willie Nelson, und die Songpoeten Townes Van Zandt und Guy Clark. Entsprechend abenteuerlich ist der Stilmix aus Country, Rhythm & Blues, Folk, Gospel und Swing, auf dem Lovett seine unverwechselbar eigenen, nicht selten bockigen und bösen Songs reitet.

Stolz gehört nicht zu den Gefühlen, derer sich Lyle Lovett oft erfreut. Und wenn er es tut, dann mit leiser stimme und Gewissensbissen. Die ihm anzusehen sind. Sein kantiges Antlitz errötet, legt sich in Falten, die Mundwinkel ziehen steil nach oben und inmitten der verlegenen Grimasse glitzern die eng stehenden Äuglein verräterisch. Es ist ein anderes Grinsen als jenes dünne, nur leicht angedeutete, das Lovett an den Tag legt, wenn Komik im Spiel ist. Hintergründige, feine Ironie verträgt keine grobe Mimik. Und die meiste Zeit über ist der eher scheue, nicht zu Übertreibungen neigende Texaner ohnehin ernst. Vollends, wenn im Gespräch an Dinge gerührt wird, die ihm wichtig sind. Wichtiger noch als seine Musik. Dinge wie Familie, Treue, Traditionen.

Den schleichenden Verlust letzterer beklagt Lyle Lovett auch in etlichen seiner Songs, in bissigen Zeilen und bizarren Bildern. Der sogenannte Fortschritt sei sein Freund nicht, sagt er mit Nachdruck. Es sei überhaupt schwer für ihn, Veränderungen zu akzeptieren, jedenfalls kenne er nicht viele, die zu begrüßen wären. Und so gestattet sich der überaus Bescheidene ein wenig Stolz, wenn er vom erfolgreichen Bemühen berichtet, das Rad der Zeit kurz angehalten oder es gar zurückgedreht zu haben. Nur für sich und die Seinen natürlich, aber es ist ja schließlich jeder auch nur seines eigenen Glückes Schmied.

Ein Sinnspruch, der im Hilf-Dir-selbst-dann-hilft-Dir-Gott gründet, jener rigorosen Selbstverpflichtung, die Lovetts deutsche Vorfahren das Überleben selbst unter widrigsten Umständen ermöglichte. Lyle ist sich dieses Vermächtnisses wohl bewusst. Die Frage, ob sie ihm heute noch helfe, diese protestantische Arbeitsethik, beantwortet er mit einem emphatischen Ja. „Früh aufstehen, deine dir selbst gestellten Aufgaben umsichtig und zielgerichtet angehen, sie ordentlich erledigen: so habe ich das gelernt, das steckt tief in mir. It’s part of my German heritage.“ Ein Erbe, das nicht bloß verwaltet sein will, sondern Herausforderungen bereithält. Den Transport eines Hauses etwa, wenn daran so unbezahlbar Wertvolles hängt wie Erinnerungen.

Lyle Lovett lebt in Klein, Texas. Früher lag der Ort 25 Meilen nördlich von Houston, also im südöstlichen Winkel des Lone Star State, nahe der Golfküste. Inzwischen hat die Metropole das Umland geschluckt, die Urbanisierung schritt unaufhaltsam voran. Nicht nur zum Leidwesen der Lovetts, sondern auch zum Schaden ihrer Farm. Steigende Grundstückspreise, skrupellose Spekulanten, fällige Erbschaftssteuern und sonstige fiskalische Unbill führten zum Verkauf des Hauses der Großeltern. Und es kostete den singenden Nachfahren nicht unerhebliche Anstrengungen, dieses Haus, das sein Großvater 1911 erbaut und in dem Lyle einen Gutteil seiner glücklichen Kindheit verbracht hatte, für sich zu retten, es zurückzuholen auf eigenes Land. Rund 200 Meter weit wurde das weiße Holzhaus gezogen und vom Enkel wieder bezogen. Heute, so Lovett, gewähre ihm der Blick aus dem Fenster dieselbe Aussicht, die seine Großmutter seinerzeit genoss. Denn auch die Bäume stehen wie einst zum Haus, ihr Standort war exakt vermessen worden, bevor das Haus bewegt wurde. Lyle lächelt nicht, er grimassiert errötend. Ja, gesteht er, darauf sei er ein bisschen stolz.

Lyle Lovetts Angehörige mütterlicherseits sind Kleins. Sein Ururgroßvater war Adam Klein, den es 1848 aus dem Oberschwäbischen nach Amerika verschlug, wo er sein Glück mit harter Arbeit suchte, vom Goldrausch in Kalifornien aus der Bahn geworfen wurde, nach Panama ritt und zurücksegelte nach Galveston. In Texas wurde er sesshaft, weil das flache, aber fruchtbare Land die alte Heimat evozierte. Ein Gefühl, das viele deutsche Einwanderer überkam, denn sie ließen sich in großer Zahl dort nieder. Weshalb Nachnamen wie Klink und Doerre keine Seltenheit sind in der weiteren Umgebung des Fleckens namens Klein. So benannt von Adam, nachdem er ein paar Farmhäuser gebaut hatte, dann eine lutherische Kirche und eine Schule.

Hundert Jahre später – Klein, Texas war durch Familiennachzug und Fortpflanzung zu einer Ortschaft angewachsen —ging Lyle wochentags auf diese Schule und sonntags in diese Kirche. Am 1.November 1957 geboren, spielte sich seine ganze Kindheit innerhalb eines Radius von „wenigen Meilen ab. Es sei denn, seine Eltern, die in Houston für eine Ölfirma arbeiteten, nahmen ihn im Auto mit zu Überlandfahrten. Was der Junge liebte, nicht weil er nicht gern bei den Großeltern geblieben wäre, sondern weil ihn das Neue lockte, die Ferne. Einen Widerspruch zwischen seiner Bodenhaftung und tiefen Verwurzelung in Klein auf der einen und dieser Reiselust auf der anderen Seite sieht Lovett nicht. Das bedinge einander, er brauche beides.

Wir sitzen in Fahrtrichtung auf den beiden besten Plätzen im Tourbus: oben, ganz vorn. Unter uns spult sich eintönig der Asphalt einer Autobahn ab, das öde Kilometerfressen kontrastiert eigentümlich mit den mäandernden Aufs und Abs unserer Unterhaltung. Es war Lyles Idee gewesen, die Zeit zwischen Konzerten für ungestörte, längere Gespräche zu nutzen, und er ist ein vorbildlicher Gastgeber: allzeit aufmerksam, geduldig, gedankenvoll und von ausgesuchter Südstaaten-Höflichkeit. Lovett zeigt sich positiv beeindruckt vom Zustand der Straße und von der Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer, die er als „orderly“ lobt.

Oberhaupt scheint der Themenkomplex Fahrzeug-Straße für die meisten an Bord ein Faszinosum zu sein, das gern durchgekaut wird. Nicht von April Kimble, Lyles langjähriger Freundin, einer charmanten texanischen Schönheit, um die den Songwriter zu beneiden kein Weg führt. Doch die Musiker von Lyle Lovetts Acoustic Group sowie Roadmanager Robert und Stagemanager Maple sind offenkundig Autonarren, ein Begriff, der ja unbedingt wörtlich zu verstehen ist. Ob Opel gute Autos baue, will man von mir wissen. Ich könne einen Opel nicht von einem Mähdrescher unterscheiden, gebe ich zurück. Und sinke wohl im kollektiven Ansehen der Anwesenden, die freilich viel zu gentil sind, das zu zeigen. Stattdessen wird reihum von besten Erfahrungen berichtet, die man mit deutschen Automobilen gemacht habe. Viktor Krauss, Alisons Bruder und Standup-Bassist des hochklassigen Ensembles, erinnert sich wehmütig an einen Volkswagen, den er sich als Student habe leisten können. Ob es denn weit sei nach Wolfsburg, fragt er andächtig, als plane er eine Pilgerreise. John Hagen, Cellist aus Austin und bereits seit 30 Jahren an Lyles Seite, trumpft mit mehreren deutschen Fabrikaten auf, deren Lenkrad er bereits in Händen gehalten habe, zu seiner vollsten Zufriedenheit. Dankenswerterweise versteht es Russell Kunkel, seines Zeichens Session-Crack am Schlagzeug, die automobilistische Fachsimpelei ein ums andere Mal zurückzulenken in musikologische Bahnen.

Russ Kunkel! Ein Raunen geht durch das Publikum, wenn Lovett den Namen des Drummers nennt, im Rahmen der Band-Vorstellung. „Natürlich werden sämtliche Instrumentalisten mit wohlverdientem Applaus bedacht, doch in den für Kunkel mischen sich . Aaahs“ und „Ooohs“ dunklerer Stimmfärbung. Männer, ausnahmslos. Am vernehmlichsten in Amsterdam, aber auch in Stuttgart oder Berlin nicht zu überhören. Gäbe es Frauen, denen die Credits auf der Rückseite von Plattencovern hin und wieder ein paar Minuten wert wären, würde der Akklamationschor ein wenig heller klingen. Tatsache ist, dass kein Gewichtheber der Welt auf einmal alle Platten stemmen könnte, auf denen Kunkels virtuoses Trommeln verewigt ist. Wie er sein Spiel umstellte, im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle, wo kein Ton seiner Räumlichkeit beraubt wird, zur Passionskirche in Berlin, einem romanischen Backsteinbau mit Resonanzfallen an allen Ecken, war beeindruckend. „Es ist ein Privileg, ihn auf der Bühne hinter sich zu wissen“, sagt Lyle Lovett mit gravitätischere Ernst, „aber das gilt selbstverständlich auch für die anderen Musiker. Ich habe das Glück, mit einigen der besten auftreten zu dürfen.“ Und die dafür notwendigen Mittel. „Genau“, nickt Lovett und grinst wie entschuldigend, „aber das war nicht immer so.“

Lyles früheste Erinnerungen an Musik sind eng mit dem Elternhaus verknüpft. Aus dem Radio drangen verheißungsvolle Töne, denen er erst später Namen zuordnen lernte: Lefty Frizzell und Ray Charles. Und Western Swing. „Bob Wills wurde erst viel später wichtig für mich“, erklärt Lovett, „weil seine Musik immer da war, weil ich sie nie für mich entdecken musste. Es war die Musik, zu der meine Eltern tanzten. Sie nahmen mich oft mit zu Tanzveranstaltungen und so barg diese Musik für mich kein Geheimnis.“ Der elterliche Plattenschrank schon. Dort fand Lyle Musik vieler Spielarten, von Big Joe Turner über Bück Owens bis zu Herb Alpert & His Tijuana Brass.

Eine wilde Stilmixtur, die dem Umstand geschuldet war, dass die Lovetts Mitglieder eines Plattenclubs waren und sich gern überraschen Ließen. Von musikalischer Monokultur konnte mithin keine Rede sein, Lyle entwickelte zwar Vorlieben, war aber schon als Kind erpicht auf neue Klänge. Und es braucht kein Genie, um einen kausalen Zusammenhang zu erkennen zwischen den musikalischen Abenteuern in früher Jugend und Lovetts konsequenter Weigerung, sich an Stilbegrenzungen zu halten. Die Selbstverständlichkeit, mit der er Country und Blues, Gospel und Folk, Bluegrass und Swing nicht fusionswütig ihres spezifischen Charakters beraubt, sondern sich die unterschiedlichsten Traditionen streng im Dienste der Songs aneignet, respektvoll sowieso, lässt auf die Freuden schließen, die der elterliche Plattenspieler einst für ihn bereithielt.

Den Rock’n’Roll verpasste Lyle, dank der Ungnade später Geburt. Er sei noch ein Säugling gewesen, so Lovett, als Elvis und Buddy Holly in Texas für Furore sorgten. Später habe er sich zwar mit ihrer Musik angefreundet, doch zu einer flammenden Liebe habe es nicht mehr gereicht. Die „British Invasion“ erlebte er bewusster, sah die Beatles in der „Ed Sullivan Show“ und war hin und weg. Vor allem „I Want To Hold Your Hand“ hatte es ihm angetan, ein Song, der folglich ein paar Jahre später seinen Weg ins Repertoire der Schüler-Combo fand, in der Lyle Gitarre spielte, zusammen mit „Gloria“ und anderen Gassenhauern der Beat-Ära. Auch an Stones-Hits versuchte man sich, besser indes klappte es mit denen der Monkees. In der High School schloss sich Lovett der Future Farmers of America Band an, verbesserte seine Spieltechnik und ließ sich die Haare wachsen.

Präliminarien nur; der heilige Ernst des Plattensammelns und Songschreibens, zwei Passionen, die seinen Werdegang eine Weile im Gleichklang bestimmen sollten, ereilte Lyle Lovett erst, nachdem er sich an der A & M University in College Station, unweit von Houston, eingeschrieben hatte. Für das Studienfach Journalismus, aus Interesse, ohne konkretes Berufsziel. Im folgenden Jahr fand eine Schicksalhafte Begegnung statt. Lvle lernte Robert Earl Keen kennen, einen schlaksigen Jungen, der Lyle aufgefallen war, weil er auf dem Weg zu Vorlesungen oft an dessen Haus in Campus-Nähe vorbeigekommen war. Keen saß gewöhnlich auf seiner Veranda und spielte Gitarre. Lyle gesellte sich irgendwann dazu. Eine symbiotische Freundschaft sei daraus erwachsen, sagt Lovett, sie hätten viel voneinander gelernt über die Jahre. Vor allem Songs. Ein paar schrieben sie gemeinsam, darunter einen, der sowohl auf Keens erstem Album „No Kinda Dancer“ als auch zwei Jahre danach auf Lovetts Debüt-LP zu den herausragenden gehören sollte. „The Front Porch Song“ heißt er bei Keen, „This Old Porch“ bei Lovett.

Zwischen den sorglosen Tagen in Keens Haus und Lovetts erster Platte lagen weitere Lehrjahre, intensiv erlebt und dem Künstler heute noch präsent bis ins letzte Detail. Lovett ließ keine Gelegenheit aus, seine Kenntnisse über die Zunft texanischer Songwriter zu vertiefen. Indem er sich ihre Platten besorgte und ihre Songs lernte, indem er sich keinen ihrer Auftritte in Houston entgehen ließ, indem er für die Campus-Zeitung Reviews schrieb, und – immer öfter – indem er sich persönlich mit ihnen bekannt machte. Noch nicht mit den hehren Vorbildern wie Townes Van Zandt oder Guy Clark, deren Songs Lovett verinnerlicht hatte, aber mit Eric Taylor, Blaze Foley oder Vince Bell, mit denen er nächtelang Songs austauschte.

Und mit Nanci Griffith, die Lyle auf Tour durch die Clubs und Cafes der weiteren Umgebung mitnahm und ihn auf zwei ihrer Alben mittun ließ – als Sänger, Songlieferant und Tänzer. Letzteres fotografisch festgehalten auf dem Cover ihrer LP „The Last Of The Time Believers“.

Lovett sammelte Erfahrungen, sein Einzugsbereich als forschender Musikologe und performierender Songwriter weitete sich aus, reichte bald bis Austin. Wo alles konvergierte, was in Texas musikalisch von Bedeutung war, auch und gerade im wuchernden Biotop der Singer-Songwriter. Clark und Van Zandt traten regelmäßig auf, aus Lubbock waren Joe Ely, Butch Hancock, Jimmie Dale Gilmore und Terry Allen in die texanische Kapitale gezogen, die unzähligen Venues boten Auftrittsmöglichkeiten für ein Heer hoffnungsvoller Talente. Zwar war der Goldrush vorbei, die Outlaw-Bewegung um Willie Nelson und Waylon Jennings hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst und die Armadillo World Headquarters, Kristallisationsort für die kreativen Schübe der frühen Siebziger, stand kurz vor der Schließung, doch darüber wusste Lovett bestens Bescheid. Jan Reids 1977 erschienenes Buch „The Improbable Rise Of Redneck Rock“ hatte ihm die nötige Orientierung verschafft, um sich in der jüngeren Musikhistorie Austins zurechtzufinden. Und nicht wenige alte Helden des Aufbruchs wie Jerry Jeff Walker oder Rusty Wier waren ja durchaus noch aktiv und produktiv. „Diesem Buch verdanke ich nicht wenige Einsichten“, so Lyle, „und ich verschenke es immer noch an Freunde, die etwas in Erfahrung bringen wollen über diese bewegte Zeit.“

Bewegt und bewegend. Wer dabei war, wenn Sir Douglas und sein Quintet das überfüllte Armadillo unten am Colorado mit TexMex zum Kochen brachten, oder wenn im Soap Creek Saloon ein paar Meilen außerhalb Alvin Crow und seine Pleasant Valley Boys mit Western Swing für permanente Reparaturbedürftigkeit des Tanzparketts sorgten, und wenn Waylon Jennings im riesigen Rundbau des Municipal Auditorium ein solches Höllenspektakel lostrat, mit fliegenden Hüten tausender delirischer Fans, die so laut mitsangen, dass Waylons Stimme im Chor unterging, und das nicht nur an strategischen Stellen wie „You just can’t live in Texas unless you’ve got a lot of soul“, wer das alles miterlebte, hat Austins Musikszene Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre allerdings als eher zahm empfunden. „Ich weiß“, sagt Lyle. Was soll er sonst auch sagen? Wieder diese Ungnade der späten Geburt.

Punk indes fiel in seine Zeit. Mehr noch: Lyle besuchte 1978 London, im Rahmen eines längeren Europa-Autenthaltes. Anlass war das Studium der deutschen Sprache, das er nach seinem Bachelor-Abschluss in Journalismus aufgenommen hatte, nicht zuletzt im Geiste der Familientradition. Und man kann sich das Entsetzen des wohlerzogenen, in allen Lebenslagen rücksichtsvollen Südstaaten-Gentleman vorstellen, als er die Punks auf Londons Straßen gewärtigte. „Ich konnte es nicht nachvollziehen“, verzieht er in gespielter Entrüstung das Gesicht, „nicht weil ich nicht verstehen könnte, dass Zorn zu Zerstörung führen kann, aber das lief auf Selbstzerstörung hinaus.“ Und die Musik? „No.“

Nicht einmal The Clash? Lyle schüttelt den Kopf. Er wisse freilich um die enge Verbindung seines Freundes Joe Ely mit den Punk-Rockern, kenne auch die gemeinsame LP „Lire Shots“ und höre die sogar ganz gern. Vielleicht

sollte er sich ja von Joe in dieses Mysterium einweihen lassen, sinniert er. Mit Ely toure er in unregelmäßigen Abständen ohnehin, zusammen mit John Hiatt und Guy Clark.

Letzterer war es, der Lovett einen Plattenvertrag verschaffte, indem er das Demo-Tape von diesem Jungen aus Houston, das ihn so nachhaltig beeindruckt hatte, an Tony Brown von MCA weiterleitete. Das war 1984, zwei Jahre danach erschien mit „Lyle Lovett“ ein Album, das für Aufsehen sorgte, zwischen viele Stühle zu rutschen drohte und dann wider Erwarten doch reüssierte. Ostentativ für Nashville produziert, mit den hierfür obligaten Signaturen Fiddle und Steel-Guitar, barg das Werk ein paar Fallen, in die viele Country-Radio-Stationen nicht zu tappen gedachten. Ironie zum Beispiel, eine No-goarea in der Music City USA, wo man lieber den Hut aufhat als auf der Hut sein zu müssen.

Doppelbödiges war verpönt, nicht bei allen Sendern, aber bei den meisten. Hinzu kamen Country-fremde Rhythmen und diese Frisur. Man wusste einfach nicht, woran man mit diesem Texaner war. „These songs are true and timeless“, verbürgte sich Guy Clark in den Linernotes, doch zerstreute das nicht die Zweifel. „The radio people were always very nice when I showed up in person“, erinnert sich Lyle feixend, „but they stopped playing my songs.“

Meine erste Begegnung mit Lyle Lovett fand in Cannes statt, anlässlich der Musikmesse Midem, im Januar 1987. Ein Foto von Townes Van Zandt war eben an der Wand des Texas-Standes angebracht worden, von Steve Mendell, der die Rechte an Townes‘ LP „Live & Obscure“ hielt und dafür Lizenz-Deals abzuschließen hoffte. Ob ich das Foto haben könnte, fragte ich höflich, wenn es ein paar Tage später nach dem Standabbau nicht mehr gebraucht würde. Mendell musterte mich und beschloss, aus meiner sprudelnden Begeisterung für „seinen“ Künstler ein paar Dollar zu destillieren. 20, um genau zu sein, und zwar sofort. Er würde mir das Porträt dann reservieren. Ich gab ihm das Geld, dachte aber: wie schnöde!

„This ain’t right“, bestätigte mich ein Umstehender, der versicherte, er sei nur zufällig Zeuge des Handels geworden, fände den aber beschämend. Er war schlank, akkurat gekleidet und seine krause, schiefe Haartracht schien einem windzerzausten Vogelnest nicht unähnlich. „I’m Lyle Lovett“, stellte er sich vor, ich stammelte etwas Blödes wie „oh man, I’ve got your album“, peinlich berührt, ihn nicht gleich erkannt zu haben, und er strahlte wie ein Honigkuchenpferd, weil er endlich jemanden gefunden hatte, der um ihn wusste und offenkundig wie er selbst Townes Van Zandt verehrte. Kurzum, wir kamen uns näher, hingen zusammen ab, belustigten uns am wichtigtuerischen Messetreiben, hatten eine gute, obgleich für Lyle nicht unbedingt karrierefördernde Zeit.

In Nashville feilte derweil die MCA-Marketing-Abteilung daran, wie der sperrige Texaner seine Heimat im Herzen der Zielgruppe finden könnte. Zwar lief „Lyle Lovett“ immer besser, dank einiger Singles in den Country-Charts, doch die Skepsis blieb. „Too weird“ sei Lovett, so ein Branchenblatt. „Von einem angehenden Country-Star erwartete man, dass Nashville die erste große Stadt ist, die er betritt“, so Lyle später. Zu urban, zu kompliziert, zu unberechenbar, darin waren sich viele Insider einig. Hinzu kam, dass Lovetts Stimme nicht gerade melismatische Qualitäten besaß, eher angestrengt wirkte, gar ein wenig krächzig. Seine Diktion war verschliffen, sein drawl fast schläfrig.

Und seine Songs schienen in kein Schema zu passen, schuldeten Lightnin‘ Hopkins mehr als Hank Williams, Randy Newman mindestens so viel wie Bob Wills. „She’s no lady, she’s my wife“? Okay, das wurde goutiert. Doch über manchem Song aus Lovetts Feder schien ein dunkler Schleier zu hängen. Der Verdacht, dem arglosen Hörer könnte Dubioses untergejubelt werden, hielt sich hartnäckig. Lovett sang über Totschlag und vogelfreie Prediger, dichtete Lästerliches. „Who says hell forgive you“, so der unbarmherzige Bescheid an eine betrügerische Geliebte: „God does but 1 don’t/ God will but I won’t/ That’s the difference between God and me.“

Das Echo in Europa, zuvorderst in England war ungleich positiver. Hier wurde Lovett gemeinsam mit Neo-Traditionalisten wie Dwight Yoakam und Randy Travis ins Rennen geschickt, teilte sich das Publikum mit Steve Earle und tourte mit Nanci Griffith, unter dem griffigen, freilich nur ungefähr zutreffenden Banner „Class of ’86“. Hier galt der Einsatz von Bongos, Celli und Bläsern nicht als Stilbruch, hier genoss man die subtilen, in Songtexten versteckten Pointen. Lovetts humorigbeiläufiges Bühnengeplauder, obwohl nicht halb so frontal auf Lacher aus wie etwa das Kinky Friedmans, entwickelte sich in dieser Zeit zu einem integrativen Programmpunkt der Show, eine die Perfektion der Musikdarbietung komplementierende Auflockerung. Am Conferencier Lyle Lovett, nur so ist die Heiterkeit des Publikums zu deuten, ist ein Standup-Comedian verloren gegangen. Allenfalls Sprachbarrieren sorgen bisweilen noch für differente Reaktionen. Nach dem Auftritt in der Passionskirche wird backstage noch lange darüber räsoniert, weshalb das Stuttgarter Publikum sein Gelächter so völlig anders dosiert habe als dieses in Berlin. Ein andersartiger Sinn für Humor oder Kommunikationsprobleme? „Vermutlich liegt es an mir“, offeriert Lyle, „man kann Geschichten ja gut oder schlecht erzählen.“

Lovetts zweites Album „Pontiac“ erwies sich für sein Label als wenig hilfreich beim Bemühen um mehr mediale Akzeptanz in Nashville. Die Songs waren noch surrealer, die Instrumentation noch weniger Countrykompatibel, und überdies blieben die Hits aus. „It was pretty much a lost cause“, schmunzelt Lyle. Tony Brown muss es ähnlich gesehen haben, denn er ließ seinen Schützling ziehen und vermittelte ihn nach Kalifornien. Fortan war das Curb/ MCA-Büro in Los Angeles zuständig für Lovetts Geschicke, seine Spielräume wurden größer. Und er nutzte sie in mannigfacher Hinsicht, nicht zuletzt für die Formation seiner Large Band.

Ein vielköpfiger orchestraler Klangkörper, der ganz neue Optionen bot. Lovetts dritte LP, auf deren Cover er im Frack zu sehen ist, macht in Lounge und Swing, ohne jene Schärfe und Lakonie vermissen zu lassen, die seine früheren Werke auszeichnete. „Lyle Lovett And His Large Band“ wurde ein nicht nur für den Künstler überraschender Erfolg, der Einladungen in die Shows von Johnny Carson und David Letterman nach sich zog. Sowie Grammys und ausverkaufte Tourneen in nicht eben kleinen Hallen, bis heute. Die Auftritte mit seiner Large Band seien ein riesiger Spaß, aber auch ein teures Vergnügen, so Lovett. Rund 35 Personen seien dabei, die Road-Crew inbegriffen, und verdienen ließe sich nur an jedem sechsten Tag einer Tour. Die Einnahmen der ersten fünf Gigs reichten jeweils gerade zur Deckung der Unkosten. Was aber bitte nicht als Klage misszuverstehen sei, fügt er ernst hinzu. Überhaupt finde das nur Erwähnung, damit deutlich werde, warum er seine Large Band leider nicht nach Europa mitbringen könne.

Produziert wurden alle Lovett-Alben von Billy Williams, einem mittlerweile 70-jährigen Veteranen des Mischpults. Es habe nie einen Grund gegeben, nicht auf den alten Freund zurückzugreifen, wenn Aufnahmen anstanden, meint Lyle. Das habe weniger mit Loyalität oder Kompetenz zu tun als mit dem entspannenden Gefühl, im Studio eine Person hinter sich zu wissen, der man unbedingt vertrauen kann. Am Klanggefüge seiner Platten sei immanent auch nichts auszusetzen, und dafür, dass Tony Brown einer der ersten war, der sein Studio seinerzeit fortschrittsgläubig in ein digitales umwandelte, trage wohl der Zeitgeist Verantwortung. „Brown war nicht der einzige Verfechter digitaler Neuerung in Nashville, aber einer der eifrigsten“, so Lovett, „ich hatte keine Wahl. Das erste Album hatten wir zwar analog aufgenommen, in Scottsdale, Arizona, aber dann wurde es in Nashville digitalisiert, für Overdubs und zum Abmischen. Spätere Platten entstanden vollständig digital, wobei nicht vergessen werden darf, dass diese anfänglich groben Gerätschaften stetig verfeinert wurden und inzwischen recht ausgereift scheinen. Natürlich ist mir bewusst, dass analoge Aufnahmen natürlicher klingen, echter auch, aber letztlich zählen für mich die Songs. Und ein guter Song bleibt immer ein guter Song, egal wie er aufgenommen wird.“

Im Juni 1993 heiratete Lyle Julia Roberts. Er hatte sich am Set von „The Player“ in sie verguckt, einem von vier Filmen von Robert Altman, in denen er eine tragende Rolle spielt. Für gewöhnlich eine sinistre, weil der Regisseur hinter der Gutmütigkeit von Lyles Gesichtszügen eine dunklere Seite vermutete, der es nach Ausdruck verlangte. Altman hatte ihn nach einem Konzert gefragt, ob er nicht Lust habe, in seinem neuen Film mitzuspielen, Lovett musste nicht lange überlegen. Für ihn sei die Schauspielerei eine seltene Abwechslung und zudem eine willkommene Chance, etwas zu lernen. Und von Robert Altman habe er eine Menge gelernt. Vor allem in Bezug auf die Bereitschaft zuzuhören, auf die Beachtung kleinster Details und den Wert von gut organisiertem Teamwork. Die Ehe mit dem Filmstar hielt keine zwei Jahre, eine Zeit, in der Lovett primär Objekt der Neugier von Klatschreportern war, ein Clown wider Willen im Circus der Celebrities. Seither redet er über diese kurze, längst verdrängte Phase seines Lebens nicht mehr. Wie heißt es so schön in einem seiner weisesten Songs: „I went to high school/ I was not populär/ Now I am older/ And it don’t matter.“

Das Filmen hat Lovett deswegen jedoch nicht an den Nagel gehängt, obwohl ihm nach dem Tod Robert Altmans danach zumute war. Für „Three Days Of Rain“ vc-> Michael Meredith begab er sich wieder vor die Kamera und übernahm auch eine Rolle in dessen letztem Streifen „The Open Road“.

An Auslastung fehle es ihm also nicht, untertreibt Lyle, und dabei wurde noch gar nicht auf seine Tätigkeit als Rancher eingegangen. Er züchtet Pferde, nicht als Hobby, sondern mit derselben Hingabe, mit der er seinen anderen Leidenschaften frönt. Die aktive und repräsentierende Mitgliedschaft in der American Quarter Horse Association erfordert Zeitopfer, doch erbringt Lovett die gern. Das Reiten liegt ihm ohnehin im Blut. Noch bevor er in die Schule kam, spürte er das Glück auf dem Rücken von Ponys. Manchmal sei es ihm nicht ganz geheuer, wieviel Gutes ihm widerfahren sei in seinen 51 Lebensjahren, lächelt Lyle. In einem solchen Moment muss er wohl diese komischen Zeilen verfasst haben: „I’ve had an excellent time so far/ There’s only one thing that I fear/ Fve been up so long on this lucky star/ It could be all downhill from here.“

Auf seiner Farm in Klein, Texas, sei indes noch alles im Lot, beinahe wie vor einem halben Jahrhundert. Lyle und April bewohnen das wieder in Besitz gebrachte Haus der Großeltern, Mutter Berneil Lovett, geborene Klein, lebt nebenan, eir Onkel, Calvin Klein, auf der anderen Seite der Weide. Das Land ist nun wieder in Familienbesitz, nachdem sich eine Investorengruppe damit verspekuliert hatte. Lyle kaufte es zurück, mit „all dem Geld, das ich im Music Business verdient hatte“. Er bezahlte mehr als es wert war, weil er sich nicht auf lange Verhandlungen einlassen wollte Der Verhandlungsspielraum war ohnehin jäh geschrumpft, als die neuen Eigner merkten, wie viel dem Kaufinteressenten dieses Land bedeutete. Lyles Dad, William Lovett, der aus East-Texas stammte und vor zehn Jahren starb, hatte die Transaktion noch erlebt, das allein zählte für den Sohn. Nun gehörte Lyle das Grundstück, auf dem das vom Abriss bedrohte Wohnhaus der Großeltern gestanden hatte, dasselbe, das er um 200 Meter versetzen ließ. Eine Real-Estate-Odyssee mit Hindernissen und Happy End.

Ein fatales Ende hätte vor sieben Jahren fast ein Vorfall genommen, an den eine Plakette in Lovetts Küche gemahnt, mit der Aufschrift „Beware of Bull“. Lyle war mit seinem Onkel Calvin auf einer Wiese unterwegs, um einen Graben zu inspizieren, als sich ihnen langsam ein junger Bulle näherte. Lyle kannte ihn gut, war mit seinem Temperament vertraut, seit er ihm als Kalb, keine zwei Tage alt, nach Hause gefolgt war. Da sich in der Herde keine Kuh des Kleinen annehmen wollte, zog Lyle ihn mit der Flasche auf. Seit der Bulle zwei Jahre alt war, ging ihm Lyle allerdings immer öfter aus dem Weg, wohl um die Gefährlichkeit wissend, die von einem so kräftigen Tier selbst dann ausgeht, wenn es nicht aggressiv ist.

Nun standen die beiden Männer an einem Zaun, der Bulle trabte gemächlich in ihre Richtung und blieb schnaubend stehen. Klein, der es als erfahrener Rancher eigentlich hätte besser wissen müssen, machte unachtsam eine plötzliche Handbewegung, die den Bullen verscheuchen sollte, und wurde im nächsten Augenblick durch die Luft geschleudert.

Als Lyle versuchte, den Bullen abzulenken, indem er ihm laut schreiend seine Kappe auf den Schädel schlug, ging der auf ihn los und drückte ihn mit Wucht gegen den Zaun. An 16 Stellen, so wurde im Hospital festgestellt, war Lyles Wadenbein gebrochen. Mit Nägeln und Schienen musste der komplizierte Trümmerbruch behoben werden, und es dauerte Wochen, bis sich Lyle wieder fortbewegen konnte, Monate, bis er wieder der Alte war. Der Bulle steht noch immer auf der Weide hinterm Haus, doch macht Lyle einen großen Bogen um ihn.

Hätte es den „Unfall aus Leichtsinn“, so der Geschädigte, nicht gegeben, könnte man annehmen, sein Leben sei geradezu idyllisch. „You bet“, nickt Lyle Lovett, „wir haben nicht den geringsten Grund, unzufrieden zu sein. Ich bin in der beneidenswerten Lage, mich tagein, tagaus mit Dingen beschäftigen zu können, die ich für sinnvoll erachte. Veränderungen tun hin und wieder not, sind auf Dauer unumgänglich, trotzdem ist es uns gelungen, zumindest einige der unliebsameren fernzuhalten.“ Da sind sie wieder, die Mundwinkel bis zu den Ohren, die bübisch errötenden Wangen, die blitzenden Augen.

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