Macs wilde Töchter

Vor einem Jahr waren die drei jungen Frauen aus Los Angeles der Flüstertipp der Wissenden. Heute stehen Haim vor dem grossen Durchbruch – smart, klug und ein bisschen vulgär. die popband der stunde

Als Este Haim ihr Kleid über den Kopf zieht, es nach hinten in den Bühnenraum schleudert, sich den Bass wieder umhängt, um in BH und Unterhose weiterzuspielen, da scheint das Publikum in dem völlig überfüllten Club sekundenlang die Luft anzuhalten. Puh. Wow. Ein paar Minuten zuvor hatte die junge Frau mit dem schweißnassen Haar ins Publikum gebrüllt, ob ihr jemand „suck my pussy“ ins Deutsche übersetzen könne. Konnte natürlich einer.

Este, die wie eine mopsfidel-bärbeißige Hardrock-Bassistin auf der Bühne ackert – in Gestik und Pausbäckigkeit ein bisschen an Jackie Foxx von den Runaways erinnernd – ist doch sehr anders als das Bild, das man aus der Ferne von der reizenden kalifornischen Mädchenband gewinnen konnte, die seit ungefähr einem Jahr als Pophoffnung durch soziale Netzwerke und Blogs gereicht und schließlich mit Höchstplatzierungen in den Hotlists von „NME“, „ME“, „Spiegel“ und BBC belohnt wurde. Eine reizende kalifornische Mädchenband, die knapp geschnittene Shorts und feenhaften Hippieblusen trägt wie Fleetwood Mac Mitte der Siebziger, die ungemein rhythmische Radiosongs schreibt wie eigentlich niemand mehr seit Fleetwood Mac damit aufhörten, die zugleich hip und aus der Zeit gefallen wirkt, lässig und ambitioniert, die mit dem Thema Sex spielt, miteinander verbandelt ist – aber keinen Sex miteinander hat, was sie wiederum von Fleetwood Mac unterscheidet.

Haim treffen einen Nerv.

Die neuen Fleetwood Mac? Vielleicht eher: Fleetwood Macs wilde Töchter. Denn Männer gibt es keine in der Band, außer dem Tourschlagzeuger Dash Hutton, aber der arme Kerl hat nichts zu sagen. Und natürlich gibt es hinter dem Offensichtlichen noch einiges mehr bei Haim zu entdecken. Die drei Schwestern aus dem kalifornischen San Fernando Valley können auch anders.

„Ich fand mich eher zahm und artig“, sagt Este nach ihrem Auftritt in Berlin. Und die After-Show habe sie auch bloß auf eine kleine „Pizza-Party mit unseren neuen Berliner Freunden“ beschränkt. „Trotzdem haben wir tags darauf fast den Zug nach Köln verpasst“, ergänzt Danielle, Gitarristin, Hauptsängerin und Mittelpunkt der Band, nicht ohne ein gewisses Maß an Strenge. Sie ist es auch, die ihre ältere Schwester ab und zu ausbremst, wenn sie zu sexplizit wird und ihre Handynummer an Jungs im Publikum verteilt oder fragt, ob ihr Tamponfaden raushängt. Alana, die jüngste, sagt nicht so viel. Aber trommelt sehr eindrucksvoll. Und manchmal auch mit den anderen beiden um die Wette.

Fünf Jahre lang haben die drei großartigen Schwestern an ihrem Sound und ihrem Bild gearbeitet. Alle drei sind heute Anfang 20, mit bis zum Bauchnabel reichenden blondbraunen Haaren und langen, selbstbewussten Gesichtern, von den Eltern seit frühen Kindertagen an Instrumenten und auf der Bühne geschult, ehrgeizig und leichtfüßig zugleich, selbstbewusst, optimistisch, von der Sonne verwöhnt. Die coolsten Schwestern seit den Roches, falls sich jemand an das ebenfalls langhaarige, in smarten Hippie-Chic gekleidete und des Tanzens mächtige Folk-Trio erinnert (dessen atemraubendes Debüt liegt schließlich auch schon 35 Jahre zurück). „Mit denen wurden wir noch nie verglichen“, sagt Danielle. „Aber wir kennen und schätzen sie.“

Natürlich. Schließlich haben die drei Haim-Schwestern nicht umsonst ihre Schulferien damit verbracht, die musizierenden Eltern bei Auftritten auf Jahrmärkten im Valley zu begleiten – Papa Moti am Schlagzeug, Mama Donna am Gesangsmikro, die Mädchen mit Gitarren, Keyboards und Backgroundvocals, zwei Dutzend Coverversionen alter Mainstream-Hits im Gepäck. Zu Hause nahmen sie Songs aus dem Radio auf und spielten sie nach, später studierte Este Musik an der UCLA, während Danielle in den Tourbands von Julian Casablancas und Jenny Lewis anheuerte. Sie sind nicht nur verdammt gute Musikerinnen, sie haben auch ein breites Wissen darüber, sie kennen nicht nur die Macs, sie kennen auch die Roches.

Trotzdem reichte ihr Ruhm kaum über die kleinen Bühnen im Raum L. A. hinaus. Bis Ludwig Göransson, ein schwedischer Soundtrack-Tüftler und bereits der dritte von den Schwestern angeheuerte Produzent (einer der zuvor durchgefallenen war übrigens Mike Chapman), endlich den Sound trifft, auf den Haim hinauswollen. „Forever“ ist perfekt, ein Song, der sofort nach Hit klingt, den sie ins Netz stellen und der sich wellenförmig in der Welt ausbreitet, die nur darauf gewartet hat. Und so flüstert es einer dem anderen und am Ende steht eine Erwartung, groß wie ein Ausrufezeichen und die Rede von den neuen Fleetwood Mac. („Viele Leute finden sie bescheuert, aber wir lieben die Band, vor allem ihre späteren Sachen, die sind noch cheesier.“)

Wenn man die Mac-Songs der goldenen Nicks/Buckingham-Ära auf ihren Rhythmus reduziert und einzelne Tonspuren freilegt, stellt man fest, wie anspruchsvoll, polyphon und funky die Rhythmik der Band zu Zeiten von „Rumours“ war. Die drei Schwestern haben sich diese Rhythmik komplett zu eigen gemacht, ihr vielstimmiger Harmoniegesang tut ein Übriges. Das auf der B-Seite der „Forever“-EP veröffentlichte „Better Off“ erinnert deutlich an „Tusk“, es erinnert aber auch – und nicht nur thematisch – an ein bis auf sein rhythmisches Gerippe ausgezogenes „Go Your Own Way“. Es startet mit den Zeilen „I never wanna see you again/ With the beating of my heart witness/ I say no, no, no, I’m done, I’m done“, dann setzt eine präzise Snaredrum ein und das wütende Klagelied rollt davon in einem jubilierenden Furor aus Drums und Glocken. Auch „Forever“, das erstmals flüchtig gehört wie 80er-Jahre-Poptrash klingt, erweist sich schnell als weitaus vielschichtiger. Da schwingen der Laurel Canyon mit und Cindy Lauper, die Eagles, die Bangles und der slicke, smarte L.A.-R&B unserer Tage. Neo-Westcoast, wissende Mädchenhaftigkeit.

„Wir sind halt mit den Radiosendern in Los Angeles aufgewachsen“, erklärt Este. „Mariah Carey und Prince waren prägende Einflüsse.“

„Als ‚Forever‘ plötzlich überall gelobt und gespielt wurde, war das ein irres Gefühl“, sagt Danielle. „Und natürlich eine totale Überraschung für uns. Auch jetzt in Berlin: Ich hätte nie erwartet, dass so viele Leute zu dem Konzert kommen, dass uns überhaupt schon so viele kennen. Wir haben gerade mal eine EP und eine Single veröffentlicht. Aber alle haben mitgesungen und mitgeklatscht.“

Dazu bietet sich ein Haim-Auftritt aber auch an. Es ist lange her, dass eine junge, sich in der Prä-Album-Phase befindliche Popband so rund und sicher rüberkam, so begeistert und abgezockt zugleich, so satt im Sound und ganz ohne Unsicherheiten. Kein Zweifel: Die hat man die längste Zeit im kleinen Club gesehen, die werden groß. Man kann sie sich gut im Stadion vorstellen.

Am Ende des überhitzten Konzerts im Grünen Salon der Berliner Volksbühne spielen Haim dann tatsächlich Fleetwood Mac, aber keines der naheliegenden Stücke, sondern Peter Greens Bluesrocker „Oh Well“, mit wehenden Haaren und fettem Gitarrensolo. So, als machten sie sich selbst über ihren Hype lustig. So, als stünden sie wieder auf einer Jahrmarktbühne in Kalifornien.

„Wenn wir zusammen spielen, zusammen auf Tour sind, dann ist das die beste Sache der Welt“, sagt Alana. „Auch wenn es schnell mal zu eng wird. Und uns die Gesichtslotion ausgeht.“

Fast täglich posten sie Fotos von ihrer Europa-Tour auf Facebook, auch Konzertreviews, Tagebuchschnipsel und lobende Erwähnungen. Immer von lautem Staunen und „wir können es gar nicht fassen“ begleitet. Und auch von einem ersten, leicht zickigen Backlash: So schreibt der „NME“, dass die „lustigen Amerikanerinnen“ besser seien, wenn sie „nicht alles bei Fleetwood Mac klauen“. Und doch schreiten Haim zielsicher voran. Nun sind sie mit James Ford im Studio, dem Simian-Mobile-Disco-Mann, der schon die Arctic Monkeys und Florence & The Machine produziert hat; das Album soll im Mai veröffentlicht werden. „Nice, organic, but fun“, antwortet die Band ein paar Tage später per E-Mail auf die Nachfrage, wie es klingen wird.

Und schickt eine kleine Liste ihrer Lieblingsplatten mit:

Tom Petty & The Heartbreakers:

„Damn The Torpedos“

Outkast: „Speakerboxxx/The Love Below“

Paul Simon: „Graceland“

Prince: „Controversy“

Kein Fleetwood Mac. Aber das nervt ja nun auch langsam.

Mac Reloaded

Coverversionen von Fleetwood Mac kommen nicht im Dutzend. Sie kommen zu Hunderten. Es gibt ganze Schulen von Fleetwood-Mac-Versionen.

Und es werden immer mehr – seit die Band wieder hip ist. Eine kleine Übersicht unter Hervorhebung besonderer Perlen. Zusammengestellt von Hans Nieswandt

1 Die früheste und überraschendste: „Black Magic Woman“, von Carlos Santana zwar 1970 bekannt gemacht, geschrieben aber von Peter Green und 1968 als Fleetwood-Mac-Single erschienen.

2 Zahlreichen Alternative-Bands war es sehr wichtig, mindestens einen Fleetwood-Mac-Song zu covern. No FX („Go Your Own Way“), Yo La Tengo („Dreams“), Hole („Gold Dust Woman“), Smashing Pumpkins („Landslide“), Melvins („The Green Manalishi“). Camper Van Beethoven coverten sogar das komplette „Tusk“-Album. Im Sommer 2012 erschien zudem „Just Tell Me That You Want Me“, eines von unzähligen Tribut-Alben, mit Beiträgen von The Kills, Lykke Li, Tame Impala, MGMT u.v.a.

3 Auch unter Soul-Künstlern war das Material beliebt, u.a. interpretierten es Richie Havens („Dreams“), Chaka Khan („Everywhere“), Natalie Cole („Oh Daddy“) und die Pointer Sisters („Hypnotized“).

4 Rocker favorisieren den frühen Bluesrock von Fleetwood Mac: z.B. Judas Priest („The Green Manalishi“), Aerosmith („Rattlesnake Shake“), Tom Petty und Big Country („Oh Well“), Status Quo („Lazy Poker Blues“, aber auch das spätere „Don’t Stop“). Gary Moore hat ganze Alben nur mit Peter-Green-Songs gemacht.

5 Auch im Mainstream waren die meisten dabei, um nur Joe Cocker, Bonnie Tyler, Elton John, Elkie Brooks, Cranberries und die Wilson Phillips zu nennen.

6 Wesentlich interessanter sind die jüngsten Interpretationen aus der elektronischen Ecke. Gerade erschien ein Album des transatlantischen Duos Fanatico, bestehend aus dem New Yorker Sänger Jorge Socarras, ehemals bei der Gruppe Indoor Life, und Mathias Schaffhäuser, Kölner DJ und Elektroniker, mit einer äußerst gelungenen „Dreams“-Adaption. Bereits 2005 erschien „Albatross“ in einer glänzenden Pop-Ambient- Kraut-Version von Justus Köhncke und Fred Heimermann.

7 Am allerinteressantesten jedoch ist der aktuelle Wildwuchs, was sogenannte Edits betrifft. Da es sich bei den Originalversionen meistens um ganz hervorragende Aufnahmen handelt, lassen sich diese mit den modernen Mitteln endlos weiterverwursten, eben zu Edits, die wiederum hauptsächlich von und für DJs gemacht sind. Das Netz wimmelt davon, bekannt geworden sind vor allem der großartige „Dreams“-Edit von Soulclap, bei dem der Song in der Mitte komplett abbricht, weil es so gewittert, sowie z.B. „Everywhere“ eines gewissen Fleetwood Mike, „Keep On Going“ von Cosmo Vitelli und endlos mehr.

8 Dazu kommen unzählige Amateurversionen aller bekannten Hits auf YouTube, ca. 80 allein von „Landslide“.

9 Und natürlich all die Tribute-Bands wie Rumours, Tusk, The Chain oder Fleetwood Bac …

10 Allerdings scheint es trotz intensiver Suche keinen Fleetwood-Mac-Song auf Deutsch zu geben.

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