Michael Rother: Der Pionier im Spielzeugland

Zu Besuch bei Michael Rother: In seinem "Harmonia-Studio" entstanden in den siebziger Jahren Meilensteine deutscher Klangkunst. Nur hat das damals kaum jemand begriffen. Gut, dass sich die Zeiten geändert haben.

Es gab eine Zeit, in der deutsche Musik international führend war – zumindest in der Rückschau. Denn was sich um die beginnenden Siebziger in Deutschland als „Krautrock“ formte, gebar in seinen besten Momenten musikalische Möglichkeiten, von denen die angloamerikanische Konkurrenz nicht einmal träumte. Folglich nennen heutige Bands wie Radiohead, Mogwai oder Sonic Youth diese Ära deutscher Progressivität als einen prägenden Einfluss. Doch wie war das damals? Ein Besuch in einer der Keimzellen jener Zeit – dem „Harmonia-Studio“ des ehemaligen NEU!-Mitglieds Michael Rother – belegt: Vieles verlief deutlich naiver, planloser und simpler als man heute vermuten würde.

Der Ort Forst im Weserbergland, zwischen Bevern und Holzminden sehr pittoresk an einem leise plätschernden Bach gelegen und in eine sanft geschwungene Hangschlucht gebettet, besteht heute aus acht Gebäuden. Die meisten davon sind Restbestände des herrschaftlichen Anwesens, auf dem sich einst das herzoglich-braunschweigische Amt Forst befand, ein malerischer alter Hof von gewaltigen Ausmaßen. Nur ein Teil dieser Gebäude ist erhalten; eines beherbergt einen Trödler, ein anderes einen Kunsthandwerker. Und ganz hinten in der Ecke, dort, wo alle Wege aufhören und nur noch notdürftig befestigte Pfade zu Fuß weiter führen, lebt Michael Rother, mit NEU!, Harmonia und später als Solokünstler ein Protagonist jener deutschen Szene, die man seit damals eher aus Verlegenheit denn Überzeugung Krautrock nennt.

Rother bewohnt diesen zauberhaften, inspirierenden Ort bereits seit den frühen siebziger Jahren, weil er hier günstigen Raum fand, in dem er der Natur nahe sein, gemütlich wohnen und ungestört arbeiten konnte. Denn neben seinem Wohngebäude, das er heute gern von allerlei zugelaufenen Tieren bevölkern lässt, befindet sich das „Harmonia Homestudio“, wo Rother seit 1973 allein oder mit anderen Künstlern arbeitet – an einem Klang, einer Idee, mit der er deutscher Musik für eine Zeitlang internationale Geltung verschuf. Selten genug in der Geschichte des teutonischen Pop.

Betritt man dieses Studio, das aus zwei Räumen einen schier atemberaubenden Ausblick auf die Natur bietet, atmet man gleichsam die geballte Historie der seinerzeit so genannten progressiven deutschen Musik. Der vordere Raum dient als Lager – viele Dutzend Instrumente aus aller Welt, ganze Keyboard- und Synthesizer-Türme, Gitarren, Schlaggeräte und Bildschirme aus den Kindertagen des PCs stapeln sich in Regalen und auf Ständern. Dahinter: der Regie- und Arbeitsraum. Altes mischt sich hier mit Neuem, auf dem Beistelltischchen mit den Gitarreneffekten wartet ein modernes Kaoss-Pad neben analogen Hallschleifen-Antiquitäten aus den Sechzigern. Ein großer Flatscreen steht nur wenige Meter neben dem angestaubten Bildschirm-Kasten, der damals als „Fairlight Computer“ Furore machte und Rother für Monate in einen Studio-Eremiten verwandelte – per Lichtstift formte er damals aus Sinuswellen frühe Elektronikmusik.

In den Regalen lagern Modelle von Bühnenaufbauten und Videoclip-Kulissen, asiatische Talismane und überraschend viele Donald-Duck-Puppen. An der Wand hängen Poster von NEU! und Harmonia, in einer Ecke klebt ein großes Foto des Studios zu Beginn der siebziger Jahre: Man erkennt die Räume wieder, auch einige Geräte, die noch immer hier herumstehen. Die Personen indes erkennt man kaum – Barte bis zum Brustbein, Haare bis unters Schulterblatt, lächelnde Freaks im Spielzeugland neuer klanglicher Möglichkeiten. Jede Ecke steckt voller Erinnerungen und ist doch ganz Hier und Jetzt. So wie Rother, mittlerweile 59, optisch und als Gesprächspartner aber mindestens um zehn Jahre jünger.

Die Begegnung mit SOUNDS ist auch für Rother etwas Besonderes: Vor genau drei Jahrzehnten wurde er in diesem Magazin zweimal hintereinander zum „Musiker des Jahres“ gewählt. Es war die Phase seiner Selbstfindung als Solokünstler, als er den Mut und den Raum fand, seine klanglichen Visionen auch allein umzusetzen. „Das hat mich damals schon sehr gefreut, trotz des riesigen Erfolges meiner Alben ‚Flammende Herzen‘ und ‚Sterntaler‘, die ja erst der Auslöser zu dieser Wahl waren“, sagt Rother, während er eine Gitarre greift und einige Jimi-Hendrix-Akkorde zupft – einer seiner größten musikalischen Einflüsse, wie er sagt. „Das war eine schöne Anerkennung, gerade auch nach der Durststrecke, die Harmonia zuvor erlebt hatte, wo wir zum Teil vor so wenigen Leuten spielen mussten, dass es richtig weh tat. Es war eine sehr wohltuende Phase nach jahrelanger Vernachlässigung durch die Öffentlichkeit.“

Denn dass Deutschland damals erkannt hätte, welch einzigartige Szene es da gerade gebar, ist eine Mär. Vieles von dem, was bis heute die fortschrittlichsten Kräfte der Musik-Moderne beeinflusst, entstand nicht aus einem Füllhorn neuer Möglichkeiten, die sich technisch und kompositorisch aufdrängten, sondern schlicht aus einem Mangel an Geld, Equipment und Anerkennung. Dass oftmals erst die Entbehrung Momente großer Kunst ermöglicht, ist eine romantische Vorstellung. Wie sich das in der Realität anfühlte, davon konnten die damaligen Krautrocker – die im Übrigen alles waren, nur keine homogene Szene – ihr Lied singen: Von den Plattenfirman wurden sie ignoriert, Auftrittsmöglichkeiten gab es kaum, die Szene verfügte bestenfalls über amateurhafte Strukturen, und folglich war Schmalhans Küchenmeister – wenn man nicht gerade Lindenberg hieß. Kaum gute Voraussetzungen für kreative Höhenflüge.

Symptomatisch für diese Situation war, dass der Vertrieb 1976 gerade mal 170 Exemplare des Harmonia-Albums „De Luxe“ orderte. Wohlgemerkt: Zur Veröffentlichung und für ganz Deutschland. Dass der Knoten im Falle Rother dann doch noch platzte, liegt an Winfried Trenkler vom WDR. Er hatte ein Herz für die neuen Klänge und gab ihnen in seiner Sendung eine Chance. „Und plötzlich platzte der Ballon“, erzählt Rother. Damals wie heute hingen Wohl und Wehe eines Albums, eines Projektes, einer ganzen Band davon ab, ob man da draußen irgendwie Aufmerksamkeit generieren konnte. Für Krautrokker fast unmöglich. Medienpräsenz war in ihrem Fall pure Glücksache, Marketing-Hilfe kaum je vorhanden. Da hätten auch drei Brian Enos nichts genutzt (der 1976 mit Harmonia zusammenarbeitete und sie anschließend „die wichtigste Rockgruppe der Welt“ nannte).

Viele Wege führen zum Kraut

Rothers öffentliche Anerkennung folgte erst mit dem Solo-Debüt „Flammende Herzen“ – einer Mischung aus konkreter harmonischer Struktur, dem einzigartigen Schlagzeugspiel von Can-Drummer Jaki Liebezeit und dem Mut, die Möglichkeiten neuer Klänge auszutesten. All das passte in den Zeitgeist. „Ich bin damals fast immer nur mit einigen Ideen ins Studio gegangen und habe sie den anderen vorgespielt. Jaki hat zugehört und an den richtigen Stellen die wichtigen Akzente gesetzt. Und so ergab sich ganz natürlich ein Spannungsbogen, den man vorsätzlich wohl nur schwer erreicht hätte.“

Die flammenden Herzen stießen auf Interesse, wurden im Radio gespielt und verkauften, erstmals in Rothers Karriere, ordentliche Stückzahlen. Glück schien dabei eine gehörige Rolle zu spielen, oder wie Rother meint: „Es war der passende Sound zur rechten Zeit.“ Vom Mainstream war all das nach wie vor weit entfernt, immerhin aber reichte es zum „Musiker des Jahres“ beim progressiven Leitmedium SOUNDS.

Dabei war Rothers Musik weder absichtlich noch faktisch futuristisch angelegt, sie war schlicht das Ergebnis phantasievoller Auseinandersetzung mit dem Althergebrachten. „Viele Hörer hielten unsere Klänge damals für eine Frühform von Synthesizer-Musik. Dabei war beispielsweise auf ‚Flammende Herzen‘ kein einziger synthetischer Ton, stattdessen waren ausschließlich Gitarren zu hören. Nur erlaubten wir uns eben, mit diesen Gitarren ungewöhnliche Dinge anzustellen.“

Nicht, dass Rother das Publikum dabei völlig egal gewesen wäre, aber Erwartungshaltungen unterlief man in jener Zeit lustvoll und rücksichtslos. Das Moment der Überraschung, Verwirrung, auch Überwältigung durch neue Klänge und Bezüge half, in neue Bereiche vorzustoßen. Und darum ging es.

Welche Rolle spielten denn der Hörer und seine Erwartungshaltung für euch?

Rother: „Es wäre etwas zu hart zu sagen, dass uns der Hörer damals nicht interessiert hätte. Aber wahr ist – und das gilt bis heute: Wenn man die Musik nicht in erster Linie für sich selbst macht, wenn man es nicht selber liebt und genau so will, dann kann es nicht gelingen. Man hat also zu jeder Zeit nur etwas entwickelt nach dem momentanen Geschmack und der Vision eines Sounds, die man hat. Man ist ja selber auch ein Filter, indem man all diese Informationen, die man aufschnappt, filtert und verarbeitet. Man greift Geschehnisse auf, die um einen herum passieren, und formt sie dann um. Eine Erwartungshaltung von außen habe ich also nie gespürt. Anfangs wussten wir ja noch nicht einmal, ob das, was wir da tun, überhaupt da draußen irgendjemanden interessiert.“

Wie fandet ihr damals zum Wesen und Kern eurer Arbeit?

„Über das Machen. Wir haben nie theoretisiert oder große abstrakte Diskurse geführt. Wir haben uns nie hingesetzt und angefangen, über Musik zu diskutieren. Wir haben lieber gemacht – und dann geschaut, was dabei herauskommt und inwieweit das etwas mit unserer Vision zu tun hat.“

Die drei zentralen Elemente eurer Klang reisen waren also die Vision, die Erfahrung und die Intuition?

„Natürlich. Ich hatte, ähnlich wie Klaus Dinger, beim ersten NEU!-Album die Vision eines sehr nach vorne gerichteten Geradeaus-Laufes, ein Fliegen zum Horizont. Ich habe die Musik, die wir machten, dabei immer sehr stark visuell erlebt.“

Erzähle einmal von einer solchen Vision!

„Das zweite NEU!-Album zum Beispiel illustriert für mich eine fortwährende Wellenbewegung, bei der sich die bis zu 130 Instrumente, die wir dort aufeinander türmten, wie eine Welle aufschichteten – und am Ende rollt diese riesige Welle auf einen zu und bricht an einem schönen Südsee-Strand. Das war mein Bild für das gesamte Album, wobei ein solches Bild die Musik noch nicht vorgibt; man könnte tausend verschiedene Musiken mit ein und demselben Bild machen. Und wenn du dann mit anderen gemeinsam an diesen Bildern gearbeitet hast, stießen gleich mehrere Visionen ein und desselben Bildes aufeinander. Hätte man eine davon weggenommen, wäre zwangsläufig eine ganz andere Musik entstanden.“

Vater der Ambient Music

Eine schlüssige These. Und eine, die von der Musik jener Ära bestätigt wird. Denn bis auf den Umstand, dass ihre Alben jeweils aus etwa derselben Zeitspanne stammen, haben Gruppen wie Can, Amon Düül II, Kraftwerk, La Düsseldorf, Kraan, Tangerine Dream, Cluster (wo Rothers spätere Mitstreiter Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius bereits mit Ex-Tangerine-Dream Conrad Schnitzler gespielt hatten) oder eben die beiden Rother-Projekte NEU! und Harmonia nicht viel miteinander zu tun. Selbst der Umstand, dass Rother und Dinger anfangs kurzzeitig Mitglieder von Kraftwerk waren, ist allenfalls Indiz für einen gemeinsamen Startpunkt. Man habe damals durchaus interessiert beobachtet, was die anderen Bands so machen – einen tatsächlichen Einfluss auf das eigene Tun habe das laut Rother aber nicht wirklich gehabt.

Die Herangehensweise, die Entdeckung neuer Möglichkeiten, das Erforschen von Filtern, Hallschleifen, Stimmungen und Transzendenzen, all das verlief entsprechend unterschiedlich. Jeder verfolgte seine ureigene Vision, so auch Rother. Mal bemühte er sich um Musik, die bei aller Abstraktion noch immer die Referenz an die großen Rock’n’Roller der sechziger Jahre erkennen ließ, dann wieder schuf er schimmernde Synthesizer-Flächen, die ihm den schönen Titel „Vater der Ambient Music“ einbrachten.

„Das ist natürlich viel zu viel der Ehre“, wiegelt der Klangforscher ab. „Fakt ist jedoch, dass ich mit einer spielerischen Neugier den aufkeimenden Möglichkeiten begegnet bin. Ich wollte all das kennenlernen, was an technischen Neuerungen einen Gewinn versprach. Das führte so weit, dass ich meine Gitarre manchmal über Jahre nicht mehr zur Hand nahm und nur noch vor Bildschirmen saß. Doch dann überfiel mich wieder die Lust auf Rockmusik, und ich spielte mit einem Chuck-Berry-Riff herum. In diesen Spannungsfeldern habe ich mich immer hin und her bewegt. Geleitet wurde ich dabei Studios zu Beginn der siebziger Jahre: Man erkennt die Räume Dabei war Rothers Musik vor allem vom eigenen Lustzentrum, von eigenen Vorstellungen und dem vordergründigsten aller Wünsche: etwas zu entdecken, das neu, unkonventionell und trotzdem spannend und sinnstiftend war.“

Düsentrieb im Soundlabor

Zweieinhalb Stunden erzählt Rother, spannt große Bögen, doziert, grübelt, erinnert sich und taucht mit spürbarer Lust in die eigene Vergangenheit. Zu jeder Phase dieser langen Karriere gibt es Geschichten von überschäumender Kreativität, bitteren Rückschlägen und fortwährenden Neuanfängen. Rother berichtet von der viel zu früh verstorbenen Produzenten-Koryphäe Conny Plank – „ein Mensch mit echter Vision und einem irrsinnig feinen Gespür für das, was der Künstler erreichen will“; er beschreibt intensive Momente bei der Studioarbeit, als Harmonia 1976 in Forst gemeinsam mit Brian Eno an musikalischen Ideen tüftelten. Und er gewährt Einblicke in die Frühphase der Synthesizer, als die Arbeit mit diesem Gerät noch umständlieh und kompliziert war. Auch macht er keinen Hehl daraus, dass die Beziehung zu seinem ehemaligen NEU!-Partner Klaus Dinger von Höhen und Tiefen geprägt war: „So besonders die Ergebnisse waren, wenn es bei uns harmonierte, so unmöglich war die Zusammenarbeit, wenn wir verschiedene Dinge wollten.“ Klaus Dinger verstarb im März 2008 kurz vor seinem 62. Geburtstag.

Noch heute strahlt Rothers Soundlabor mit seiner ländlichen Abgeschiedenheit, seinem düsentriebigen Sammelsurium von Klangmaschinen und seinem unaufgeräumten Hippiecharme eine unbekümmerte Freude an der eigenen Kreativität aus. Wer hier Musik macht, dem ist der Kommerzbetrieb da draußen egal. Hier herrschen Naivität, Neugier, Inspiration und Abenteuergeist. Eine versunkene Welt. Aber keine vergessene: Erst im letzten Jahr bat John Frusciante, Gitarrist der Red Hot Chili Peppers und erklärter Rother-Fan, seinen Helden beim Hamburg-Konzert zum wiederholten Mal zwecks Jamsession auf die Bühne. Die amerikanischen Indie-Artrocker The Secret Machines holten Rother ebenfalls ins Spotlight. Und vor zwei Jahren stieß die Reunion-Tour von Harmonia auf weltweites Interesse, auch bei einem jungen Publikum.

Dass die aktuelle Wiederveröffentlichung des Harmonia & Eno-Albums „Tracks And Traces“ (als Extended Version auf Grönland) auch in der britischen Presse Staub aufwirbelte, erstaunt da kaum noch. Späte Anerkennung. Immerhin.

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