Nach der Kapitulation: endlich angekommen?

Gebellte Parodie: Tocotronic stellen ihr Album "Wie wir leben wollen" im Berliner Lido vor.

Das größte Klischee der Popmusik: sich in keine Schublade stecken lassen – Tocotronic verkörpern es wie keine zweite Band. Und diesem Prinzip bleiben sie auch auf ihrem zehnten Album „Wie wir leben wollen“ treu, über das derzeit alle reden, oder sagen wir zumindest: alle Mitarbeiter deutscher Feuilletons und Musikzeitschriften. Umso härter scheint es Dirk von Lowtzow zu treffen, wenn die allgemeine Lobhudelei mal durch ein kritisches Wort torpediert wird. „Wir wurden kürzlich von einem großen Nachrichtenmagazin als Staatsmusiker verunglimpft“, sagt er beim Eröffnungskonzert ihrer Tour zur neuen Platte im Berliner Lido. Die Antwort ist ein wütendes „Aber hier leben, nein danke“. Nicht wenige im Publikum stimmen im Refrain inbrünstig mit ein. Man spürt gleich, dass es hier auch um die Musik einer Generation geht, darum, wie man mit Indie-Rock in Würde altert. Also unterm Strich das Hauptthema von „Wie wir leben wollen“.

So bemüht sich von Lowtzow besonders, den ruhigeren, beinahe gediegenen Stücken wie „Vulgäre Verse“, das merkwürdig an Element Of Crime erinnert, einen Rest Aggressivität abzuringen, in dem er die Texte bellt, meckert oder in seinem parodistischen Kunstgesang verzerrt, den er mit „Pure Vernunft darf niemals siegen“ etabliert hat. Mancher Anwesende wittert in den Texten schnell das „Indie-Altersheim“ oder den „Inbegriff linken Spießertums“. Und zugegeben: Live nervt der nie abreißende Reimschwall der neuen Single „Auf dem Pfad der Dämmerung“ oder der Parolen-Masochismus von „Sag alles ab“. Andererseits könnte man auch sagen: Tocotronic Manierismus vorzuwerfen ist ungefähr so sinnvoll, wie BAP dafür anzuklagen, dass sie kölsch singen.

Optisch haben sich Tocotronic von Thomas-Bernhard-zitierenden Trainingsjacken-Punks zu Studenten  entwickelt, wie man sie an Samstagen in Ikea-Kantinen trifft: Jan Müller der coole Schönling am Bass, Rick McPhail der introvertierte Nerd, der über Gitarre und Keyboard brütet. Arne Zank rattert und knüppelt am Schlagzeug noch immer, als ob er in der besten Schüler-Band der Welt spielen würde. Und über allem schwebt von Lowtzow, der Anti-Agitator als Rocksänger. Im Hintergrund flimmern Bilder und Videoinstallationen über eine kleine Leinwand.

Doch am Tollsten bleibt der Sound des Quartetts, das verstolperte Grunge-Rauschen in „Drüben auf dem Hügel“ oder das endlose Mäandern in „Freiburg“. Schade nur, dass sich Tocotronic schon nach der Veröffentlichung von „Schall & Wahn“ als Klangfetischisten geoutet haben, die in Interviews seitenweise über Aufnahmetechniken dozieren. Das verleidet ein wenig das Sonic-Youth-hafte Gedröhn.

Am Ende, nach der „Kapitulation“, verzieht von Lowtzow sein Gesicht zu einem strahlendweißen Lächeln und reckt die Arme in die Höhe. Der Mann, der das ständige Unwohlsein, das Nicht-reinpassen-wollen-in-die-Normalität-der-anderen zur Kunstform erhoben hat, scheint endlich angekommen.

Dies Glück sei ihm gegönnt, es wird nicht lange währen.

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