Neu!: Die Vinylbox. Besprochen, und von Michael Rother erklärt.

Vier Schallplatten, eine Maxi-Single und eine Schablone. Das ist drin in der heute erscheinenden Neu! Vinylbox. Hier die Kritik von Jürgen Ziemer und das Videointerview mit Michael Rother.

Michael Rother und Klaus Dinger waren ihrer Zeit so weit voraus, dass Neu! noch heute als innovative Debütanten durchgehen würden. Ihre drei Alben, die alle in der ersten Hälfte der Siebziger-Jahre erschienen, hatten weder den unterkühlten Vorsprung-durch-Technik-Appeal von Kraftwerk, noch verfügten sie über den durchtrainierten Psycho-Funk von Can. Neu! kultivierten eher den Charme des Unperfekten – die zweite Seite ihres zweiten Albums besteht fast komplett aus „Variationen“ (heute würde man Remixes sagen) der Single „Neuschnee/Super“. Doch genau dieses Spiel mit ihrem immer etwas fragmentarisch wirkenden Material, das von Dingers manischem Trademark-Beat und Rothers fluffigen Ambient-Gitarren-Sounds perfekt zusammengehalten wurde, lässt das Duo heute so frisch und postmodern klingen.

Die „Vinyl-Box“ ist eine edle Holzschatulle, in der vier Alben, eine Maxi, ein 36-seitiges Booklet und eine Schablone für den Neu!-Schriftzug enthalten sind. So etwas wird nur echten Klassikern zuteil. „Neu! ’86“ musste fast ein Vierteljahrhundert auf die erste offizielle Veröffentlichung warten, weil die zerstrittenen Musiker jahrzehntelang nur in Notfällen miteinander sprachen. Dieses „lost album“ ist sicherlich eines der Hauptargumente für den Kauf. Dabei waren die beiden Streithähne, die hier erstmals ohne den ausgleichenden Conny Plank arbeiteten, schon 1986 mit der Musik nicht zufrieden. Sie beschlossen deshalb, die Bänder untereinander aufzuteilen und – weil das gegenseitige Misstrauen so groß war – auch noch zu versiegeln. Mitte der Neunziger verkaufte der unter Geldmangel leidende Dinger dann ohne Rothers Wissen die Tracks an das japanische Label Captain Trip, wo das Material als „Neu! 4“ erschien.

Leider klingt auch das von Rother nun noch einmal überarbeitete Material wie ein halbherziges Pendeln zwischen den eigenen Wurzeln und einem offensichtlichen Zugeständnis an den Sound und die Attitüde der 80er-Jahre: „La Bomba (Stop Apartheid World-Wide!)“ klingt sogar ziemlich peinlich in seiner zappeligen Vostellung von „Weltmusik“. „Elanoizan“ dagegen erinnert an die atmosphärischen „Disintegration Loops“ des New Yorker Ambient-Avantgardisten William Basinski. „Wave Mother“ schlägt eine Brücke zwischen Rothers Solowerk („Flammende Herzen“) und Motorik-Klassikern wie „Hallogallo“. „Ich würde es aus archivarischen Gründen herrausbringen“, hat Rother 2004 gesagt. Und genau das hat er jetzt getan.

Die ersten drei Alben jedoch sind unverzichtbar. Wie über den hypermotorischen Beats eine Wolke aus beruhigenden, sich stetig wandelnden Klängen schwebt, das muss etwas mit Zen zu tun haben. (Grönland/Cargo)

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Jürgen Ziemer

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