Ohne Stefan Raab hätte ich mich umgebracht

Es ist schwer, anders zu sein als Kind in der Fränkischen Schweiz. Während mich die Dorfnazis durch die Straßen jagten, blieb mir eine Zuflucht: Stefan Raabs Humor. Jetzt muss ich alleine klarkommen. Von Frédéric Schwilden

Der Grund dafür, dass ich noch am Leben bin, ist Stefan Raab. Ihm habe ich zu verdanken, dass es mich noch gibt. Ohne ihn hätte ich mich umgebracht. Meine Kindheit war natürlich besser als eine Kindheit in Nordkorea oder eine Kindheit während der Belagerung Leningrads in Leningrad. Aber Ende der Neunzigerjahre von Bonn in die Fränkische Schweiz zu ziehen, auf diese Idee können nur Eltern kommen, die ihren Kindern großen seelischen Schaden zufügen wollen.

Mehr zum Thema
Ohne Stefan Raab hätte ich mich umgebracht

Ich wurde Preuße genannt. Ich verstand diese Menschen, die Hasen wie Hosen aussprachen, einfach nicht. In Bonn konnte ich als Grundschüler selbstständig ein Kaugummi kaufen und nach dem Weg fragen. Bonn war damals noch die Hauptstadt.

„Schwule Sau“

In Muggendorf – ein Luftkurort, 2537 Einwohner (Stand 31. Dezember 2006), 310 Meter über Normalnull, es gibt dort auch einen Brunnenbauer, der Steeger heißt und dessen ältester Sohn mich immer verprügeln wollte (der Grund ist mir bis heute nicht klar), eine Metzgerei mit dem Namen Wehrfritz und einen Frischmarkt Sponsel (heißt jetzt aber anders) sowie ein Aal-Restaurant, welches von Adele Würfel geführt wird, die Brennerei Wunder (sehr guter Himbeergeist), ein Familienschwimmbad (dort haben nur alte Männer morgens getrunken, Bier und keinen Himbeergeist) und das Restaurant Feiler, das früher mal einen Stern hatte, jetzt aber nicht mehr, was schade, aber richtig ist, und eine Grundschule, in der mein inzwischen verstorbener Grundschullehrer (war mit Thomas Gottschalk in der Schule) immer sagte, er geht kopieren, in Wahrheit aber mit der Musiklehrerin rauchen war – in Muggendorf also konnte und durfte ich zunächst gar nichts.

Als Preuße in Franken war ich so unbeliebt, ich habe anderen Kindern zehn Mark geboten, damit sie eine Stunde am Nachmittag mit mir verbrachten. Als Sohn eines Professors und einer Apothekerin konnte ich mir das leisten. Ich ekle mich bis heute zwar vor Menschen, die zu Prostituierten gehen, aber irgendwie verstehe ich sie auch. Sie sind einsam und sehnen sich nach Liebe.

(Photo by Peter Bischoff/Getty Images)
(Photo by Peter Bischoff/Getty Images)

Irgendwann wird auch dich jemand mögen

Die Frage, die natürlich berechtigt ist: Und Stefan Raab? Stefan Raab war für mich ein Mensch, der mir das Gefühl gab, es gäbe ihn nur für mich. Während ich von unserem Dorfnazi Benjamin als schwule Sau durch die Straßen gejagt wurde, war Raab mein bester Freund, der jeden Tag mit mir sprach. Ich wähnte in ihm einen Seelenverwandten, der mir unauffällig zu sagen versuchte: „Halte durch, irgendwann mag dich auch jemand.“

„Ich wähnte in ihm einen Seelenverwandten“

1994, ich war gerade sechs Jahre alt, fand die Fußballweltmeisterschaft mit dem deutschen Trainer Berti Vogts statt. Ich habe Fußball bis heute nicht verstanden. Nur vor Freiern ekle ich mich mehr als vor Fußball, aber im Wesentlichen erscheint mir Fußball genauso menschenverachtend und ästhetisch falsch wie der Besuch ukrainischer Zwangsprostituierter. Der beste Fußballspieler in meiner Grundschule hieß David. Was ihn so beliebt machte, dass er mit den Zwillingen Lisa und Marie knutschten durfte. Gleichzeitig! Mit sieben Jahren!

Stefan Raab jedenfalls sang diesen Song, der „Böörti Böörti Vogts“ hieß. „Wer ist der schönste Trainer der Stadt / Wer schleppt die geilsten Weiber ab / wer trägt Größe XXS / Und ist dafür schon ganz schön kess“. Die Antwort war immer Böörti Vogts. Das imponierte mir. Im Prinzip erfand Stefan Raab 1994 schon Jogi Löw, indem er das Bild eines sehr attraktiven Fußballtrainers zeichnete, der sehr auf sich achtet und besonders bei den Frauen sehr beliebt ist.

„Ficken“ zu sagen war verboten

Während also bei der WM in den USA nachweislich nicht so kluge Menschen wie Stefan Effenberg und Lothar Matthäus von einem kleinwüchsigen Deutschen herumgescheucht wurden und alle Jungen meiner Klasse geil davon wurden, diesen Männern dabei zuzuschauen, hörte ich heimlich unter der Bettdecke Stefan Raab.
Und dann kam der 8. März 1999. Es war Weltfrauentag. Das weiß ich deswegen, weil ich mit sechs beschloss, Feminist zu werden.

Wie immer feierte ich den Weltfrauentag alleine. Meine Mutter konnte an diesem Tag nicht mitfeiern, weil sie als emanzipierte Frau natürlich arbeiten ging. Und am 8. März 1999 lief zum ersten Mal die Sendung „TV Total“. Die sah ich heimlich. Mein Vater glaubt bis heute, dass alle Ausdrucksformen außer Literatur und Wissenschaft falsch sind. Besonders das Fernsehen. RTL war auf unserem Fernseher gesperrt, weil er gehört hatte, dass sie dort das Wort „Ficken“ gebrauchen. Von ProSieben hatte er, Gott sei Dank, nicht gehört.

Watt, wer bist du denn?

Ich war so fasziniert von diesem Stefan Raab. Ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der zum größten Hofnarren der Nation wurde. Der mit seinen zu großen Sakkos und einem unmöglichen Goatee so nachlässig gekleidet war, wie es nur geht. Mit einem Witz, so scharf von jungenhaft freundlichem Gift durchsetzt, dass er absolut tödlich war. Raab bekam für seine Witze Applaus, viel Geld und nur manchmal Ärger oder von Moses Pelham auf die Nase.

Alles, was er sagte oder mithilfe von Knöpfen und Buttons in seinem Studio abspielte, wurde zum geflügelten Wort. Anders als heute schauten die Menschen 1999 in Deutschland noch Fernsehen. Pulleralarm. Wir haben doch keine Zeit. Da krieg isch Plaque. Watt, wer bist du denn? Ich will da rein. Raus musser er. Mein Name ist Hase. Maschendrahtzaun. Wir kiffen. Gebt das Hanf frei. Hol mir mal ’ne Flasche Bier.

(Photo by Ralf Juergens/Getty Images)
(Photo by Ralf Juergens/Getty Images)

Ihr Echo erklang am nächsten Morgen auf allen Schulhöfen. Auch auf dem meines fränkischen Gymnasiums in Ebermannstadt. Anders als Raab erntete ich für meine raabesken Beobachtungen keinen Applaus, sondern Verweise von den Lehrern und Gewalt von meinen Mitschülern. Ein Mädchen, das auch nach dem ausdifferenzierten Schönheitsideal unserer Tage schon damals sehr hässlich war, trug einmal ein T-Shirt der Firma „Pussy Deluxe“. Das konnte ich daran erkennen, dass der Markenname sehr groß über ihre ebenfalls sehr großen Brüste geschrieben stand.

Irgendwann rief er die Polizei

Als ich sie fragte, was an ihrer Pussy so deluxe sei, wurde eine Klassenkonferenz einberufen, auf der beratschlagt wurde, wohin ich versetzt werden sollte, weil ich bei meinen Mitschülern äußerst unbeliebt sei, sie würden mich sogar hassen, hieß es. Raab, das wurde mir damals klar, war kein platter Witzereißer. Er war einfach sehr schlau und sah am genauesten hin. Das dachte ich natürlich auch von mir, stand damit aber alleine da. Heute weiß ich, Raab war einfach besser.

„Er war einfach sehr schlau und sah am genauesten hin“

Ich habe geweint, als Stefan Raab bei der Fabrik von Uli Hoeneß einen Zentner Würstchen für Bayer Leverkusen bestellte, als Reiner Calmund verkleidet. Und als Raab mit Samples aus Dieter Bohlens Hörbuch dem armen Mann am Empfang seiner Plattenfirma durch das Telefon als eben jener Dieter Bohlen eröffnete, „Und wenn Sie meinen, dass ich nicht mit Ihrer Tochter schlafen soll, das habe ich schon längst erledigt“, da war es um mich geschehen.

Am nächsten Tag rief ich bei unserem Dorf-Alkoholiker Arno an. „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben in der bayerischen Bierlotterie einen Kasten alkoholfreies Weizen gewonnen. Wann dürfen wir liefern?“ Das habe ich so lange jeden Tag wiederholt, bis Arno die Polizei einschaltete. Danach bekam er von mir keine Anrufe mehr.
Sogar als Telefonist war Stefan Raab besser als ich. Das ist nicht schlimm. Ich habe mich mit meinem Leben arrangiert. Inzwischen habe ich sogar einen Freund, der sich unentgeltlich mit mir trifft. Ich habe mich nicht umgebracht. Ich hatte ja Stefan Raab.

Dieser Text von unseren Kollegen der WELT erscheint mit deren freundlicher Genehmigung auf rollingstone.de.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates