Oliver Polaks Tourtagebuch: Bitte keine Fragen, Mutti

Auf Tournee trifft Oliver Polak seine Eltern, Udo Jürgens und einen freundlichen Rapper

Nach einem Tour-Marathon durch deutsche Kabarettbühnen erlitt der Stand-up-Komiker Oliver Polak einen Zusammenbruch. Diagnose: Schwere Depression. Seinen achtwöchigen Aufenthalt in der Psychiatrie verarbeitete er in seinem aktuellen Buch, „Der jüdische Patient“. Was er auf seiner neuen Lesereise erlebte, hat er exklusiv für den ROLLING STONE aufgeschrieben.

Frankfurt, 1. November

Morgen beginnt meine 36-tägige Lesereise in Gütersloh. Alter, Güterslow. Ich bin müde – müde von den letzten Wochen, den vielen Interviews, den ganzen Promo-Auftritten. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, so viele Termine zu buchen, schließlich war das lange Touren einer der Faktoren, die mich in die Depression getrieben haben. Und jetzt? Eigentlich sollte ich ready to shoot sein, aber ich bin sleepy.

„I need some sleep.“ Eels-Mode.

Heute Abend startet Udo Jürgens seine Tour in der Festhalle Frankfurt. „Mitten im Leben.“ Udo ist mein großes Idol. Oft missverstanden. So wie ich. Ich rufe meinen Tourbegleiter Heiko an und sage ihm, dass wir uns erst in Gütersloh treffen; ich habe spontan entschieden, mich in den Zug zu setzen und zu Udo zu fahren. Energie tanken. Vom Frankfurter Hauptbahnhof laufe ich rüber zum Hotel, vorbei an den Nutten, den Junkies, den Pelzgeschäften. Dann geht es zur Festhalle. Was für ein beeindruckender Bau! Und diese riesige Glas-

kuppel! Fuck Mehrzweckhallen! Am Counter sind ein Pass und eine Nachricht in einem schwarzen Briefumschlag für mich hinterlegt. Reihe 5, Platz 7. So nah.

Das Eröffnungsstück, „Die Welt braucht Lieder“, spielt das Orchester Pepe Lienhard live, und Udo singt aus dem Off. Am Ende des Songs betritt er die Bühne – Standing Ovations. Tränen in meinen Augen. Dann zweieinhalb Stunden Big-Band-Explosion, Chanson, Lieder, so viele Lieder. Zugabe in weißem Hemd und Bluejeans: „Zehn nach elf“, ein Song über die innere Leere nach dem Auftritt. Ich werde von Udos Tourbegleiter abgeholt und zu seiner Garderobe geführt. Dort warten Wolfgang Niersbach und zehn andere DFB-Vögel auf ihr Meet & greet.

Udo steht in Bademantel und Adiletten im Korridor und hält einen Smalltalk mit dem DFB-Präsidenten, während andere aus der Gruppe heimlich Handyfotos machen – respektlos. Udo verschwindet in der Garderobe. Ich bin allein im Flur. Neonlicht. Ein paar Roadies schieben Kisten an mir vorbei. Dann öffnet sich die Tür. Udo ist frisch geduscht, er streckt mir die Hand entgegen und lässt sie nicht los: „Was machst du denn für Sachen, man liest ja so einiges, geht es dir wieder besser?“ Ich nicke.

Gütersloh, 2. November 

Mein Zug nach Gütersloh wird wegen des Bahnstreiks nach Dortmund umgeleitet, wo Heiko mit laufendem Motor auf mich wartet. Wir sind spät dran. Am Hauptbahnhof ist die Hölle los, es fühlt sich so an, als wollten alle diese Stadt so schnell wie möglich verlassen. Dortmund. Hätten die Lokführer mal lieber vor 70 Jahren gestreikt, dann wäre uns einiges erspart geblieben. Erst kurz vor Einlass kommen wir in Gütersloh an, draußen vor der Weberei hat sich schon eine lange Schlange gebildet.

Drinnen wird eilig der Backdrop aufgehängt, der Sound gecheckt, das Licht eingerichtet, der Büchertisch aufgebaut. Einlass. In 20 Minuten beginnt die erste Show. Ich bin unsicher, fühle mich nicht gut genug vorbereitet. Polak, beruhige dich! Die Show in der Show entwickelt sich oft erst auf der Bühne. Die letzten zwei Tracks der Einlassmusik laufen, „Beautiful Land“ von Nina Simone und „Verstärker“ von Blumfeld.

Es wird ganz dunkel im Saal. Die Show beginnt mit „Hautnah“ von Udo Jürgens. Von der Seite bläst eine Nebelmaschine weißen Dunst ins Rampenlicht. Ich betrete die Bühne, es fühlt sich gut an. „Keine Angst, das ist nur Bühnennebel.“ Die ersten Lacher. Ich lese etwa 80 Minuten. Am Ende beantworte ich Fragen aus dem Publikum. Geht doch.

Frankfurt, 3. November

Am nächsten Morgen geht es zurück nach Frankfurt. Meine Lieblingsstadt. Wir kommen gegen 15 Uhr an, es bleibt noch genug Zeit, ins Cafe Karin zu gehen und eine Kartoffel-Lauch-Suppe mit Würstchen zu essen. Mein Freund Costa kommt vorbei. Früher war er ein Rapper aus dem Stall von Moses P. und nannte sich Illmatic, heute ist er einer der wenigen wirklich lustigen Stand-up-Comedians in diesem Land. Er hat eine riesengroße Schnauze und ein noch größeres Herz. Eigentlich ein cooler Typ, würde er nicht immer noch dieses beknackte 3P-Shirt tragen. Wir hängen ab und labern, Costa flirtet mit der Kellnerin, dann geht es weiter zur Brotfabrik, ein guter Ort und heute fast ausverkauft.

Beim Soundcheck bekomme ich eine SMS von Haftbefehl: „Shalom Jiggo, ich komme später vorbei.“ Mit Hafti habe ich vor ein paar Wochen eine „Durch die Nacht mit …“-Folge aufgezeichnet, die im Januar auf Arte gezeigt wird. Beim Dreh hat er mir seinen alten Wohnblock in

Offenbach gezeigt. Sehr sympathischer Typ. Die Show rollt sauber durch, das Frankfurt-Kapitel, das einen Christiane-F.-Flashmob und einen Besuch im Laufhaus beinhaltet, kommt hier besonders gut an. Das Publikumsgespräch endet mit der Frage, ob mich das Judentum depressiv gemacht habe. Haftbefehl musste früher los, aber er lässt ausrichten, dass ich ruhig so weitermachen soll. Danke, Babo!

Nach der Show stehe ich am Merch-Stand und signiere Bücher. Meine Frankfurter Freunde warten auf mich. Ich will gerade rüber zu ihnen, da baut sich eine große, schwarz gekleidete Frau vor mir auf, die mich an eine Domina erinnert. „Ich bin vom Zentralrat der Juden“, sagt sie. „Das tut mir leid für Sie“, antworte ich. Sie möchte, dass ich bei einer Rabbinerkonferenz zum Thema „jüdischer Humor“ auftrete, und will das unbedingt jetzt mit mir besprechen. Sie drängt mich regelrecht in die Ecke. Außer mir gebe es ja leider keinen jüdischen Komiker in Deutschland. Really? Ich erkläre ihr, dass ich jetzt keine Zeit hätte, und bitte sie, eine offizielle Anfrage an mein Management zu senden. „Das ist nicht mein Weg“, entgegnet sie. Ich lasse sie stehen.

Köln, 4. November

Es regnet in Strömen. November in Köln. Das Gebäude 9 mag ein toller Konzertschuppen sein, ist aber vielleicht nicht der optimale Ort für eine Lesung. Der örtliche Veranstalter bestuhlt den Saal mit Plastik-Gartenmöbeln, der verpeilte Techniker versaut die Opening-Musik, und die Heizung knackt so laut, dass ich meine eigene Stimme kaum höre. Augen zu und durch. Nach der Show gibt es Hendrick’s Gin Tonic und aufmunternde Worte von Serdar Somuncu.

Osnabrück, 5. November

In der Fußgängerzone von Osnabrück laufe ich einem jungen Mentalisten über den Weg, den ich aus der Scheinbar kenne, einer Open Stage in Berlin, auf der ich oft neue Gags ausprobiere. Ich erzähle ihm, dass ich heute Abend eine Show im Haus der Jugend lesen werde, aber das weiß er natürlich schon. Mentalist halt. In der Buchhandlung am Platz haben sie mein Buch unter „Psychologie“ einsortiert. Eine Journalistin vom NDR möchte mich für die Sendung „Hallo Niedersachsen“ porträtieren. Aus den zugesagten 20 Interview-Minuten werden eineinhalb Stunden. Ich werde ungehalten, als der Kameramann erklärt, dass seine Frau ihm verboten habe, die Talkshow von Markus Lanz anzuschauen, weil der ja angeblich schwul sei. Nur ein Scherz, redet er sich raus. 

Münster, 6. November

Die Pension Schmitz gehört für mich zu den schönsten Venues in ganz Deutschland. Ein warmer Ort. Tagsüber schlürfen die Studenten der Uni Münster hier ihren Milchkaffee, abends gibt es oft Unplugged-Konzerte auf der winzigen Bühne. Als Catering gibt es hausgemachte Spinat-Quiches. Die Lesung ist ausverkauft. Der Beagle Kalle – er gehört dem sehr freundlichen Inhaber, Tommi – schnarcht leise unter meinem Lesetisch. Es ist sehr beruhigend, dass er da ist.

Lingen, 7. November

Auf ins norddeutsche Flachland. Auf dem Weg zum Alten Schlachthof sehen wir in der Ferne die Schlote des örtlichen Kernkraftwerks. Gruselig. Erinnerungen. Meine Heimatstadt Papenburg ist nicht weit entfernt, deshalb wollen meine Eltern heute Abend zur Lesung kommen. Der Backstage-

Bereich liegt in der ersten Etage, von hier oben kann ich sehen, wie meine Eltern den Saal betreten. Zum Glück setzen sie sich nicht in die erste Reihe! Erst später erfahre ich, dass meine Mutter zum Soundmann gegangen ist und ihn aufgefordert hat, die Einlassmusik leiser zu drehen. Immerhin stellt sie nach der Lesung keine peinlichen Fragen.

Das anschließende Abendessen gleicht einer Zeitreise in die 80er-Jahre. Der einzige Ort, an dem man an einem Freitagabend in Lingen nach 20 Uhr noch etwas Warmes zu essen bekommt, ist ein jugoslawisches Restaurant, in dem Fleischberge aufgetischt werden. Meine Mutter löffelt mit Käse überbackene Zwiebelsuppe und erklärt, dass sie den Auftritt missglückt fand, da ich so unsicher gewirkt habe.

RS-Weekender, Weissenhäuser Strand, 8. November

Am nächsten Tag müssen wir sehr früh raus, denn die Lesung beim ROLLING STONE WEEKENDER an der Ostsee beginnt schon um 14 Uhr, und bis dahin müssen wir noch 400 Kilometer hinter uns bringen. Als wir am Weissenhäuser Strand ankommen, steht Eric Pfeil mit seiner Gitarre auf der Bühne. Nach seinem Abgang bleiben viele Zuschauer gleich sitzen. Es reizt mich, vor Leuten aufzutreten, die nicht genau wissen, was jetzt auf sie zukommt. Als die Opening-

Musik anläuft, ist der Saal brechend voll, ich bin in Topform – eine Stunde Rock’n’Roll.

Heute lese ich nur und mache kein Stand-up. Ein wenig egoistisch von mir, ich weiß, ich wäre auch gern weniger egoistisch, aber was hätte ich davon? Nach der Show steht Sven Regener am seitlichen Bühneneingang und nuckelt an einer Limo. „Oliver, bist du das?“ Regener ist nach mir dran, aber draußen scheint die Herbstsonne.

Wir gehen runter zum Strand, man kann fast bis nach Dänemark schauen. Die Wellen plätschern sanft gegen die Seebrücke. Was für ein herrlicher Nachmittag! Überhaupt ein angenehmes Festival, nur leider keine Bands, die ich geil finde. Am Abend stupst mich ein sichtlich angetrunkener Typ von hinten an, er trägt eine ROLLING-STONE-Mütze und fragt mich, wie es mir gehe. Es ist der Bürgermeister von Papenburg. „Können wir ein Foto machen?“Reutlingen, 11. November

Der vielleicht intimste Abend auf der Tour, gerade mal 40 Leute sind ins franz.K gekommen. Doch die kleinen Shows sind oft die besten. Nach der Lesung fahren wir weiter nach Stuttgart. Als wir im Hotel am Schlossgarten einchecken, kommt uns Peter Kraus aus dem Aufzug entgegen und strahlt uns an. Sugar Sugar Baby! Am nächsten Morgen bin ich zu einer zweistündigen Livesendung im SWR eingeladen. Der Moderator weiß nicht, wer Alf ist.

Nürnberg, 12. November 

Der Club Stereo, ein eher popkultureller Ort. Das junge Publikum sitzt auf leeren Bierkisten. Ich bin jahrelang in Kabarettläden aufgetreten, vor falschem Publikum. Die Leute erwarteten oft einen jüdischen Kabarettisten und bekamen mich. Ich verachte deutsches Kabarett zutiefst. Political Correctness ist eine Farce und eher ein Vorwand dafür, sich nicht mit Missständen auseinanderzusetzen. Aber Nürnberg war toll. Bevor wir am nächsten Morgen auf die Autobahn fahren, machen wir noch ein Foto auf dem Reichsparteitagsgelände – ein wirklich unangenehmer Ort. Ich wollte mir das immer schon mal anschauen. Im Stadion nebenan tritt die deutsche Nationalmannschaft heute Abend gegen Gibraltar an.

Hamburg 15. November

In der Raststätte an der A7 sehen wir drei furchteinflößende Glatzköpfe, die in einen schwarzen SUV steigen. Hoffentlich sind sie auf dem Weg zur Hooligans-gegen-Salafisten-Demo und nicht zu meiner Show in Hamburg. Das Uebel & Gefährlich ist im vierten Stock des Hochbunkers in der Feldstraße untergebracht. Auf den Straßen herrscht Verkehrschaos, die ganze Stadt scheint unterwegs zu sein. Drinnen herrscht die Ruhe vor dem Auftritt. Alles fühlt sich richtig an: die Bühne, der Sound, das Licht. Sunny, ein liebenswerter Sound-

Ingenieur, ist heute für den Klang verantwortlich. Wir sind uns in den letzten Jahren oft begegnet, da er auch die Shows von Tocotronic, Blumfeld und vielen anderen Bands mischt. Nicht nur Frank „Was hat dich bloß so ruiniert“ Spilker ist anwesend, auch viele meiner Jugendfreunde aus Papenburg, die in Hamburg leben, sind gekommen. Sie sind mittlerweile Lehrer, Schriftsteller, Journalisten – aber als wir nach der Show noch auf den Dom ziehen, sind es immer noch die alten Jungs von früher. Warm, vertraut, heimelig. Achterbahn, Pizza auf die Hand und Bier aus dem Plastikbecher.

Berlin, 16. November 

Heimspiel in der Volksbühne. Mein Tisch wird an diesem Abend aus dem Bühnenkeller nach oben fahren. Showtime! Eine überdimensionale Bühne, gefühlte 100 Lichtkannen, zwei Verfolger – Full House. Im Publikum sehe ich K.I.Z und Maxim Biller. Viele Leute, viele Lacher, viel Ruhe. Ich bin überwältigt.

München, 19./20. November

Die beiden Shows im Volkstheater am Stiglmaierplatz sind ausverkauft. Yeah! Es fühlt sich an manchen Tagen seltsam an, den Text zu lesen. Als wenn ich aus der Perspektive einer anderen Person sprechen würde, obwohl ich ja ich bin, was daran liegt, dass der Text aus einer anderen, zeitversetzten, extremen Lebenssituation, kurz vor dem Untergang quasi, geschrieben wurde. Doch trotzdem trägt mich der Text durch die Shows, ich kann mich auf seine Stärke, die Intensität verlassen. Am zweiten Abend kommt Michael Mittermeier mit seinem Kumpel Rick Kavanian vorbei. Wow! Nach der Show reden wir bis spät in die Nacht: über Comedy, Stand-up, Deutschland, Humor, Grenzen. Mittermeier sagt, dass es für einen Stand-upper wichtig sei, immer auf der Suche nach etwas Neuem zu sein. Ein wirklich cooler Typ – bis auf die Kooperation damals mit den Guano Apes. Rick Kavanian hält sich zurück und hört zu, er zählt zu den angenehmsten Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Am liebsten hätte ich ihn eingepackt und mitgenommen. Am nächsten Morgen sehen wir auf dem Weg zur Autobahn die „Mitten im Leben“-Plakate, Udo spielt heute Abend in der Olympiahalle. Ich muss auf dieser Reise oft an ihn denken. Unsere Wege kreuzen sich ständig. Was er wohl gerade macht?

Magdeburg, 24. November  

Es geht weiter in den Osten: Jena, Leipzig, Magdeburg. Vor Magdeburg überfällt mich eine Grippe. Die Stadt ist alles andere als einladend, aber das Publikum ist cool und aufgeschlossen. Die Show kommt trotz verstopfter Nase sehr gut an. Heiko und ich wollen nicht in Magdeburg bleiben und fahren durch die Nacht nach Berlin. Während wir den Kaiserdamm entlang-rollen, die Straße des 17. Juni, Unter den Linden, zum Rosenthaler Platz, läuft im Autoradio Motorpsychos „All Is Loneliness“. Ich werde mich ein paar Tage ausruhen und versuchen, gesund zu werden. Es fühlt sich so gut an, wieder im eigenen Bett zu liegen. Bevor ich einschlafe, buche ich für den 7. Dezember – ein Tag nach meiner letzten Show in Graz – einen Flug nach Zürich. Dort wird Udo sein letztes Konzert in diesem Jahr geben.

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