Paul McCartney – Nicht von gestern

Für die Vergangenheit hat Paul McCartney nur zwischendurch mal Zeit. Sein Album mit Interpretationen klassischer Pop-Standards ist kaum erschienen, da arbeitet er in den Abbey-Road-Studios schon wieder an neuen Liedern.

Paul McCartney ist auf dem Weg zur Arbeit, als er an einem Zebrastreifen anhalten muss. Mehrere Fußgängergruppen, alle mit Kameras in den Händen, bevölkern die begrünte Straße im Herzen von London und bringen den Verkehr kurzzeitig zum Erliegen. Während McCartney in seinem SUV geduldig wartet, macht sich keiner der Touristen die Mühe, einen Blick auf den Wagen zu werfen – sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig beim Überqueren der Abbey Road zu fotografieren.

„Das ist mir nun schon mehrfach passiert“, erzählt McCartney später und schüttelt lachend den Kopf. „Und ich muss gestehen, dass ich diesen Augenblick durchaus genieße, weil man sich der Symbolik der Situation einfach nicht entziehen kann. Was nun nicht bedeuten soll, dass ich nach diesen Momenten suche. Es gibt eh schon so viele. Das Leben eines Beatles ist gespickt mit Allegorien.“

Er gibt dem spontanen Impuls, aus dem Auto zu klettern und sich mit den Fans ablichten zu lassen, nicht nach und lenkt seinen Wagen zielstrebig zu den heiligen – wenn auch etwas muffig riechenden – Hallen: Abbey Road Studio 2. „Willkommen in meiner Welt“, sagt er und geht zielstrebig durch die Doppeltür am hinteren Ende eines hohen, rechteckigen Raumes, der an die Aula eines Gymnasiums erinnert. Er schiebt sich ein Kaugummi in den Mund. „Vergangenheit und Gegenwart. Jedes Mal, wenn ich hier eintrete, spult sich die ganze Geschichte aufs Neue ab. Das ist der Ort, wo alles passierte.“

In diesem weiß getünchten, wenig anheimelnden Raum nahmen die Beatles den größten Teil ihrer Musik auf – von „Love Me Do“ bis „The End“, hier absolvierten sie vor nun fast 50 Jahren auch erfolgreich ihr Vorsingen bei der EMI. Von ein paar modernisierten Resonanzwänden und einer neuen Uhr abgesehen, hat sich seitdem wenig geändert. Da ist noch immer das Kabuff, in dem McCartney mit einem frenetischen „One, two, three, faw“ in „I Saw Her Standing There“ einstieg, da ist noch immer die Ecke, in der er auf einem der vielen Pianos den E-Dur-Akkord hämmerte, mit dem „A Day In The Life“ ausklingt.

Im Moment vergnügt er sich – ohne erkennbaren Grund – am Schlagzeug. Bereits Sekunden nach unserer Ankunft schwingt er sich hinter das Kit, greift sich zwei Sticks, spielt sich durch ein paar schnelle Takte und traktiert dabei vor allem die Hi-hat. Das Resultat klingt tatsächlich irgendwie Beatlesque, zumindest aber unverkennbar nach den Wings.

McCartney zeigt auf die Treppe in der Ecke, die in den verglasten Kontrollraum führt, in dem George Martin und die Tontechniker arbeiteten. „Dort oben saßen die Erwachsenen“, sagt er. „Die Treppe allein ist schon so etwas wie eine Ikone – etwas, das sich in deinem Hirn einnistet wie ein Traum.“

Es ist ein stürmischer Tag Ende Januar, aber der 69-jährige McCartney – noch immer der ewige Junge – verzichtet auf eine Jacke und trägt über dem Jeanshemd nur eine „North Face“-Weste. Seine Füße stecken in schwarzen Joggingschuhen. Sollte sich plötzlich ein „A Hard Day’s Night“-Fan-Mob auf ihn stürzen: Er wäre gewappnet. Sein nach wie vor volles Haar ist heute etwas zerzauster als gewöhnlich, auch seine Gesichtsfarbe ist arg blass – er hat zuletzt einfach zu viel gearbeitet.

„Ein Außenstehender wird nicht mal ansatzweise nachvollziehen können, mit wie vielen Erinnerungen dieser Raum für mich behaftet ist“, sagt er. „Es ist unvorstellbar.“ Er zeigt auf die hintere Ecke. „Dort drüben stand John und sang, Girl‘.“ Er singt den Refrain und imitiert Lennon, der bei dieser Aufnahme tief einatmete und den Eindruck erweckte, als würde er gerade an einem dicken Joint ziehen. „Die Leute glaubten damals wirklich, es wäre ein Joint – war’s aber nicht. Wir mochten einfach diesen zischenden Sound. All diese legendären Anekdötchen haben mit der Realität herzlich wenig zu tun. Ich sah neulich eine Beatles-Dokumentation, und schon in den ersten fünf Minuten steckten vier sachliche Fehler. Aus dem gleichen Grund wissen wir heute nicht, wer Shakespeare war oder was bei der Battle of Hastings wirklich passierte.“

Nicht nur der Vorfall am Zebrastreifen vermittelt den Eindruck, als läge ein mythischer, vierköpfiger Schatten auf ihm – ein Schatten, der die Tatsache in den Hintergrund drängt, dass dieser Paul McCartney lebendiger ist denn je. Er ist frisch verheiratet, fast Milliardär, beinharter Vegetarier, Vater eines achtjährigen Mädchens (von seinen vier erwachsenen Kindern abgesehen), ein unermüdlicher Showman, der dreistündige Rockkonzerte locker wegsteckt, ein hyperaktiver Songschreiber und recording artist, Komponist von Sinfonien und Ballettmusik, nicht zuletzt Ritter des englischen Königreichs. Mit „Kisses On The Bottom“, seinem jüngsten Album, hat er sich nun auch als Crooner verewigt. Mit im Jazz verwurzelten Liedern, die aus der Prä-Rock-Ära stammen, ergänzt durch einige Eigenkompositionen, die sich nahtlos in dieses Umfeld einfügen.

Er hatte das Album mit Standards jahrelang vor sich her geschoben, weil ihm stets andere Kollegen (von Ringo Starr im Jahr 1970 über Harry Nilsson bis zu Rod Stewart) zuvorgekommen waren. Aber er zögerte auch, weil er das alte Klischee – der softe Schnulzier Paul im Kontrast zum kantigen Rocker John – nicht unnötig befeuern wollte. „Inzwischen habe ich das abgehakt“, sagt er. „Wenn es immer noch Leute gibt, die meine andere Seite nicht kennen, kann ich ihnen auch nicht helfen.“ Trotzdem: „Kisses“ wird ein einmaliges Projekt bleiben. Eine Woche vor Veröffentlichung ist er bereits wieder im Studio, um an einem neuen Rock-Album zu arbeiten. Bislang spielt er alles selbst. Der Bass, die Gitarren, das Keyboard und das Drum-Kit – alle Instrumente, die in Studio 2 aufgestellt sind, gehören ihm. „Meine Absicht war, genau das zu tun, was ich eben im Moment tue – nämlich gleich ein weiteres Studioalbum nachzuschieben, damit die Leute gar nicht erst auf den Gedanken kommen, ich sei nun endgültig ins Jazzlager abgewandert.“

Heute arbeitet er an einer akustischen Ballade namens „Hosannah“, die auch auf „McCartney“, seinem Solo-Debüt von 1970, nicht fehl am Platz gewesen wäre. (Ein weiteres Album, auf dem er alle Instrumente selbst spielt.) Als er sich die Kopfhörer aufsetzt, in die Saiten des alten Hofner-Basses greift und mit dem Fuß den Takt schlägt, muss man sich aber fast schon zwingen, ihm bewusst zuzuhören – die gesammelten Geister, die hier im Raum schweben, scheinen geradezu übermächtig.

Ein Gefühl, das McCartney offensichtlich fremd ist. Er arbeitet gerne hier und lässt sich von der Vergangenheit nicht irritieren. „Mag sein, dass hier etwas im Raum liegt“, sagt er, „aber man lernt, damit zu leben. Ich jedenfalls kann damit leben. Wenn ich einen Song schreibe, schweben meine früheren Lieder auch irgendwo im Raum. Wenn einem etwas besonders gut gelingt, hängt das fast schon wie ein Fluch über dir:, Oh Scheiße, ich habe gerade „Eleanor Rigby“ geschrieben – wie soll ich das je übertreffen?‘ Ich denke, man sollte sich dann sagen:, Ich versuch’s gar nicht erst.‘ Dir ist bewusst, dass du diesen Song nie mehr übertreffen kannst, aber dafür schreibst du dann eben, Blackbird‘. Man schlägt einfach eine andere Richtung ein – vorausgesetzt, man erwischt einen glücklichen Tag. Ich bin mir dieses Phänomens immer bewusst, lasse mich davon aber nicht runterziehen.“

McCartney ist auch reflektiert genug, um sich eine andere Ironie des Schicksals auf der Zunge zergehen zu lassen: Anders als die Pop- und Rock-Kollegen, die sich ebenfalls an verflossenen Pop-Klassikern versuchten, war er es, der dem „Great American Songbook“ den Todesstoß versetzte (unterstützt natürlich von John Lennon und auch Bob Dylan). „Wir konnten nicht umhin, diese Entwicklung zu registrieren“, räumt er ein. „Leute, die wir bewundert hatten, sagten plötzlich:, Tja, die Beatles haben uns das Grab geschaufelt.‘ Natürlich war das nicht unsere Absicht. Wir waren halt damit beschäftigt, unser eigenes Ding durchzuziehen. Wir wollten die Vergangenheit nicht auf die Müllhalde kippen, aber es passierte einfach, dass Leute wie Harold Arlen, den wir für Sachen wie, Somewhere Over The Rainbow‘ aus ganzem Herzen verehrten, über Nacht aus der Mode kamen – weil wir in Mode kamen. Plötzlich gab es nicht mehr diese verzweifelte Suche nach genialen Songschreibern wie Leiber und Stoller, weil – in unserem Windschatten – viele Leute damit anfingen, ihre eigenen Sachen zu schreiben. Die Hollies und die Stones fingen an zu schreiben, weil sie sich sagten:, Hey, das ist ja eine coole Sache.‘ Insofern trifft es tatsächlich zu: Wir traten eine Mode los, die leider Gottes viele der Leute ausradierte, die wir über alle Maßen bewunderten.“

Am nächsten Tag ist McCartney erneut in Studio 2 und hockt auf einem Klappstuhl zwischen antiken Tasteninstrumenten, die er selbst mitgebracht hat. Er isst einen Bagel, den er zuvor mit Hommus und – dem sehr britischen Brotaufstrich – Marmite veredelt hat. Gelegentlich kultiviert er, was wohl ein ritterliches Privileg sein muss: mit vollem Mund zu sprechen. Er besteht darauf, dass ich den Hommus probiere – „der beste der Welt, unglaublich cremig“ – und streicht mir etwas auf seinen Tellerrand. „Nimm dir was auf den Finger und versuch’s mal, nun komm schon!“ Ich folge der Aufforderung, stelle aber fest, dass mein Finger auf dem Weg zum Teller leicht zittert: Beatle-Hommus!

In jüngster Zeit hat sich McCartney ausgiebig mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss die alten Pop-Klassiker auf das Songwriting der Beatles hatten. Lennon und er waren bereits Teenager, als sie erstmals Elvis Presley, Little Richard, Chuck Berry und Buddy Holly hörten. „Wir wuchsen mit Fred Astaire-Filmen auf, doch dann wurde all das vom Rock’n’Roll weggefegt“, sagt er und beißt in den Bagel. „Was aber nicht heißt, dass diese frühen Erinnerungen ausradiert waren. Die Rolling Stones wurden vom Blues beeinflusst, wir vom Rock’n’Roll und, bis zu einem gewissen Grad, auch vom Blues. Doch das melodische Element der Beatles und einige Songstrukturen kamen unbewusst aus unserem Hinterkopf. Und da waren all die alten Sachen gespeichert, die uns unsere Eltern vorgesungen hatten.“

McCartneys Vater Jim war Jazz-Trompeter, der in den Zwanzigern mit seiner eigenen Band auftrat. Er war auch ein leidlicher Pianist, und in einigen von Pauls frühesten Erinnerungen liegt er auf dem Fußboden neben dem Klavier und hört zu, wie sein Vater genau die Songs spielt, die Paul nun auf „Kisses On The Bottom“ interpretiert. „Es gibt keine Aufnahmen von meinem Vater“, sagt er, „doch meine innere Kamera hat alles aufgezeichnet.“ Sein Vater war es auch, der die Beatles später animieren wollte, Gershwins „I’ll Buy A Stairway To Paradise“ zu covern, doch stattdessen spielten sie Songs wie „Your Mother Should Know“ oder „When I’m Sixty-Four“ – „Oma-Musik“, wie Lennon es nannte, auch wenn McCartney umgehend darauf hinweist, dass John die alten Schmachtfetzen sehr wohl zu schätzen wusste.

McCartney nahm das Album mit dem Produzenten Tommy LiPuma auf (der sich mit Pop-Standards und Jazz einen Namen gemacht hat) und engagierte Pianistin Diana Krall als musical director. Er hatte sie kennen und schätzen gelernt, als er „in Eltons Haus“ eingeladen wurde, um dort die Hochzeit seines alten Song-Partners Elvis Costello zu feiern. Sie arbeiteten vorwiegend in den Capitol Studios in L.A., wo McCartney das Mikro aufstellen ließ, das schon Frank Sinatra und Nat King Cole benutzt hatten. „Die meisten, die diese Musik interpretieren“, sagt Krall heute, „denken sich:, Hey, das sind ja nur alte Kamellen‘ – aber das sind sie nicht. Es steckt schon etwas mehr dahinter. Paul schaffte es, seine eigene Story in diesen Songs zu entdecken.“

„My Valentine“, eine der Eigenkompositionen, schrieb McCartney für Nancy Shevell, die 51-jährige amerikanische Geschäftsfrau, die er im letzten Oktober heiratete. Die erste Zeile – „What if it rained/ We didn’t care“ – geht auf eine Bemerkung zurück, die sie auf einem gemeinsamen Urlaub in Marokko machte. McCartney lief zum alten Piano in der Hotelbar und schüttelte fast den kompletten Song aus dem Ärmel. Nach zwei Ehen im Rampenlicht mag sich McCartney über seine dritte eigentlich nicht auslassen, gibt aber gerne zu, dass sich seine gesamte Lebenseinstellung ziemlich aufgehellt hat.

„Ja“, sagt er und nickt langsam, „ich glaube an die Liebe. Die Beatles haben sie besungen, ich habe sie besungen, alle haben sie besungen. Die Liebe muss eine ziemlich populäre Sache sein. Nach einer Scheidung eine neue Liebe zu finden, ist schon eine wunderbare Erfahrung. Und Nancy ist einfach großartig. Sie ist faszinierend, interessant, reizend, intelligent, gefühlsbetont – all die Eigenschaften, die man in einem Kameraden sucht. Sie ist einfach ein wundervoller Mensch, lustig, klug, großartig – alles da.“

Shevell reagierte auf seinen jüngsten silly love song eher verhalten. „Sie ist ein wenig schüchtern“, sagt er, „sie lächelt mehr in sich hinein. Aber ich weiß, dass sie ihn mag. Sie ist nicht der Typ, der gleich ausflippt -, Hör dir das an, er hat den Song nur für mich geschrieben!‘ -, aber ich weiß, dass sie ihn ins Herz geschlossen hat.“

Oben im Kontrollraum von Studio 2 macht der melodischste Songschreiber seiner Generation plötzlich ganz grässliche Geräusche. Er dreht an den Knöpfen einer uralten Bandmaschine und bastelt an dem Loop eines Gitarrenriffs, das er gerade eingespielt hat. Er lässt es immer schneller abspielen, bis es klingt wie ein Ur-Schrei à la Yoko, dann so langsam, als ginge eine schmatzende Matschlawine nieder. Er hält das Band an und grinst. „Da sag noch einer, wir hätten keinen Spaß, was?“

Er arbeitet mit Produzent Ethan Johns (dem Sohn von Produzent/Toningenieur Glyn Johns, der bei „Let It Be“ mitwirkte) an einem Loop, den er vielleicht als Overdub für „Hosannah“ einsetzen möchte. In der Ecke steht das Pro-Tools-Equipment, doch Johns nimmt auch auf analogem Band auf. „Reicht das?“, fragt McCartney nach ein paar weiteren Licks. „Ich könnte den ganzen Tag weitermachen.“ Er stellt seine ’57er-Les-Paul ab, greift sich ein Mikro und singt ein paar verhallte „Whoos“ ein, die klingen wie Little Richard in der Geisterbahn. Ob beschleunigt oder verlangsamt: Der Loop ist ein psychedelischer Albtraum. Als er wieder die Treppe runtersteigt, um unten ein Bass-Overdub aufzunehmen, muss McCartney selbst lachen: „Und all das ganz ohne Drogen.“ Er erzählt, dass er das Kiffen inzwischen komplett eingestellt habe – nach vielen, vielen Jahren und diversen Begegnungen mit dem Arm des Gesetzes, vor allem damals in Japan, wo man ihn neun Tage lang einbuchtete. „Ich habe viel gekifft“, sagt er, „aber nun hat’s gereicht. Wenn man ein Kind großzieht, klopft irgendwann doch so etwas wie Verantwortung an deine Tür. Genug ist genug. Ich verspüre heute einfach nicht mehr die Notwendigkeit.“

Hat er seinerzeit mit der Legalisierung von Pot gerechnet? „Nun, ich habe mich jedenfalls mehrfach und lautstark dafür eingesetzt“, sagt er. „Aber es ist schon ein schwieriges Thema. Natürlich trifft das Argument zu, dass man Pot schlecht verbieten kann, wenn Alkohol legal ist. Ein Argument dagegen wäre, dass wir eigentlich nicht noch eine weitere legale Droge brauchen. Dafür wiederum spricht, dass das Zeug nun mal längst im Umlauf ist und man nicht so tun sollte, als existiere es nicht. Ich werde mich nicht zum Richter aufschwingen und den Eindruck erwecken, als könne ich das Problem lösen. Das sollen andere tun.“

Seine „Toiletten-Lektüre“ besteht zurzeit aus Keith Richards‘ Biografie „Life“. Er ist bisher noch nicht zu der Passage vorgedrungen, in der er selbst thematisiert wird – und das Buch hat in ihm auch nicht den Wunsch ausgelöst, selbst Memoiren zu schreiben. „Ich habe alle Hände voll zu tun und keine Zeit, um mich in die Ecke zu setzen und meine Vergangenheit zu Papier zu bringen.“ Er bestätigt, dass er und Richards seit einigen Jahren dicke Freunde sind – auch dass man gemeinsam Projekte ausheckte, die aber vermutlich nie das Licht der Realität erblicken werden. „Wir hatten ein paar wirklich lustige Einfälle, und ich sagte mehrmals:, Weißt du, Keith, das ist eine verdammt verlockende Idee. Sie ist so abgefahren, dass sie fast schon wieder brillant ist.'“

Richards‘ Image als Rock’n’Roll-Outlaw ist ihm hingegen fremd. Anders als Lennon hat er seinen Orden („Member of the British Empire“) nie zurückgeschickt – und nahm 1997 auch dankbar die Ehrung zum Ritter an. Richards hingegen ging auf die Palme, als Mick Jagger die gleiche Ehre zuteil wurde. „Wenn du in einer Rock’n’Roll-Band spielst“, so McCartney, „fragst du dich natürlich:, Ist das wirklich cool?‘ Aber ich habe all diese Leute aus der Arbeiterschicht gesehen, die stolz darauf waren, von der Queen geehrt zu werden. Und das hat mich mehr beeindruckt als die supercoolen Jungs, die sagen:, Kommt mir nicht in die Tüte.‘ Ich kann den Gedankengang durchaus nachvollziehen, aber für mich ist es ein ziemlich cooler Preis, der dir obendrein von einer ziemlich coolen Lady überreicht wird.“

Er ist nach wie vor davon überzeugt, dass Her Majesty eigentlich ein furchtbar nettes Mädchen ist – und wird im Juni auch an einem Konzert teilnehmen, das zum 60. Jubiläum ihrer Thronbesteigung ausgerichtet wird. „Ich habe sie immer dafür bewundert, wie sie mit diesem unglaublich komplexen Job klarkommt. Ich verstehe die Argumente der Anti-Monarchisten, weil es wirklich eine altmodische Institution ist, aber dann sage ich mir:, Wen haben wir denn, der unser Land bei wirklich großen Feierlichkeiten vertritt – wie jetzt bei den Olympischen Spielen? David Cameron? Tony Blair? Kann ich mir nicht so recht vorstellen.“

Vergleichsweise konservative Positionen sind bei McCartney durchaus nichts Ungewöhnliches. Wenn er über den Zustand der Welt plaudert und aufs Thema „Staatsverschuldung“ zu sprechen kommt, macht er Statements, die man von kaum einem anderen Rockstar hören wird. „Diese Vorstellung, dass man unbegrenzt Schulden aufnehmen kann, ist heutzutage ja weit verbreitet. Meine Einstellung, die mir mein Vater eingeimpft hat, besagt:, Mach dich von niemandem finanziell abhängig. Wenn du etwas haben möchtest, dann warte solange, bis du’s dir leisten kannst.'“

Politisch rechts steht er deswegen noch lange nicht. Er ist fassungslos und wütend, wenn er mit den Leugnern des Klimawandels konfrontiert wird – und schätzt auch Barack Obama ungleich mehr als George W. Bush. Als er 2010 das Weiße Haus besuchte, machte er sich bei „Fox News“ und der amerikanische Rechten jedenfalls keine Freunde. Nachdem er „Michelle“ für die First Lady gespielt hatte, sagte er: „Es ist ein beruhigendes Gefühl, einen Präsidenten zu haben, der zumindest weiß, was eine Bibliothek ist.“

Vor 20 Jahren, als er gerade 50 wurde, empfahl ihm sein damaliger Manager, doch ernsthaft über den Ruhestand nachzudenken. „Es wird dir niemand einen Vorwurf daraus machen“, sagte er. „Früher oder später wird’s nur peinlich, wenn du jenseits der 50 noch weitermachst.“ Im Juni wird McCartney nun 70 („Ich werd’s nie und nimmer glauben, irgendwo in meinem Hirn gibt es eine Zelle, die das immer abstreiten wird“), und er hat nicht die geringste Absicht, mit dem Touren und Plattenmachen aufzuhören. „Man hört oft das Argument:, Mach doch lieber Platz für die Kids'“, sagt er, „und dann denke ich mir:, Verpisst euch! Sollen sie sich doch ihren eigenen Weg suchen. Wenn sie besser sind als ich, werden sie mich schon aus dem Weg räumen.‘ Die Foo Fighters haben kein Problem damit, weil sie einfach gut sind. Sie werden ihren Weg schon gehen. Aber warum sollte ich etwas anderes machen? Und was? Ich liebe meine Arbeit und sehe absolut keinen Grund, warum ich aufhören sollte. Die Band ist super eingespielt, ich singe noch immer wie früher und habe auch – toi, toi, toi – keinerlei körperliche Probleme, die der Rede wert wären. Warum reparieren, was nicht kaputt ist?“

Es erwies sich als hilfreich, dass seine Tourneen inzwischen aus kürzeren, wenn auch intensiven Intervallen bestehen – nicht zuletzt deshalb, weil er sich das Sorgerecht für seine achtjährige Tochter Beatrice mit Heather Mills teilt. „Wir machen keine Mammut-Tourneen wie U2 oder die Stones, die dir irgendwann eh auf den Keks gehen. Wir spielen einzelne Konzerte und ausgewählte Gigs. Weil ich das Sorgerecht habe, bleibt mir eh nichts anderes übrig. Zuerst dachten wir:, O Gott, sollte das ein Problem werden?‘, aber tatsächlich erwies es sich als Segen.“

Wir sitzen im Dachgeschoss seines privaten Studios, das sich McCartney außerhalb von London gebaut hat; der Raum unterm Dach dient als Büro und Beatles-Museum. Auf einem alten, voluminösen Standbass mit weißen Streifen haut er schnell ein paar Rockabilly-Riffs heraus. Das Instrument hat einen langen Weg hinter sich: Es gehörte einmal Bill Black, dem legendären Bassisten, der in frühen Jahren für Elvis in die Saiten griff. „This is it, man!“, sagt er. „Komm mal her und fass es an. In meinem Kopf trage ich dieses Bild von dem Standbass und meiner Hofner mit mir herum – groß und klein. Unvorstellbar, wie viel tolle Musik auf diesen beiden Instrumenten schon gespielt wurde.“

Der Bass war ein Geschenk seiner verstorbenen Frau Linda. Auf der anderen Seite des Raumes scheint gerade die Sonne durch ein Bleiglas-Fenster, das B.B. King in voller Ekstase zeigt. Es wurde nach einer Fotovorlage gestaltet, die ebenfalls von Linda stammt. Neben dem Bass befindet sich eine kleine, alte Schulbank, die einst in der Schule stand, die McCartney und Harrison in Liverpool besuchten – zur gleichen Zeit, als Bill Black seinen Bass aufs Dach eines ’51er-Lincoln schnallte, um mit Presley und Scotty Moore durch die Südstaaten zu touren.

An der Treppe steht ein weiteres Stück Geschichte: ein Steinbrocken, der aus einer inzwischen abgerissenen Londoner Konzerthalle stammt, in der einst auch die Beatles auftraten. Einen weiteren Brocken schenkte er Ringo Starr zum Geburtstag. „Gäb sicher Ärger, wenn ich alles hier im Haus auftürmen würde“, sagt er. „Aber Männer können schon ganz schöne Hamsterer sein – wir wollen uns von nichts trennen. Und da ich nun mal Beatles-Sammler bin, möchte ich wirklich nichts davon wegwerfen.“

Er setzt sich auf ein gelbes Sofa neben einer Vase mit frischen Blumen und erwähnt, wie sehr er von der Offenheit berührt war, mit der George Harrison über den Terror der Beatlemania sprach – zuletzt etwa in Martin Scorseses Film „Living In The Material World“. „Ich glaube schon, dass wir alle dieselben traumatischen Erfahrungen machten, über die sich George ausließ. Es tat gut, George darüber sprechen zu hören, weil er das Thema so offenlegte. Ich persönlich kam damit besser klar, weil mich meine Erziehung zu einer anderen Einstellung brachte:, Trauma hin oder her – das Leben muss weitergehen.‘ Oder anders gesagt:, Okay, willst du dich deswegen in der Ecke verkriechen und jammern? Du warst nun mal in der populärsten Band der ganzen Welt. Du wolltest in dieser Band spielen. Es gab reichlich Geld, und du hattest – neben beschissenen Phasen – auch wirklich wundervolle Momente. Wie willst du es nun halten? Willst du dich an den beschissenen Phasen festklammern – oder dich mit der Situation arrangieren?'“

Zwar hat er selbst gelegentlich einen Therapeuten aufgesucht, aber nicht zu diesem Thema. „Ja, ich habe eine Therapie gemacht, aber da ging’s um die Scheidung und solche Sachen, auch darum, seine Frau zu verlieren. Mit den Beatles hatte das nichts zu tun, das kannst du mir glauben.“

Als alle vier Beatles noch lebten, war das Thema Reunion nie völlig vom Tisch. „Es gab mehrfach Gespräche, die Beatles wieder aufleben zu lassen“, bemerkt er beiläufig, „aber die Idee nahm nie Gestalt an, weil einfach die Begeisterung fehlte. Die Begeisterung, die Beatles zu beerdigen, war größer als die Begeisterung, sie wieder aufleben zu lassen. Und wichtiger noch: Es hätte womöglich das Bild, das die Welt von den Beatles hat, unwiderruflich zerstört. Vielleicht hätten viele gesagt:, O mein Gott, sie waren ja gar nicht so gut, wie wir immer glaubten.‘ Insofern fehlte dem Gedanken an eine Reunion immer die rechte Überzeugung. Sicher, es war zuweilen eine reizvolle Idee, aber dann gab es immer einen, der davon nicht so begeistert war. Und das reichte völlig, da wir nun mal als Demokratie funktionierten. Wenn einer einen Song nicht mochte, wurde er nicht gespielt. Es gab einige Entscheidungen, die auf Messers Schneide standen., Maxwell’s Silver Hammer‘ etwa wäre fast über die Klinge gesprungen.“

Am nächsten Morgen setzt sich McCartney in sein Studio und schreibt einen neuen Song. Ob er nun frisch geschieden ist oder frisch verheiratet, glücklich oder traurig – die Musik stellt sich wie selbstverständlich ein. „Mir gingen gestern vor dem Schlafengehen schon einige Sachen durch den Kopf. Heute Morgen stand ich auf, brachte meine Tochter zur Schule – und auf dem Rückweg, im Auto, ging mir das Thema wieder durch den Kopf. Ich habe gleich den Text notiert, und die Melodie dazu habe ich gerade geschrieben, als du in der Küche wartetest.“

Am heutigen Tag arbeitet er mit Mark Ronson zusammen – einem der potenziellen Produzenten, die er fürs Album im Auge hat -, also schrieb er über etwas, das in den Kontext passte. „Mark machte den DJ auf unserer Hochzeitsparty, also dachte ich an, Party‘ – und kam mit einem Song rüber, der nun, The Life Of A Party Girl‘ heißt.“ So einfach kann es sein, wenn man ein Genie ist.

Wenn überhaupt, hat McCartney vielleicht eher ein Problem damit, dass sich die Songs fast schon zu problemlos einstellen – was auch erklären mag, dass in seinem Songkatalog Beatles-Klassiker neben Nichtigkeiten wie „Let ‚Em In“ stehen. „Ich muss aufpassen“, sagt er, „dass es nicht zu banal und uninteressant ist. Paul Simon arbeitet an seiner Musik viel intensiver als ich – mit einem ersten Entwurf, einem zweiten, einem dritten. Das mache ich zwar auch, aber nicht so konsequent wie er. Es sind einfach verschiedene Arten von Musik. Ich bin mir nicht sicher, ob sich Big Boy Crudup das Hirn zermarterte, als er, That’s All Right, Mama‘ schrieb. Allen Ginsberg pflegte zu sagen:, Der erste Gedanke ist immer der beste‘ – nur um dann stundenlang an seinen Manuskripten zu feilen. Es kann aber durchaus passieren, dass ich einen Song schreibe, ihn mir noch mal anschaue, zusammenzucke und sage:, Den mag ich nicht.'“

Aus welchem unbewussten Reservoir all die Melodien kommen, weiß McCartney letztlich auch nicht. Er kann sich noch immer keinen Reim darauf machen, wie er „Yesterday“ im Schlaf schrieb. „Ich mag das Wort, magic‘ nicht – es sei denn, man schreibt es am Ende mit einem, k‘ -, weil’s einfach arg abgedroschen klingt. Aber wenn dein erfolgreichster Song, den inzwischen mehr als 3.000 Leute gecovert haben, etwas war, das du geträumt hast, dann kann man sich nur schwer der Vorstellung entziehen, dass es so etwas wie eine außerirdische Macht gibt.“

Hat er das Gefühl, als habe ihm Gott einen Blanko-Scheck ausgestellt? „Vielleicht habe ich ihn mir auch unwissentlich selbst ausgestellt“, sagt er. „Ich habe diese Theorie, dass man jeden Tag seinen Computer mit Informationen aus dieser Welt füttert – und eines Tages spuckt er all diese Informationen aus. Ich vermute, dass es im Fall von, Yesterday‘ so etwas wie ein unwillkürlicher Print-out war. Andererseits – vielleicht war es auch Gott. Ich mag es nicht ausschließen.“

Von allen Beatles war McCartney immer derjenige, der mit Spiritualität am wenigsten anfangen konnte (oder zumindest am zweitwenigsten, denn wer weiß schon, was diesbezüglich in Ringos Kopf vor sich geht). Es gibt in seinem Repertoire kein „My Sweet Lord“, auch kein „Across The Universe“. „Ich glaube an eine geistige Kraft“, sagt er, „aber besser kann ich’s nicht ausdrücken. Ich glaube daran, dass es etwas gibt, das größer ist als wir. Ich liebe es, ich bin dankbar dafür – aber wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten bin ich nicht in der Lage, es genauer zu definieren. Und ich bin froh, dass ich es nicht definieren kann. Ich greife mir aus allen Religionen etwas heraus – ich mag viele Sachen, die die Buddhisten sagen, vieles, was Jesus, vieles, was Mohammed sagte.“

Aber er ist davon überzeugt, dass es am Ende nur eine Botschaft gibt. Und die verkündet er mit dem Ernst, zu dem wohl nur ein waschechter Liverpooler fähig ist: „Be cool and you’ll be all right“, sagt er. „That’s Rock’n’Roll religion.“

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