Paul Thomas Anderson: Der Chronist des amerikanischen 20. Jahrhunderts

Er ist einer der bedeutendsten amerikanischen Filmemacher seiner Generation, „Magnolia“ oder „There Will Be Blood“ sind moderne Klassiker. Nun hat er mit „Inherent Vice“ einen irrwitzigen Roman von Thomas Pynchon, dem großen Unsichtbaren der amerikanischen Literatur, auf die Leinwand gebracht. Paul Thomas Anderson im Porträt.

Viele amerikanische Filmemacher haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Wes Anderson etwa, Alexander Payne, David Fincher, Todd Haynes und Darren Aronofsky. Paul Thomas Anderson ist dabei der beständigste und gewichtigste. Seit seinem Debütfilm „Hard Eight“ aus dem Jahr 1996 hat sich der damals als Wunderkind geltende Bildstürmer zur Institution des amerikanischen Autorenkinos entwickelt. Er vereint die Grandezza klassischer Hollywoodfilme mit den formalen Innovationen des europäischen Autorenkinos, die von ihm erschaffenen Figuren erneuern den rebellischen Gestus der großen Method Actors, von Marlon Brando in „On The Waterfront“ bis Robert De Niro in „Raging Bull“. Mit famosen Schauspieler-Ensembles, einem lexikalischen Wissen über internationale Filmgeschichte und einer mal bildgewaltigen, mal minimalistischen Inszenierung, sind Werke wie „Boogie Nights“, „Magnolia“ oder „There Will Be Blood“ bereits heute moderne Klassiker.

Sein neuer, am 12.02. in die deutschen Kinos kommender Film „Inherent Vice“ ist natürlich wieder ein Ereignis. Zum ersten Mal hat jemand einen Roman von Thomas Pynchon, dem großen Phantom der amerikanischen Literatur, verfilmt. Dessen postmoderne Zitatorgien, wie z.B. „Gravity’s Rainbow“ oder „Vineland“ spannen den Referenzbogen von den Beach Boys über James Joyce bis hin zur Quantenphysik und galten stets als unverfilmbar; nun aber hat der Autor sogar mit dem Filmemacher kooperiert. „Inherent Vice“ spielt im Los Angeles des Jahres 1970 (Andersons Geburtsjahr). Jenem Moment also, da sich die Hippieträume der Sechziger in den großen Rauchwolken auflösen, welche Joaquin Phoenix den ganzen Film über produziert. Phoenix spielt Doc Sportello, einen unbeholfenen und dauerbekifften Privatdetektiv, der von seiner Ex-Freundin den Auftrag erhält, ihren neuen Lover vor der geplanten Entführung durch seine Frau zu beschützen. Sportello willigt ein und beginnt eine immer absurder werdende Odyssee durch ein Los Angeles, das bevölkert ist von Bikern, reaktionären Cops, neureichen Immobilienhaien, Neonazis, afroamerikanischen Bruderschaften und New-Age-Tempeln, wie es so im Kino noch nicht zu sehen war.

„Inherent Vice“ evoziert die getrübte Stimmung dieser Übergangsjahre auf grandiose Art. Die etwas verwaschenen Farben kreieren Bilder wie von einer alten Postkarte, der von Johnny Greenwood komponierte und um Songs von Neil Young und Can erweiterte Soundtrack untermalt das Ganze dezent. Anderson kreiert eine seltsam schöne Atmosphäre, die sich weder im faden Retrolook erschöpft, wie das in „American Hustle“ der Fall war, noch auf kühle Distanz zu den gezeigten Klischees vom kalifornischen Hippietraum geht. Die Figuren wähnen sich dabei in einer sorglosen Welt. Erste Hinweise auf die bevorstehende Gentrifizierung der Städte und auf das Erstarken der politisch reaktionären Kräfte, die im Kontrast zur Ziellosigkeit und Selbstbezogenheit der Hippies wirken, zeichnen sich bereits deutlich ab. Pynchons ausufernde Zitat-Ästhetik trifft Anderson mit seinem Film zwar nicht, die genial ineinander verschachtelten Erzählungsstränge der Vorlage aber geraten auch im Film zu einer wunderbaren Verwirrstimmung. Das bestens eingespielte Ensemble von Joanna Newsom über Josh Brolin, Katherine Waterston und Resse Witherspoon bis hin zu Benicio Del Toro läuft zu aberwitziger Form auf.

Ein Wunderkind aus dem San Fernando Valley

Paul Thomas Anderson wurde 1970 in Kalifornien geboren und wuchs mit seinen Eltern und neun Geschwistern im San Fernando Valley auf, dem Hollywood der amerikanischen Pornoindustrie. Von einer frühkindlichen Begeisterung für das Medium Film kündet Anderson in diversen Interviews; sein Vater war Schauspieler und ermutigte seinen Sohn schon früh, die Kamera in die Hand zu nehmen. Anderson schrieb sich Anfang der Neunziger als Student am Emerson College in Boston, Massachusetts ein um dort Englisch zu studieren. Hier traf er auf David Foster Wallace, der zu dieser Zeit gerade als Dozent dort angestellt war. Von dieser flüchtigen und doch prägenden Begegnung sprach Anderson jüngst in einem Interview; er habe Wallace als sehr zuvorkommenden und inspirierenden Menschen kennengelernt, jedoch keinen dauerhaften Kontakt mit dem Schriftsteller gepflegt. Nach dem Abbruch des Studiums schrieb er sich für kurze Zeit im renommierten Filmprogramm der NYU ein, brach aber auch jenes nach kurzer Zeit wieder ab – Grund: eine Meinungsverschiedenheit zwischen einem Dozenten und ihm selbst bezüglich „Terminator 2: Judgement Day“.

Durch diverse Kurzfilme, mit denen er Anfang der Neunziger beim Sundance Film Festival – der wichtigsten Institution des amerikanischen Independentkinos – für Aufmerksamkeit sorgte, konnte er sich die Finanzierung für seinen ersten regulären Spielfilm „Hard Eight“ (1996) sichern.  Die Geschichte über einen jungen Drifter (John C. Reilly) und dessen Zufallsbekanntschaft mit einem älteren Glücksspieler (Philip Baker Hall), die diverse persönliche Verzweigungen und Wunden offenlegt und sich schließlich zu einem Erpressungsplot steigert, ist wie eine unaufgeregte Studie über die Träume und Selbsttäuschungen der amerikanischen Unterhaltungs- und Spielindustrie – ein wiederkehrendes Thema in vielen Anderson Filmen. In seiner atmosphärisch dichten Bildsprache erinnert „Hard Eight“ sowohl an die dunklen Film Noirs als auch an Louis Malles Inszenierung von vergangenem Glanz in „Atlantic City“.

Obwohl vieles von dem, was Andersons spätere Arbeiten zu Meisterwerken werden ließ, in „Hard Eight“ bereits als Versprechen angedeutet ist, bleibt der Film als Ganzes noch ein wenig fade.  Nur ein Jahr später legte der Regisseur mit „Boogie Nights“ allerdings sein erstes großes Werk vor und überraschte Kritik und Publikum mit seiner ungeheuren Entwicklungsgeschwindigkeit: Das süffige Werk um den jungen Eddie (Mark Wahlberg) der Ende der Siebziger unter dem Pseudonym Dirk Diggler zum Star der Pornoindustrie aufsteigt, ist eine rauschhafte Feier des Kinos. Sie verbindet die dynamischen Atmosphären eines Martin Scorsese mit dem Ensemble-Stil von Robert Altman und der satten, ikonoklastischen Inszenierung von Nicholas Ray. Über die Anerkennung von Cineasten hinaus brachte der Film Anderson auch seine erste Oscar-Nominierung in der Kategorie Originaldrehbuch.

„Magnolia“ (1999) ist in Sachen Länge, Komplexität und Willen zum Pathos der vorläufige Zenit im Schaffen von Paul Thomas Anderson. Formell an Robert Altmans große episodische Gesellschaftsportraits „Nashville“ und „Short Cuts“ angelehnt, verdichten sich die neun ineinander verzweigten Geschichten um das Leben in Los Angeles zum Porträt einer im esoterischen Wahn gefangenen Gesellschaft, die sich zwischen New-Age-Kulten, Selbsthass und Geldgier selbst auflöst. „Magnolia“ ist einer der cineastischen Höhepunkte der 90er; nicht zuletzt deshalb, weil Andersons Werk bei aller Schonungslosigkeit den Gefallenen in der Stadt der Engel ihre Würde lässt und sie als vielschichtige Figuren, nicht als schablonenhafte Symbole, inszeniert. 

Nach dieser aufwendigen Klimax folgt mit „Punch-Drunk Love“ (2002) Andersons luftigster und kürzester Film. Der romantische Plot um dem chronisch einsamen Barry (Adam Sandler) und die schüchterne Lena (Emily Watson) ist hier das Sprungbrett für eine komödiantische Verhandlung dysfunktionaler Familienstrukturen und großstädtischer Entfremdung – beides zentrale Elemente in Andersons Filmen – und überlässt dabei Sandler und Watson die Bühne für berührende Auftritte. Der Film wird zwar zu Unrecht oft als Fingerübung abgetan oder übersehen, bereitet einen aber auch nicht auf das vor, was danach kam.

„There Will Be Blood“ (2007) und „The Master“ (2012), für die Radiohead-Gitarrist Johnny Greenwood zwei abstrakte Scores beigesteuert hat, markieren eine Wende im Werk von Paul Thomas Anderson. Der barockhafte Überschwang von „Boogie Nights“ und „Magnolia“ ist hier einer in Entschlossenheit und Formstrenge konzisen, an Stanley Kubrick erinnernden Bildsprache gewichen. Anderson sucht monumentale und doch karge Bilder für seine Verhandlung der Säulen amerikanischer Identität: Kapitalismus und Religion. Der Dualismus aus handwerklich perfekter Ästhetik und dem Kreieren von Freiräumen, in denen Daniel Day Lewis, Joaquin Phoenix und Philip Seymour Hofmann ihr Method Acting an die Schmerzgrenze treiben, macht diese beiden Filme zu den faszinierendsten des noch jungen Jahrtausends.

Der Chronist der USA im 20. Jahrhundert

Betrachtet man das bisherige Werk mit etwas Abstand, so zeigt sich ein roter Faden, der gleichzeitig erklärt, wieso Anderson so einzigartig im zeitgenössischen Autorenkino ist: Er ist der Chronist der USA im 20. Jahrhundert, aus der rückblickenden Perspektive der Gegenwart. Vom Siegeszug, ja Raubzug des Kapitalismus und dem Aufstieg einer industriellen Weltmacht zu Anfang des Jahrhunderts erzählt „There Will Be Blood“; „The Master“ beschäftigt sich mit dem spirituellen Glückversprechen von Scientology, entstanden aus der Sehnsucht nach Fortschritt in einer noch vom zweiten Weltkrieg gebeutelten Nation; „Inherent Vice“ zeigt das Aufeinanderprallen der alten, konservativen Gesellschaftsordnung mit dem Rausch der Counter-Culture in den frühen Siebzigern; in „Boogie Nights“ werden die späten Siebziger als die letzten flüchtigen Momente im Paradies inszeniert, bevor in den Achtzigern Ronald Reagan alle Mühe hatte, seine schonungslose New Economy Politik mit populistischen Slogans und patriotischer Propaganda zu überdecken – und so die desaströsen Folgen seiner Politik für die Bevölkerung jenseits von Big-Business und Wall Street zu rechtfertigen. Wie verzweifelte jagen die Figuren in „Magnolia“ daher einem amerikanischen Traum hinterher, der nach diesem Einschnitt so nicht mehr zu finden ist.

Während Steven Spielberg mit opulenten, pädagogisch aufgeladenen Period Pictures (wie zuletzt „Lincoln“) das historische Bewusstsein der Amerikaner schulen möchte, sind Andersons Filme abstrakte Studien in Tiefenschärfe, deren anhaltende Faszination vor allem daraus erwächst, das sie in ihrer Ergebnisoffenheit so schwer zu fassen sind. Er geht in ihnen zu den Wurzeln der heutigen US-Gesellschaft, tut dies jedoch anhand widersprüchlicher, vielschichtiger, oft sperriger Charaktere. Speziell die späteren Filme lassen sich denn auch vor allem über jene Figuren erschließen: Daniel Day Lewis’ monumentale Darstellung des wahnsinnigen wie rücksichtlosen Ölpioniers Daniel Plainview in „There Will Be Blood“ und ebenso das Duell zwischen Philip Seymour Hoffman als esoterischem Sektenführer und Joaquin Phoenix als von posttraumatischen Störungen geplagtes Energiebündel in „The Master“ gehören in ihrer kompromisslosen Hingabe zum Besten, was in den letzten zehn Jahren im Kino zu sehen war.

Es gibt natürlich greifbare filmhistorische Referenzen, die helfen, Andersons Filme in einen lesbaren Rahmen zu stellen – was natürlich nicht heißt, dass sie nicht schon aus eigenem Recht wie Monolithen in der zeitgenössischen Kinolandschaft stehen. Aber das Echo von Robert Altman ist omnipräsent, genauso wie die explosive Energie von Martin Scorsese, die langen Einstellungen von Max Ophüls, die Tiefeninszenierung von Orson Welles, der kühle Blick von Stanley Kubrick, die undurchsichtigen Drifterfiguren von Bob Rafelson. Ein großer Cineast und Bewahrer ist Anderson ohnehin: Seine Entscheidung, „The Master“ auf extrem umständlichem und für kommerzielle Vorführungen irrelevantem 70mm-Filmmaterial zu drehen, anstatt wie üblich digital, wurde auch als künstlerische Ermächtigungsgeste gefeiert.

Paul Thomas Anderson ist heute in der Position solche Forderungen stellen zu können, ohne sich ins Abseits zu befördern. Weil er es wie kaum ein anderer Regisseur seiner Generation – vielleicht mit Ausnahme von Quentin Tarantino – geschafft hat, sich als kompromissloser Autorenfilmer innerhalb des Studiosystems in Hollywood zu etablieren. Diese Luxusposition erlaubt ihm komplette kreative Freiheit bei gleichzeitig gesicherter Finanzierung seiner Filme und ist so im Hinblick auf die Endresultate nicht zu unterschätzen. Dass Anderson mit – für Hollywoodverhältnisse – moderaten Budgets arbeitet – sein teuerster Film, „Magnolia“, hatte ein Budget von 37 Mio Dollar – hat ihm zudem geholfen sich eine unabhängige Stellung zu bewahren.

Allerdings hat jene Filmindustrie Anderson bisher ihre prestigeträchtigste Anerkennung verweigert – er wurde für insgesamt vier Oscars nominiert, gewann aber bisher keinen. Dass sich daran mit „Inherent Vice“ etwas ändern wird, darf man bezweifeln. Zwar wurde Anderson erneut für einen Oscar in der Kategorie Drehbuch nominiert – ein Film, welcher sich in solchem narrativen Chaos suhlt, wie „Inherent Vice“ das tut, hat aber in der Regel bei der konservativen Academy wenig Chancen gegen politisch Schwergewichtiges („American Sniper“) oder kitschig-Erbauliches („The Theory of Everything“). Allerdings ist Paul Thomas Anderson ähnlich wie einst Martin Scorsese oder Robert Altmant ohnehin darüber erhaben, sich seinen Status als Filmemacher durch eine Industrie und PR-Auszeichnung bestätigen lassen zu müssen.

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