„Pearl Jam Twenty“: Cameron Crowe im Interview

Regisseur Cameron Crowe sprach mit US-Kollege Simon Vozick-Levinson über die Entstehung des Mammutprojekts "Pearl Jam Twenty" anlässlich des zwanzigsten Jubiläums der Band. Ein Gespräch über die schweren Zeiten der Band, ihren Arbeitswillen und natürlich auch ihre Musik.

Als Cameron Crowe um Weihnachten 2008 damit begann, an „Pearl Jam Twenty“ zu arbeiten, hatte er schon jahrelang darüber nachgedacht, solch eine Dokumentation zu drehen. „Es war eines dieser Projekte, bei dem man gedacht hat: ‚Wenn ich diesen Pearl Jam Film machen sollte, dann würde diese bestimmte Szene wirklich gut werden!‘ Und das bekräftigte mich darin, das Projekt anzugehen“, erzählte der Regisseur dem ROLLING STONE. „Dann wird es plötzliche wahr und du stellst fest: ‚Heilige Scheiße, das sind tausend Stunden an Material, dass ich nun durchsehen muss!'“

Crowe – der mit Pearl Jam befreundet ist, seit er Eddie Vedder, den Bassisten Jeff Ament und den Gitarristen Stone Gossard für den Film „Singles – Gemeinsam Einsam“ (1992) engagiert hatte – hat 12.000 Stunden an archiviertem Filmmaterial für „Pearl Jam Twenty“ durchkämmt. Zusätzlich hat er jedes einzelne Bandmitglied exklusiv für diesen Film interviewt. „Wir sind so persönlich wie möglich geworden“, erklärt er. Die Schlussversion beschäftigt sich außerdem mit Pearl Jams schmerzhaften Phasen als Band: Andrew Woods – der Sänger von Mother Love Bone, Gossards und Aments pre-Pearl-Jam-Band – tödliche Heroin-Überdosis, Pearl Jams desaströse Performance bei der von MTV gesponserten „Singles“-Releaseparty, die öffentlichen Kämpfe der Band mit Ticketmaster und das Roskilde Festival in Dänemark, bei dem im Jahr 2000 neun Fans während ihres Auftritts zu Tode getrampelt wurden.

„Pearl Jam Twenty“ feierte am 10. September auf dem Toronto International Film Festival seine Premiere. Am morgigen 20. September findet dann weltweit die einmalige Kinoaufführung statt – außerdem läuft der Film am 21. Oktober im amerikanischen Fernsehen auf PBS. Die DVD erscheint vier Tage später. „Ganz ehrlich, wir könnten auch weitermachen“, erzählte Crowe. „Ich sehe immer noch Zeug, dass wir in die Dokumentation einbauen könnten. Einiges davon kommt dann auf die DVD. Aber glaub mir, der Gedanke einer Fortsetzung ist mir schon gekommen: ‚Pearl Jam 21‘ ist gar kein schlechter Titel.“

Was war die Geschichte, die du über diese Band erzählen wolltest?

Ich bin sehr fokussiert darauf, den Leuten zu erzählen, dass die Gruppe hauptsächlich wegen dieses schrecklichen Todesfalls von Andrew Wood zusammen kam – so etwas wissen nur die echten Fans. Ich habe Mother Love Bone geliebt. Ich habe mich wirklich darüber gefreut, dass ich einen Mother Love Bone-Song in den ersten Film, bei dem ich jemals Regie geführt habe („Chloe Dancer/Crown of Thorns“ in „Say anything…“ von 1989), einbauen konnte. Und ich habe Andrew auch getroffen und ihn wirklich gemocht. Ich war auf einem dieser Konzerte, wo nur ein paar Leute da waren, aber er hat sie behandelt, als wäre es ein gefülltes Stadion. Dieser Kerl war einfach vollgepackt mit Charisma, und wie viele andere zum Zeitpunkt seines Todes dachte auch ich, dass der Blitz nie ein zweites Mal einschlagen könne. Ich wollte immer die Geschichte erzählen, dass Pearl Jam der Blitz ist, der ein zweites Mal einschlug. Genauso ist Pearl Jam die Kehrseite davon, dass eine große Rockgeschichte in einer Tragödie enden muss. Hier bedeutete die Tragödie einen vielversprechenden Anfang.

Erinnerst du dich daran, wie du zum ersten Mal auf diese Band aufmerksam gemacht wurdest, die wie ein Phoenix aus der Asche entstieg?

Oh ja. Wir drehten gerade „Singles“ oben in Seattle und ich habe Jeff und Stone dafür zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich habe es geliebt, dass sie sich seit ihrer Zeit in L.A. so verändert haben. Damals waren sie Typen, die gesagt haben: „Ich bin Musiker, Mann. Ich lebe vom Geld meiner Freundin.“ In Seattle war das anders. „Wir haben day jobs. Wir machen Espresso. Wir verdienen genug Geld, um uns Platten zu kaufen und abends mit unserer Band zu proben.“ Das hat mir sehr gefallen. Jeff hat ein sehr graphisches Verständnis, also wurde er der Art Director des Films. Und all das überschnitt sich mit dem Übergang von Mother Love Bone zu Mookie Baylock zu Pearl Jam. Es passierte, als wir gerade mitten im Film steckten. Sie tauchten mit Kassetten auf, und da waren Songs mit diesem Typen Eddie Vedder als Sänger drauf.

Als Jeff oder Stone diese Tapes mit Eddies Gesang mitbrachten – hattest du damals schon das Gefühl, dass daraus etwas Großes entstehen könnte?

Nein. Ich hatte eher das Gefühl, das Eddie sehr schüchtern war. Aber er liebte Rock, und er liebte es ein Rockfan zu sein, so wie es die anderen von Pearl Jam auch waren. Man hat gesehen, dass sie zusammen passten. Oft sieht man es einer Gruppe Menschen an – sogar bevor sie tatsächlich zusammen Musik machen – und man weiß einfach, dass sie sich gut verstehen. Nur wenige Tage, nachdem sie zusammen kamen, spielten sie bereits Konzerte. Das war das Gefühl, das man bei Eddie hatte: Er tat das alles nur wegen der Musik. Außerdem liebte er The Who. Er liebte dieses große, emotionale Erlebnis, das davon kommt, wenn man nur für die Musik lebt.

Hattest du weiterhin Kontakt zur Band, als sie schließlich erfolgreich wurde?

Ja, hatte ich. Es gab ein paar Jahre, in denen ich ihnen weniger nah stand, etwa von 2002 bis 2006. Dann habe ich sie im Forum gesehen und war davon überwältigt, dass diese Gruppe Fans, die die Band zur Zeit des Streits mit Ticketmaster entdeckt haben, auf einem ganz anderen Level als all die Anderen war. All die unbekannteren Stücke von den Alben – die von den frühen Fans, die sich dann vielleicht eine Zeit lang von der Band entfernt hatten, geliebt und vermisst wurden – waren episch, ja, Hymnen. Und das Publikum war für jeden einzelnen Song der Band voll da. Da habe ich mich zu Pearl Jams Manager Kelly Curtis gedreht und zu ihm „Heilige Scheiße“ gesagt. Sie haben das geschafft, was Bono früher in Frage gestellt hat: Wie wirst du als Band überleben, wenn du nicht da raus gehst und versuchst die Welt mit den besten Rocksingles zu erobern, die du produzieren kannst? Pearl Jam sind tatsächlich ihren eigenen Weg gegangen und haben ihr eigenes gewaltiges Publikum gefunden, das so loyaler war, als wenn die Band versucht hätte, es mit jedem einzelnen Song zu erobern. Sie waren eher an einer persönlichen, authentischen Erfahrung interessiert. Das war die einzige Phase, in der ich ihnen nicht wirklich nahe stand – und deswegen hat es mich wirklich überrascht, was sie alles geschafft hatten.

Ein Aspekt dieses Films war, das alte Material zu sortieren. Die andere Seite war es, Interviews mit der Band zu führen. Waren sie sehr offen, die Fragen zu beantworten oder musstest du sie dazu bringen?

Gute Frage. Ursprünglich wollten wir einfach nur eine archiv-artige Studie über sie machen – ein geradlinige „Kids Are Alright“-mäßige Sammlung all dessen, was jahrelang unter Verschluss war und nie veröffentlicht wurde. Das haben wir zur Hälfte geschafft. Wir haben tatsächlich solch eine Version des Films auf der DVD; „The Kids Are 20“ heißt sie – es ist der Film, allerdings nur mit Performance-Szenen und sehr wenig Text. Aber nach der Hälfte der Produktion sagten wir uns, „Weißt du, es wäre schon toll, da jetzt reinzugehen und mit den Jungs über das Zeug zu sprechen. Aber lasst uns die Interviews bei ihnen Zuhause führen, wo sie sich am wohlsten fühlen, und ihnen dann kontroverse Fragen stellen. Wir lassen sie den Film einfach kommentieren.“ Und das haben wir dann auch so gemacht.

Wann hast du dich dazu entschlossen, diese Interviews zu führen?

Vor etwa eineinhalb Jahren. Es fühlte sich einfach an, als sei das ein guter Blickwinkel. Ich glaube, dass Eddie einer der ersten war, der mir da zustimmte und sagte: „Jepp, lasst uns das anpacken.“ Also haben wir dieses Interview in seinem Haus gemacht. Er rutscht da an seiner Feuerwehrstange herunter. (Lacht) Sie haben diese Interviews alle sehr ernst genommen, und sie waren auch wirklich lang. Ich wollte mich in alle hineinversetzen können, nicht nur in Eddie.

Schlussendlich habt ihr über sehr emotionale Themen gesprochen, wie Andy Woods Tod oder Roskilde. War es schwer, sie dazu zu bringen über diese Erinnerungen zu sprechen?

Ja, auch ein wenig unangenehm. Mit Eddie hatte ich zum Beispiel seit dem Tag der Veranstaltung nicht über die „Singles“-Party gesprochen. In diesem Moment meinte er dann auch: „Huh, du hast bis jetzt gewartet, um mich darauf anzusprechen?“ Roskilde war schwierig. Zunächst senkte sich eine Art dunkle Wolke über ihn, bevor er darüber sprach. Sie sprachen alle über diese sehr persönlichen Themen. Man muss ihnen zugute halten, dass sie keiner einzigen Frage ausgewichen sind. Und als wir der Band den Film im vergangenen Oktober zum ersten Mal gezeigt hatten, passierte etwas Unglaubliches. Wir waren zu Kelly Curtis‘ Haus gegangen und begannen über alles zu reden. Was in diesem Raum passierte, nachdem sie den Film zum ersten Mal gesehen hatten, war wirklich großartig. Sie sprachen alle aus ihrer eigenen Perspektive über diese ganze Pearl-Jam-Erfahrung. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass der Film die richtigen Knöpfe gedrückt hatte. Diese Typen schauen normalerweise nicht zurück – doch auf einmal waren sie sehr nachdenklich und sprachen über ihre gesamte Geschichte. Ich wünschte, wir hätten das gefilmt.

Das kann ich mir denken.

Ihnen bedeutet das so viel. Ich hoffe, das sieht man in dem Film. Ihre Fans bedeuten ihnen die Welt und die Musik sowieso. Es gab keinen Moment, sogar bei der Produktion des Films, wo einer von ihnen genug hatte und meinte: „Das passt jetzt so, scheiß drauf.“ Ist nie passiert. Sie sind sehr darauf bedacht, was an die Öffentlichkeit kommt und dass es ehrlich und authentisch ist. Sogar wenn es hart für sie wurde, den Film zu anzuschauen, was beispielsweise Jeff in einigen Momenten empfand.

Haben sie dich nach diesem ersten Screening darum gebeten, einige Sachen zu ändern?

Nein. Wenn überhaupt gab es ein paar Punkte, bei denen Eddie uns angeboten hatte, sie etwas mehr auszuleuchten, aber nicht so ausgebreitet wie sie dann werden sollten. Eddie fuhr mit uns vom ersten Screening zu Kellys Haus zurück. Er redete über das Stagediving und sagte: „Ich schau mir dieses ganze Material an und frage mich nur: Was wollte dieser Typ? Was hat er gesucht?“ Und wir bogen in die Einfahrt von Kellys Haus ein, alle anderen waren bereits dort. Wir saßen draußen im Auto. Ich sagte: „Wenn es etwas gibt, was dieser Film noch braucht, dann ist es dieses Gefühl und deine Reflexion, was diese Zeiten bedeutet haben und wie du dich jetzt betrachtest.“ Und wir sind reingegangen und haben noch ein Interview gemacht. Es hat mich wirklich sehr glücklich gemacht. Man hört es in dem Voiceover, er spricht darin über Roskilde und wie es die Band verändert hat. Dann spricht er noch ein bisschen über das Stagediving an sich.

Wie habt ihr die Liveversionen und Raritäten für den Soundtrack ausgewählt?

Pearl Jam sind mit ihren Bootlegs so unglaublich großzügig, dass es schwer war, sich von Live-Shows etwas auszusuchen oder gar zu finden, das man noch nicht gut kennt. Wir versuchten im Endeffekt einfach den Katalog eines jeden Superfans zu erweitern und einem neuen Fan in die Materie einzuführen. Die Soundqualität einiger Liveversionen auf der ersten CD testet die Geduld des Hörers, meiner Meinung nach, etwas.  Aber es ist so etwas wie eine historische Dokumentation, also hat man hier auch einen anderen Anspruch. Ich hab noch einige Songs gefunden, die ich im nachhinein, als die Tracklist bereits fertig war, noch hinzufügen wollte. „Daughter“ zum Beispiel und die Jones-Beach-Aufnahme von „It’s OK“ aus dem Jahr 2000. Ich denke mir also: „Mist! Das sollte da drauf sein sollen!“

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