Reduktion und Verdichtung: Die Amerikaner Morphine provozieren physische Reaktionen

Mark Sandman ist ein „Nachtmensch“. Der erste Recorder und die erste Tasse Kaffee stehen erst mittags vor ihm. Und selbst dann eignet dem Mann mit der dunklen Raspelstimme die verschlafene Eloquenz eines „Tagmenschen“ gegen drei Uhr morgens.

Ohne den Beitrag seiner Mitstreiter Dana Colley (Saxophon) und Billy Conway (Schlagzeug) herabzuwürdigen, darf behauptet werden: Sandman ist Morphine seine Stimme, seine Lieder, sein zweisaitiger Baß, also seine Vision einer Low-FiÄsthetik, die weniger eine Produktionsweise meint als die Affinität zu einem Klangspektrum, das physische Reaktionen provozieren soll.

Entsprechend wird auch am neuen, dritten Morphine-Album „Yes“ scheitern, wer nur Bedeutungsschichten bloßlegen will. Und zum Beispiel fragt, ob ein Song wie „Supersex“ eine Antwort auf die krude Omnipräsenz von Sex sei – darauf, daß (fast) alle davon reden. Aber (fast) keiner wirklich darüber spricht. Mark Sandman nickt. Und verneint., Ja, da ist diese große Lücke. Aber in diesem Song geht es nur um Worte. Ich habe lange nach den richtigen gesucht, die vor allem international plausibel sind. Also mußten ‚Super‘ und ‚Sex‘ dabeisein. Es fing als rein formale Übung an. Doch dann entwickelten die Worte eine Beziehung zueinander.“

Reduktion und Verdichtung als essentielle Stilmittel, immer wieder – auch in „The Jury“, einem unerbittlichen Bewußtseinsstrom, während „Scratch“ und „Free Love“ das Wort Desillusionierung durchbuchstabieren. Sandman: „Wir versuchen, Sentimentalitäten zu vermeiden. Aber in einem Song wie ‚Scratch‘ steckt definitiv noch Hoffnung.“ Und die leidigen Vergleiche mit Tom Waits? „Nicht unbedingt zutreffend, aber ich beschwere mich nicht darüber.

Vielleicht teilen wir eine bestimmte Ästhetik – und sei es nur, daß wir Dinge anders tun, aber dabei trotzdem zugänglich bleiben.“ Bleibt Waits als autobiographischer Angelhaken für eine Kaputtnik-Karriere. Sandman: „Ich kenne diese Stories über ihn nicht. Will sie auch gar nicht kennenlernen.“

„Yes“ wurde als work in progress in Tournee-Pausen eingespielt. „Wenn sich ein Song stark genug anfühlte, sind wir gleich ins Studio gegangen. Songs sterben, wenn man zu lange über sie nachdenkt.“ Da blieb sogar Platz für die nackte Emotion von „Gone For Good“. Versuche, den Song noch einmal mit Band einzuspielen, scheiterten. Einem „sad, fucked up guy“, so Sandmans Selbstbeschreibung, der allein über seiner Gitarre im Hotel-Zimmer brütet, muß man eben nichts mehr hinzufügen.

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