Retro Offensive

Britanniens größte Band der 9Oer Jahre am Scheideweg« Neues Logo, neues Lineup, neuer Lifestyle. Die vordem gefürchteten Gebruder Gallagher geben sich geläutert. Quo vadis, Oasis? Noel bittet auf den Landsitz

Das Anwesen liegt idyllisch, im ländlichen Buckinghamshire, rund 50 Meilen außerhalb von London. Ringsum sattes Grün, Pferde aufKoppeln, kaum Menschen. Noel Gallaghers neueste Anschaffung besteht aus ein paar alten Häusern, die gerade restauriert werden, einem Schuppen und, von außen nicht als solches erkennbar, ein Studio, in das man staunend tritt wie in eine Zeitblase. Ein Relikt aus jenen Tagen, als Bands sich noch progressiv nennen durften, ohne dafür verlacht zu werden. Schon das schimmelige Gemäuer atmet diesen Geist, drinnen muffelt es wie einst. An den Wänden Teppiche und orientalischer Firlefanz, gegenüber den Marshall-Amps eine Batterie von Gitarren, die einen ebenso abgegriffenen Eindruck machen wie dieses ehrwürdige Mischpult Ein audientisch hippieskes Ambiente, das noch vom vorigen Eigner kündet: Alvin Lee.

Es braucht nicht viel Phantasie, sich den rasenden Dudler von Ten ears After inmitten der mittlerweile angesyphten Sarongs, Bastmatten und BlechBuddhas vorzustellen. Underground, Mann. Beeindruckend immerhin die zahlreichen Original-Poster überall im Haus, von der Küche unten bis zum Bad im Obergeschoss. Klassische Konzertplakate, oft geziert natürlich von Lees semilegendärer Bluesrock-Combo. Dazwischen bunt ornamentierte Werbung für Gigs, denen man liebend gern beigewohnt hätte. The Charlatans 1969 im Fillmore, The Byrds 1970 im Whiskey A-Go-Go.

Die Sinnfalligkeit der Umgebung wird freilich in ihrer ganzen Tragweite erst deutlich, als ein Tape des eben fertiggestellten Oasis-Albums abgefahren wird. 30 years öfter, sozusagen. Denn in die beadeske Melodieseligkeit mischen sich unerwartete Klang-Signaturen. Led-Zep-Donner und floydianische Elegie. Oasis sind nicht in den Sixties stehen geblieben, die Entwicklung ist unverkennbar. Die Devise heißt: Vorwärts in die Siebziger.

Auf derlei Sarkasmus würde Noel Gallagher schon unter normalen Umständen gereizt reagieren. Heute aber ist nichts wie sonst im Oasis-Camp, alles ist in Aufruhr. Vor ein paar Tagen ließ Alan McGee eine Bombe platzen, als er seinen Abschied von CreaOon Records bekannt gab. Am 3. Dezember sollen Oasis erstmals in neuer Besetzung auftreten, in Philadelphia. Und dann in Chicago und Detroit, anlässlich von Benefizveranstaltungen lokaler Radiosender. Der Schock über Mc-Gees Label-Exitus sitzt Gallagher spürbar in den Knochen, die bevorstehenden drei Prestige-Gigs tragen auch nicht eben zur Entspannung bei.

Es ist Ende November ’99 und noch ist nicht raus, ob und wie sich Gern Archer und Andy Bell auf der Bühne bewähren werden. Und jetzt ist auch noch Liam verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Am Morgen waren ein paar Boulevard-Blätter bereits mit frei erfundenen Meldungen und wilden Spekulationen an die Kioske geprescht Es habe einen Riesenkrach gegeben, Liam sei bei einer Sauftour abgestürzt, seine Frau Patsy weine sich die Augen aus. Die britischen Tabloids übertrumpften sich gegenseitig mit Horrorszenarios, von denen das harmloseste war, Oasis hätten sich endgültig aufgelöst und Liam habe mit unbekanntem Ziel das Land verlasIllustration: Mark Rydcn

Wahr ist, dass momentan keiner weiß, wo sich Gallagher der Jüngere seit vorgestern herumtreibt. Wahr ist auch, dass bei Gallagher dem Alteren die Nerven auch darob blank liegen. Die Begrüßung ist eher brüsk. „Du hast zugenommen“, bafft er missbilligend. Und unterbricht unser Gespräch, wann immer ein Telefon klingelt Es könnte ja eine Nachricht von Liam sein. Meistens sind es indes Anrufer, die einen Termin mit dem Oasis-Vokalisten haben und wissen wollen, wo der Mann denn bleibe, den sein aufgebrachter großer Bruder heute wahlweise „the cunt“ oder „the fucker“ nennt.

Noel, wer hätte das gedacht, pflegt seit Monaten bereits, was er als eine persönliche Errungenschaft sieht: „My new lifestyle.“ Keine Drogen, no ägarettes andalcohol, überhaupt keine ungesunden, hirnaufweichenden Exzesse mehr. Seine Frau Meg ist schwanger, Noel bereitet sich gewissenhaft auf die Vaterrolle vor. „Ich bin da ganz rigide“, sagt er nicht ohne Stolz, „wenn ich mir etwas vorgenommen habe, ziehe ich es für gewöhnlich auch durch.“ Und die wichtigste Erkenntnis, die er gewonnen habe, seit er sich intensiv mit seiner künftigen Aufgabe als Daddy auseinander setzt? „Ganz einfach: Du bist Vorbild, ob es dir gefallt oder nicht. Also musst du dich vorbildlich verhalten.“

Die Mutmaßung, seine Frau stecke hinter all dieser Vernunft, weist Noel entrüstet von sich. JFuck, no. Es ist eher andersherum. Meine Frau war in manchen Dingen schlimmer als ich, aber wir kamen beide zu dem Schluss, dass zum Kinderkriegen ein gewisser Verzicht gehört. Wenn man schon nicht in der Lage ist, ein paar Gewohnheiten aufzugeben, dann sollte man keine Verantwortung für Kinder übernehmen. Es wäre ihnen gegenüber einfach nicht fair.“

Im Übrigen lege er Wert auf die Feststellung, dass es für ihn sowieso an der Zeit gewesen sei, einige Weichen neu zu stellen, unabhängig von Elternpflichten. „Beim Blick in den Spiegel ist mir irgendwann klargeworden, dass mich das, was ich sehen musste, immer mehr ankotzte. I used to see a whacked-out, washed-up rock star who had done his fair share of living. And probably everbody eise’s fair share as well. Ich lernte es zu hassen, mein Spiegelbild.“

Auch Liam, so beteuert dieser in einem so ausführlichen wie offenherzigen Interview im „Q“-Magazin, hat das Licht gesehen und dem ausschweifenden Leben abgeschworen. Schon das Cover-Photo hat etwas Bekenntnishaftes. Liam mit Lipgloss, die Strähnen fein säuberlich in die Stirn drapiert, der Blick nicht wie früher fordernd oder herausfordernd, sondern ohne Arg, fast demutsvoll. „Voice Of The ’90s“ steht darunter, schlicht und stimmig. Was der beste Sänger der Dekade allerdings auf den Innenseiten selbstdarstellend zum Besten gibt, schlägt den Weichzeichner-Titel um Längen. Am Ende der Universalbeichte steigt aus der Asche des Rowdys von ehedem ein geläuterter Softy, sensibel und verletzlich, tolerant und bescheiden. Besäufnisse? Das letzte Mal, als Manchester City bei den Play-offs verlor. Das ist eine Ewigkeit her. Seit Liam Vater ist, so seine weisen Worte, zählten nur noch höhere Werte. Und dieses drogenfreie Leben sei nicht nur richtig, sondern mache sogar mehr Spaß: „I’m sort of getting in the groove of this happiness.“

Noel lacht gallig. „Ich habe das auch gelesen, und ich zweifle nicht daran, dass er es genau so meinte, als er es sagte. Aber ich kenne ihn so nicht, ich sehe keine drastischen Veränderungen in seinem Benehmen oder in Alltagsfragen. Dieser Typ im Interview, ich würde ihn gerne kennen lernen, ich hatte noch nicht das Vergnügen. Was ich glaube, ist, dass Liam so sein will, wie er sich da präsentiert, aber die Realität sieht ganz anders aus. He slips back into his old ways, more often than not. Das stellt eine ungeheure Belastung für ihn dar, eine Belastung, der er nicht gewachsen ist, fürchte ich. Jedenfalls noch nicht Gestern hat er sich vielleicht am Riemen gerissen, morgen oder übermorgen hängt er wieder durch. Und heute? Fuck, niemand weiß, wo und mit wem er sich wieder herumtreibt.“

Am nächsten Tag ist Liam wieder da. Über sein „verlorenes Wochenende“ wird ein Statement herausgegeben, in dem sich der Rockstar reumütig dafür entschuldigt, seiner Familie, seinen Freunden und seinen Fans Grund zu Sorge gegeben zu haben. Als Ursache für sein Verschwinden gibt Liam an, unter Schock gestanden zu haben. Alan McGees Entscheidung, Creation zu verlassen, habe ihn buchstäblich aus der Bahn geworfen. Und, wie zur Bekräftigung: „I hate McGee for what he’s done to us.“

Der Verlust von Paul „Bonehead“ Arthurs und Paul „Guigsy“ McGuigan sei kaum verwunden gewesen, da habe McGee Oasis den Boden unter den Füßen weggezogen. Und das, nachdem er allein mit „Moming Glory“ 50 Millionen Pfund verdient habe. Ein paar Wochen später waren „die Missverständnisse ausgeräumt“, wie McGees Büro verlautbaren ließ, und das Verhältnis zwischen den zerstrittenen Parteien wieder „sweet“. Boneheads und Guigsys finales Farewell ans Rock’n‘ Roll-Life mit Oasis hinterließ auch bei Noel Gallagher tiefere Wunden, als er zugeben möchte.

Die offiziellen Einlassungen zu diesem Thema im Sommer ’99, etwa bei den beiden eigens zu diesem Zweck einberufenen Pressekonferenzen, waren eher schnippisch bis sarkastisch. „It’s hardly Paul McCartney leaving the Beatles“, höhnte Noel vor laufenden Kameras, nachdem McGuigan Boneheads Beispiel gefolgt war und Oasis seine Gefolgschaft aufgekündigt hatte. Die Frage, ob er mit solchen flotten Sprüchen möglicherweise nur seine Unsicherheit habe verbergen wollen, erweist sich zunächst als Stimmungstöter. Noels Miene verfinstert sich. Nein, raunzt er – wenn er etwas sage, dann meine er das auch genau so.

Erst eine Weile später, wir reden bereits über das neue Album „Standing On The Shoulder OfGiants“, bricht es aus ihm heraus: „Ich hatte überhaupt keine Ahnung, mir haben sich die beiden nicht anvertraut Ich konnte es lange überhaupt nicht begreifen. Wir hatten immerhin gerade gemeinsam eine neue LP fertig gestellt, nicht in eitler Harmonie zwar, aber auch nicht mit gravierenden Meinungsverschiedenheiten oder sonstigen Dissonanzen. Ich meine, es hat im Studio immer Spannungen gegeben, seit es Oasis gibt. Während der Aufnahmen zu „Morning Glory“ geriet ja manches außer Kontrolle, aber diesmal liefen die Sessions für unsere Verhältnisse richtig entspannt ab. Und kaum hatten wir die Platte im Kasten, schmeißen die alles hin. Ohne ersichtlichen Grund, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, mir das zu erklären.“

Noel rennt zum Telefon. Als er zurückkommt, hat er wieder den alten Trotz in der Stimme. Inzwischen sei er froh, behauptet er, dass Bonehead und Guigsy nicht mehr dabei sind. „We’re

still mates and that“, lächelt er maliziös, „but Gem and Andy are much better musicians, anyway.“ Gem Archer, früher bei Heavy Stereo, eine Glam-Pop-Band, für die Noel immer viel übrig hatte, obwohl er ihre Produktion „shite“ fand, hat Boneheads Rolle übernommen. „Wir haben noch nicht viel geübt, aber er spielt jetzt schon toll mit und bringt eigene Ideen ein. Wenn er so weitermacht, kann ich die meisten Soli bald ihm überlassen. Mit Gem und uns ist es wie seinerzeit mit Ronnie Wood und den Stones. Er passt zur Band wie ein Handschuh und seine jungenhafte Unbekümmertheit und seine Fähigkeit, uns zum Lachen zu bringen, tun ausgesprochen gut.“

Andy Bell andererseits, die Last-Minute-Verpflichtung, zuvor bei Ride und Hurricane # 1 und zuletzt auf dem Sprung zu Gay Dad, habe selbst schon ein paar Erfahrungen hinter sich und sei nicht mehr so naiv wie Gem. Aber auch er passe bestens zu Oasis. „Andy ist ein brillanter Musiker. Die Umstellung von Gitarre auf Bass macht ihm keinerlei Probleme. Wir sind jetzt auf allen Positionen optimal besetzt. Und dadurch, dass Gem und Andy auch Songs schreiben können, eröffnen sich für die fernere Zukunft ungeahnte Perspektiven. Zuerst müssen sie sich aber erst mal live bewähren. Wenn alles klappt, wie ich mir das vorstelle, werden wir sie nach der Tour im Herbst als ordentliche Bandmitglieder an Bord nehmen. Bis dahin stehen sie bei uns auf der Lohnliste. Dabei fahren sie nicht schlecht. Bis jetzt haben sie sich jedenfalls nicht beklagt“ Noel grinst spöttisch. „Wäre ja auch noch schöner.“

Alles neu also bei Oasis: Line-up, Lifestyle und-. Logo. „Ich wollte sicherstellen, dass dieser Gedanke des Durchstartens sofort und überall ankommt. Dafür haben wir auch das Design generalüberholt“ Noel selbst hat den neuen Schriftzug entworfen, der die nächste Generation T-Shirts schmücken wird. Rund, fett und mit einem Mittelbalken versehen, der das Emblem memorabel macht Fusionierte auf dem alten Band-Logo Neunziger-Typografie mit der Sachlichkeit des Sixties-Decca-Quaders, ist Noels pneumatische Neuschöpfung rein Seventies-inspiriert Abba, Sweet, David Essex, Deep fuckin‘ Purple. „Blödsinn“, quittiert Noel gekränkt diese Assoziation, „ich habe lediglich nach einer grafischen Entsprechung dafür gesucht, wie wir uns gegenwärtig fühlen und wie unsere Musik klingt Und ich glaube schon, dass das passt.“

Hier in Wheeler End wurde letzte Hand angelegt an das neue Album. Davor war es bereits durch die Londoner Olympic Studios geschleust worden und durch Noels Heimstudio Supernova Heights. In England erst wurde im Mix der Sound definiert, doch waren die Aufnahmen in Frankreich entstanden. Lange Wochen bosselte die Band – noch in der alten Besetzung an den Tracks, nur um nach dem Weggang von Arthurs und McGuigan vor einem Scherbenhaufen zu stehen. „Eine Zeit lang fühlte ich mich elend“, gesteht Gallagher, „bis mir dämmerte, daß in diesem Dilemma auch eine Chance steckte. So aufwendig es auch anfangs schien, so befriedigend war es schließlich. Entscheidend ist nur das Resultat, und mit dem sind wir sehr glücklich.“

„Standtng On The Shoulder Of Giants“, benannt nach einem Zitat von Isaac Newton, das Noel auf dem Seitenrand der 2-Pfund-Sterling-Münze entdeckte und falsch abschrieb (die Schultern im Singular), ist ein für Oasis-Standards ausgesprochen Groovelastiges Album. Nicht groovy indes, sondern heavy, trippy, out-of-spacy. „Es wird unser JExik On Main Street‘ werden“, hatte Noel seinerzeit geflachst, bevor Oasis für diverse Monate im französischen Exil verschwanden. Im Sommer ließ sich dann Liam zu einem Statement verleiten. Was sie bisher aufgenommen hätten, so teilte der Sänger ungläubigen Reportern mit, klinge stark nach „The Dark Side Of The Moon „Ein Unterschied ums Ganze, aber Liam sah das entschieden anders. „Great music is great music“, verfugte er, „und damit bin ich aufgewachsen: The Beatles and the Stones and theFloyd.“

Ganz am Ende der neuen LP verdichtet sich dieses Bekenntnis zu einer kongenialen musikalischen Melange. „Roll It Over“ heißt das fulminante Finale, das erst langsam und nicht ohne Lethargo in die Gänge kommt, zu Bekenntnissen wie „I can give a hundred million reasons to build a barricade“ und Klagen über „plastic people who live without a care“, bevor es sich in einem mehrminütigen, bombastelnden Outro entlädt. Und in diese psychedelisch gospelnde Inbrunst hinein fallt eine Gitarre, die vom Ton wie von der Melodie her eigentlich nur von einem stammen kann: Dave Gilmour. Straight outta „Meddle“, Mister. Ein Sample oder Gevatter Gilmour höchstpersönlich?

„Weder noch“, kichert Noel, „und wenn ich ehrlich bin, ist mir diese Ähnlichkeit auch erst später aufgefallen. But it’s top, innit? Ich hatte oben in meinem Loft für das Demo davon schon ein Solo im Kopf, das eng an ,Come Together‘ angelehnt war. Irgendwie klang es aber nicht passend, not Special enough for this tune. Ich habe dann den Engineer gefragt, der ganz nebenbei auch ein vorzüglicher Gitarrist ist, ob er eine Idee habe. Er spielte diesen Part, und ich sagte: perfekt. Ihn auswendig zu lernen, war nicht schwer, aber als wir in Frankreich ein paar Monate später diese Spur aufnehmen wollten, bekamen wir einfach den Sound nicht mehr hin. Deshalb haben wir das Demo-Solo eingebaut So it’s not actually me playing but this triencl of mine. Er ist wirklich klasse. Wir haben ihn damals sogar gefragt, ob er bei Oasis einsteigen wolle, aber er sagte neb.“

Im Vorfeld war viel darüber spekuliert worden, welche der vielen Drohungen ernst zu nehmen seien, die von den Gallagher Brothers in der Presse lanciert wurden, und wieviel davon drauflos schwadroniert sei. So ähnlich wie die Chemical Brothers werde die neue Oasis-Musik klingen, mit Dance-Beats und allem Elektro-Gedöns, hatte Noel einmal die Reaktion der Medien getestet. Die Verpflichtung von Spike Stent, der für den Sound der Spiee Girls mitverantwortlich zeichnete, aber auch mit Massive Attack gearbeitet hatte, schien dafür ein Beleg zu sein. Am Ende ist dann freilich doch ein Rock-Album herausgekommen, ein mal prügelhartes, mal samtweiches, stets jedoch rhythmisch pulsierendes Tradmonster. Und in mehr als einer Hinsicht die logische Fortsetzung von JeHwNw‘.

Am letzten Oasis-Album hatten sich die Geister geschieden. Die Verdikte reichten von groß bis größenwahnsinnig. Acht Millionen Menschen immerhin wollten das Album haben, halb so viele wie den Vorgänger ,JWoming Glory“. War Letzteres eine Bonbonniere voll süßesten Naschwerks aus dem rosa Zuckerwatte-Reich der seligen Pilzköpfe, wirkte J^ow“ trotz einiger eher lieblicher Songs wie ein monolithischer Block. Die Produktion kannte kein Maß, eine Klangschicht wurde auf die andere gekantet, selbst Phil Spector hätte es mit der Angst zu tun bekommen. Geschmäcklerisch wurde solange gekratzt und gekrittelt an dieser monumentalen Klangwand, dass Noel Gallagher irgendwann selbst einräumte, „Be Here Now“ sei missglückt Der so zitierte zeigt sich entsetzt „I never said that“, behauptet Noel, „das ist alles von den üblichen Verdächtigen verfälscht und dann hochgekocht worden. I like ,Be Here Now‘. Es ist nicht unbedingt mein Lieblingsalbum, aber es bietet eine Menge. Und manche musikalische Wohltat erschließt sich erst, wenn man mit der Platte eine Weile gelebt hat Meine Kritik richtete sich nur gegen zwei Details, die mich im Nachhinein ärgerten. Erstens die Produktion, die buchstäblich Koks-verrückt war. Wir konnten einfach nicht aufhören, haben eine Spur auf die andere getürmt. Im Ergebnis haben wir damit eine Dichte erreicht die viel Sinn macht, so aber nie intendiert war. Weit mehr stören mich allerdings die Texte. Sechstklasslerquark, zumindest einiges. Ich hätte mir mehr Zeit dafür nehmen sollen, aber was soll’s. bu live and learn.“

Der Opener von “ Giants “ ist ein gigantisches Nichts titeis JFuckin‘ In The Bushes“, ein Instrumental-Track aus klobigen, zeppelinischen Riffs, schwer dröhnenden Grooves aus Loops und Pauken sowie gesampelten Stimmen: „Kids running around naked and fucking in the bushes.“ Die Art von Aufnahme, die bei zufälligen Jams anfällt und ihren Weg zielsicher auf die Rückseite der dritten Single findet „Stimmt genau“, nickt Noel mein harsches Urteil ab, „it started like a little joke. Als es dann fertig war, überlegten wir, was damit anzufangen sei. Die Sache mit der B-Seite drängte sich auf, aber dann sagte jemand, es sei von allen Cuts der extremste und untypischste. Was mich dazu brachte, das Ding an die denkbar prominenteste Stelle zu platzieren, ab Album-Opener. It’ssuchanon-Oasis Start Es wird sicher bestimmte Leute abschrecken. Viele werden sich nach dieser Eröffnungsnummer gar nicht mehr anhören wollen, was danach kommt Aber das ist gut so. Ich will eh nicht dass solche Banausen u nsere Platten kaufen.“

„Go Let It Out“

ist die Antithese, berechenbar bis ins Mark aus Mellotron und Marshmellow-Lyrik. „Life is precocious in the

most peculiar way“, singt Liam. Der folgende Refrain soll, so die „Enthüllung“ einer britischen Tageszeitung, ein Plagiat sein. Noel macht eine wegwerfende Handbewegung. „Kann sein, dass ich hier und da ein paar Worte aufgeschnappt habe, aber ich würde nie für mich in Anspruch nehmen, Dichter zu sein. Texte zu schreiben fiel mir noch nie leicht.“ Dasselbe ließ sich lange Zeit über Noels Fähigkeiten als Sänger sagen. Ob er bei „The Masterplan“ mit den hohen Noten kämpfte oder bei „Don’t Look Back In Anger“ haarscharf den richtigen Ton verfehlte, tat zwar nichts zur Sache und trug gewiss nicht wesentlich zur Beeinträchtigung des überaus formidablen Materials bei, ließ aber nur einen Schluss zu: Noel ist als Vokalist allenfalls passabel.

Eine Erkenntnis, der Noel eifrig nickend beipflichtet, die aber nun relativiert werden muß. Denn so überzeugend wie auf „Where Did It All Go Wrong?“ und „Sunday Morning Call“ hat Gallagher Senior noch nie gesungen. Bei „Call“, einer sehr persönlichen Botschaft an einen Freund auf Abwegen, intoniert Noel zu Buffalo Springfield-Vibes beinahe zart und erst gehin viel effektiver und ausdrucksvoller ist, wenn man mal mehr flüstert oder die Lautstärke anders variiert. Mein technisches Verständnis diesbezüglich ist besser geworden, doch hätte mir dieser Fortschritt früher nichts genutzt Einem malträtierten Körper kannst du nun mal keinen Wohlklang entlocken.“ Liams Raspeln hat an Rotzigkeit verloren. Die bei Johnny Rotten abgekupferte Zerdehnung der Vokale wird weitaus seltener und dramaturgisch klüger eingesetzt, die John-Lennon-Flexionen sind als solche nicht mehr auszumachen. Liam Gallagher hat sie soweit vereinnahmt, dass sie ihren Second-Hand-Charakter längst verloren haben und zum Oasis-Star gehören wie sein patentierter Watschelgang. Eine Premiere immerhin ist, dass der jüngere Gallagher nun auch unter die Songwriter gegangen ist. „Little James“ ist ein rührendes, ja rührseliges Lullaby. Adressat ist Patsy Kensits Sohn aus ihrer Verbindung mit Jim Kerr, den Liam abgöttisch liebt und dem er ein vorbildlicher Vater ist, wie Patsy berichtet. Der Song selbst ist so süß, dass er hartgesottene Zyniker auf eine schwere Probe stellt gen Ende mit einem Ausdruck von Ärger in der Stimme. Und mit beachtlichem Volumen. „Wrong“ dagegen hat weniger Dynamik, Noel pendelt nicht zwischen Wispern und Wut, singt die hymnische Melodie aber getragen und sicher. „Das liegt nur daran, dass ich nicht mehr jeden Scheiß in mich hineinstopfe. Früher habe ich einen Hustenanfall bekommen, wenn ich nur tief Luft holte, heute habe ich mehr Kraft in der Kehle. Das macht mich noch nicht zu einem begnadeten Sänger, aber das bisschen Register, über das ich nun verfüge, setze ich immer besser ein. Wenn ich mir meine Vocals aus den vergangenen Jahren anhöre, dann fällt zunächst auf, dass ich sehr statisch singe, jeden Ton mit gleicher Anstrengung angehe. Inzwischen ist mir klar geworden, dass das unnötig Energie verschleißt und dass es ohne“Thank you for your smüe/ bu make it all worthwhile“, reimt der raue Kerl von Manchesters Unterseite, und: „Tm singing this for you and your mum and that’s all/ It won’t be long before everyone is gone.“ Die Musik, erst akustisch und anmutig, wächst sich, nachdem das Schlagzeug eingesetzt hat, leider zu einer jener Beatles-Arien aus, von denen Oasis schon mehr als genug im Repertoire haben. Mit Macca nachempfundenen Sacharin-Chören („aaaaaaahhh!“) und „Hey Jude“-Fadeout („Nanananananaaa…“). Ein Arrangement zwischen Naivität und OverkilL Liam wollte es so, sagt Noel.

Die Beatles sind eh omnipräsent, wenn auch oft nur mit kleinen Melodiefetzen oder instrumentalen Mini-Zitaten. Bei „Who Feels Love“ ist es „Lucy In The Sky With Diamonds“, das durch ein Sound-Gestrüpp aus Sitars und Glockenspiel dringt, während man anderswo für Momente das Gefühl nicht los wird, in „Magical Mystery Tour“ geraten zu sein. Darunter und darüber freilich rockt und rumort es Beatles-fern, kaum ein Track kommt ohne Bleeps und Keyboard-Modulationen aus, einige verlegen sich auf Boogie, andere auf Riffs. Wie „Liar“, das wie die Schnittmenge aus Stones und Pistols kracht „Yeah“, kommentiert Noel, „das ist ein Rocker ganz nach Liams Geschmack. Live wird es sicher unheimlich abgehen. Wie AC/DC, hat neulich ein Bekannter gesagt Shit, ich hoffe, das macht nicht die Runde. Stell‘ dir vor, für welche Art Publikum wir da in Amerika spielen müssten. Diese Heinis in Bermuda-Shorts sind übel genug.“ Dennoch versuche man, den anstehenden US-Trip locker anzugehen. Um neues Material vorzustellen, habe die Vorbereitungszeit nicht gereicht. Ein paar alte Favoriten, dazu „Heiter Skelter“ und „Whole Lotta Love“, das müsse reichen. Probleme erwartet er nicht: „Tm 100% more tolerant of people.“ Die Reviews drei Wochen später sollen ihm Recht geben. Amerika hat Oasis nicht abgeschrieben. Oder umgekehrt.

„Gas Panic“ knüpft an, wo „D’You Know What I Mean“ aufhörte. Derselbe dräuende, trippige Rhythmus, dieselbe bedrohliche Atmosphäre, aus der Geräuschkulisse ein Sägen und Tosen, mehr Mellotron, mehr Effekte, der Text reine Paranoia: „My family don’t seem so familiär/ My enemies all know my name.“ Invasion of the bodysnatchers, or what? „Nein, es ist persönlicher“, erklärt der Verfasser, „es ist ein direkter Ausfluss von psychischen Störungen, die mich früher regelmäßig heimsuchten. Richtige Panikattacken, die mich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen ließen. Das ist lange her, aber damals entstand dieser Song. Ich bin froh, ihn wieder hervorgeholt zu haben. Es ist einer der besten Tracks des Albums geworden.“ Falsch, Noel. Der beste.

Die Nähe zu „Be Here Now“, meint Noel, sei nicht beabsichtigt gewesen, mache im Nachhinein jedoch durchaus Sinn. „Du nimmst dir ja nie vor, einen deiner eigenen Songs zu kopieren oder ihn im Studio so zu produzieren, dass er exakt einem anderen gleicht. Es kommt halt manchmal so heraus, sogar öfter, als dir lieb sein kann. Die Sache mit dem Selbstplagiat ist doch lächerlich. Jedem Künstler, der seinen Stil gefunden hat, wird dieser Vorwurf gemacht Da muss man souverän bleiben.“

Wie Noels kleiner Bruder, dem ein Freund bescheinigte, „Little James“ klinge wie „Wonderwall“. Liam: „So Woody what? It worked the first time, didn’t it?“

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