Alles in allem – Die Tocotronic-Diskografie

DIGITAL IST BESSER (1995) Ja, man darf das Album ruhig als das deutsche „Nevermind“ bezeichnen. Schließlich hat es wie kein anderes den Indie-Underground aufgeschreckt: mit Polaroid-Optik und Slogans („Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“), mit Selbstmitleid und Slacker-Posen, mit zornig-introvertierten ich-gegen-euch-Hymen über Fahrradfahrer und Cineasten, Wochenendrituale und Gitarrenhändler. Aufgenommen haben Tocotronic die 18 Songs im Hamburger Soundgarden-Studio in vier Tagen, abgemischt in drei. Dabei ist ein von Dinosaur Jr. inspirierter Lo-Fi-Neo-Grunge-Punk-Straßenköter entstanden, der sich keine Atempause gönnt und eher trotzig-rotzig als larmoyant klingt – eine Platte, auf die sich nicht nur 1995 alle einigen konnten. 4,5

NACH DER VERLORENEN ZEIT (1995) Die Band hat es eilig. Ein halbes Jahr ist seit der Veröffentlichung des Debüts vergangen, als im Sommer 1995 nach einer Clubtour und Festival-Auftritten das Mini-Album voller neuer eigensinniger Alltagsbeobachtungen erscheint. „Oh, was soll ich noch für Lieder schreiben?“, singt Dirk von Lowtzow ahnend, dass das alles vielleicht etwas zu schnell geht. Immer wieder selbstreflexiv den Erfolg verarbeitend („Ich bin neu in der Hamburger Schule“), wirken die etwas weniger trashig produzierten Songs etwas gehemmt. Dafür wird das musikalische Inventar erweitert: „Ich mag dich einfach nicht mehr so“ etwa hat Orgelsummen und ein Gitarrensolo zu bieten. Und mit „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“ sind Tocotronic sogar für einen kleinen Skandal gut, als der Schriftsteller kurz nach der Veröffentlichung stirbt. 2,5

WIR KOMMEN UM UNS ZU BESCHWEREN (1996) Als erste Band des Lado-Labels schaffen es Tocotronic in die deutschen Verkaufs-Charts. Das Album steigt im Frühjahr 1996 bis auf Platz 47 der LP-Hitparade. Die Band versorgt Trainingsjackenträger zwar weiterhin mit Slogans („Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“). Doch die melancholische Nabelschau (die Hälfte der 18 Songtitel fängt mit „Ich“ an), die Larmoyanz in Noise-Pop-Epen wie „Ich möchte irgendwas für dich sein“, das in über sieben Minuten mit nur zwei Textzeilen auskommt, hat sich verselbstständigt. Und obwohl Dirk von Lowtzow vorgibt, desillusioniert zu kapitulieren („Ich mache meinen Frieden mit euch“), wird sich die Band artig weigern, sich als junge deutsche Vorzeigeband vereinnahmen zu lassen – und den „Comet“ vom TV-Sender VIVA für das Album ablehnen. 4,0

ES IST EGAL, ABER (1997) Ein Fluchtversuch vor sich selbst und vor der Hamburger Schule. Die Band reist für die Aufnahmen ins Black Box Studio im westfranzösischen Noyant La Gravoyere. Dort produziert Hans Platzgumer mit Tocotronic ein Album, das jugendbewegt und altklug zugleich, voller Abscheu, aber auch voller Zärtlichkeit ist, das zwischen der Ästhetik der Atemlosigkeit („Gehen die Leute“, „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“) und der sanften Depression („Nach Bahrenfeld im Bus“, „Es ist egal, aber“) alterniert und den Dreivierteltakt und rührende Glücksmomente entdeckt. Musik und Texte wirken differenzierter, verfeinert, die Arrangements schaffen Platz für Sehnsucht und Streichquartette, und „Pst Sounds‘-Verweise deuten einen Wandel zum Pop an. 3,5

K.O. O.K. (1999) 70 Tage lang arbeiten Tocotronic an dem Album: erst in Frankreich, dann in Weilheim (Micha Acher von Notwist arrangiert Tocotronic dort die Bläser und Streicher) und schließlich in Hamburg. Als die Platte irn Juli 1999 erscheint, wittern viele Fans Verrat: Wegen des englischen Texts des Songs „K.O.O.K“, wegen der AC/DC-Hommage und den „The Final CountdowrT’Keyboardfanfaren in „Let There Be Rock“. Tatsächlich erweist sich das Album als ein Ubergangsalbum: während sich Dirk von Lowtzows Texte mehr und mehr von der Alltagsprosa verabschieden und die poetische Objektivierung suchen (kein Songtitel mehr mit „Ich“), bricht die Band Songstrukturen auf, testet Grenzen aus und lässt Rock fast nur noch als Zitat vorkommen. 4,0 TOCOTRONIC (2002) Die Wiedergeburt von Tocotronic aus dem Geiste der Romantik. Das weiße Album tilgt alle Indierock-Rumpeligkeit, Nörgelei und Larmoyanz aus dem Repetoire der Band. Stattdessen trifft man auf lichtdurchflutete Pop-Architekturen, eine verschlüsselte Poetik des Sehnens, ein Ästhetik des Vagen. Ganz ohne fertige Song-Ideen haben sich von Lowtzow, Müller und Zank eineinhalb Jahre in Tobias Levins Electric Avenue Studio eingeschlossen. Entsprechend kunstvoll sind die Songs gebaut, entsprechend clever sind sie durcharrangiert. Während die Single „This Boy Is Tocotronic“ Sisters Of Mercy und Technotronic zitiert, macht man es sich auf dem Rest der Platte irgendwo zwischen Roxy Music und Prefab Sprout bequem. 4,5

PURE VERNUNFT DARF NIEMALS SIEGEN (2005) Diesmal werden die Songs wieder ganz konventionell im Übungsraum geprobt, bevor sich die Band ins Studio wagt. Nur neun Tage braucht dann Moses Schneider, um die meisten der Stücke aufzunehmen. Mit Rick McPhail, der jetzt offiziell der vierte Tocotronicer ist, wird die Platte in Kreuzberg live eingespielt. Obwohl die Musik wieder konkreter, weniger verspielt, nicht so opulent verziert ist, gelingt ein großartig verrätselter poetischer Entwurf, mit dem es Tocotronic sogar auf Platz vier der deutschen Charts schaffen. Von Lowtzows hermetische Lyrik hat sich längst vom Alltagsgeschehen in Hamburgs Straßen und Kneipen entfernt und handelt stattdessen vom Nachtwind, vom Glanz des Himmels, von der Unendlichkeit, vom verschwinden im All. 4,0

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