Arcade Fire

Neon Bible

Ketzerische Kirchenmusik und Folklore: ein barockes Meisterwerk

Vor zehn Jahren veröffentlichten Arcade Fire den Nachfolger von „Funeral“. Und lieferten ihr Meisterwerk ab.

Der erste Grundsatz für Rezensenten: Schreibe niemals, eine Platte sei überschätzt. Wirkt immer wie Nachtreten. Denn im Moment des Erscheinens lässt sich selten behaupten, eine Platte werde bereits überschätzt. „Funeral“ von Arcade Fire wurde 2004 überschätzt. Von David Bowie. Von David Byrne. Von allen. Bevor die Platte in Deutschland überhaupt veröffentlicht wurde, eilte ihr der Ruf aus Amerika voraus. Caiman machte ein tolles Geschäft: Das Album der kanadischen Wundergruppe gab es längst als Schnäppchen, bevor sich die Promotion-Maschinerie quietschend in Bewegung setzte. Die Stücke mit „Neighbourhood“ im Titel waren seltsam und verführerisch, die anderen Songs nur seltsam.

Bei „Neon Bible“ wird Bowie wehmütig an seine größten Leistungen denken müssen – und wenn das die Platte vielleicht überschätzen heißt, so ist es doch die Wahrheit. „Black Mirror“ eröffnet mit sanftem Grusel, Weihnachtsgefühlen und Rummelplatz-Getöse; „Keep The Car Running“ verbindet das Kaffeehaus-Ambiente des Penguin Cafe Orchestra mit R.E.M.-Mandolinen. „Neon Bible“ ist ein kleiner Andachtsraum mit gerauntem Gesang. Dann schwingt sich Win Butler zu dem orchestralen „Intervention“ auf- mit Streichern, Kirchenorgel, Glockenspiel und im Hintergrund jubilierenden Kinderchor: „I can taste your fear/ It’s gonna lift you up and take you out of here/And the bone shall never heal/ I care not if you kneel.“

Plüschiger Theaterdonner

Regine Chassagne singt „Black Wave“, das Kinderlied und Rondo Veneziano in einem hurtigen Aufgalopp vereint, bis Butler einfällt und das Stück zum donnernden Bombast-Spektakel führt. Auch „Ocean Of Noise“ und „The Well And The Lighthouse“ sind solche maritimen, überwältigenden Gebilde von der melodischen Grandezza und dem plüschigen Theaterdonner früher Tindersticks-Linder, Zwischen Kitsch und Erhabenheit. Der euphorisierende „Antichrist Television Blues“ (kein Blues!) klingt wie Bruce Springsteen zwischen „Born To Run“ und „Darkness“ mit verhallt-sehnsuchtsvollem Gesang und dunklem Rock’n’Roll: eine lustvolle Ketzerei.

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„Windowsill“ ist noch einmal ein fiebriges Gebet ex negativo: „I don’t wanna live in my father’s house/ I don’t wanna live in America no more/ MTV, what have you done to me?“ Das den Weg bereitet für die zickige Hymne „No Cars Go“ mit Streichern und Akkordeon und „Hey!“-Rufen wie in einer irren Polka, die in hysterischer Auflösung mit orchestralem Rauschen und einem Kosakenchor endet. Am Ende erklingt feierlich der Gospel-Choral „My Body Is A Cage“ zur Kirchenorgel: „My body is a cage that keeps me from dancing with the one I love/ But my mind holds the key.“

„Neon Bible“ ist das, was die Rezensenten „Funeral“ zuschreiben wollten: eine barocke, todesselige Feier von Pomp und Folklore, Verdammnis und Verstörung. Nihilismus, Wollust und Wahnsinn. Das Electric Light Orchestra in einer Quäkergemeinde auf dem Land. Eine agnostische Bestie im Gewand eines Engels.

Die schönste Versuchung seit Johannes dem Täufer.