Billy Joel

My Lives

Sony

Leider inkohärente, wenn auch interessante Anthologie auf vier CDs und einer DVD: Demos, frühe Fassungen, Live-Aufnahmen und Cover-Versionen sowie ein Konzert in Frankfurt. 1993

Jene Songs, die der 16jährige Billy 1965 mit den Lost Souls aufnahm, klingen zwar wie unter der Bettdecke aufgenommen (wie man so sagt) – sie gehören aber zu den inspirierteren (und allemal interessanten) dieser Anthologie. Die Stücke sind natürlich ebenso schwer eklektisch und der Zeit verhaftet wie die späteren mit den Hassles und Attila, doch hört man jene Begeisterung für die Beatles, für Beach Boys, Righteous Brothers und Rhythm & Blues, die 15 Jahre später die verfrühte Nostalgie von „An Innocent Man“ befeuerte. Sehenswert die bizarren Fotos aus dieser Phase bis zu Joels erstem Album.

Bei „She’s Got A Way“, 1971, hatte er bereits seinen gefühligen, schwelgerischen Stil gefunden, sang dazu hübsch lyrisch und jungenhaft. Mit „Piano Man“ (hier die Demo-Version) und dem gleichnamigen Album wurde aus dem schlingernden Cafe-Musiker jener Billy Joel, der die Troubadour-Existenz zum Thema per se machte. Die Anthologie springt hier hurtig über frühe Fassungen von „Miami 2017“ und „Fve Loved These Days“ zu „Everybody Has A Dream“ (1977), „Until The Night“ und „It’s Still Rock’n’Roll To Me“ (1980) -Songs von Platten, die millionenfach verkauft wurden.

Das Ordnungsprinzip von „My Lives“ ist so inkohärent wie verwirrend neben einer Live-Fassung von „Captain Jack“ und Demos von „The Longest Time“

und „Christie Lee“ gibt es „An Innocent Man“, einen Dance-Remix von „Keep The Faith“, die Album-Version von „Modern Woman“ und das unveröffentlichte „Getting Closer“ mit Steve Winwood, verfaßt für „The Bridge“. Joel selbst ist nicht erfreut über diese Sammlung von Skizzen, Liegengebliebenem und Verworfenem.

Unglücklich sind Joels Adaptionen von „Heartbreak Hotel“, von Carole King und Duke Ellington, Lennon/McCartney und drei Dylan-Stücken, darunter „Highway 61 Revisted“. Sogar an Leonard Cohens „Light As The Breeze“ versuchte er sich 1995. Schließlich hören wir „Goodnight Saigon“ in der „Vietnam Veterans Version“, „New York State Of Mind“ vom „Tribute To Heroes“, 2001, und einige der Klavierstücke, vornehm „William Joel“ zugeschrieben.

Das bei den im Booklet abgebildeten Alben „Piano Man“ wie auch „Streetlife Serenade“ fehlen, nicht aber der volatil zusammengestellte Soundtrack von „Runaway Bride“, erscheint seltsam, hat aber sogar einen Grund: Kein Song wurde unmittelbar diesen beiden Platten entnommen. „Los Angelenos“, um nur ein Beispiel zu nennen, übertrifft indes all die schlockigen, sentimentalen und überfrachteten Cover-Versionen, die hier zu hören sind. Auch die Live-Aufnahmen haben nicht die Schärfe und die Dynamik der „Songs In The Attic“, die Joel bereits 1981 zusammengestellt hatte.

Die DVD schließlich enthält ein Konzert von 1993 in der Frankfurter Festhalle. Nach jener Tournee wandte der Künstler sich bekanntlich der Klaviermusik zu. Zuvor aber trat er mit einem Ensemble auf, das mit protziger Wucht die Songs exekutierte, fast Cyborg-mechanisch: „No Man’s Land“, „Pressure“, auch „Allentown“. „We Didn’t Start The Fire“, ,A Hard Day’s Night“. „Goodnight Saigon“ erfahrt eine pathetische Inszenierung mit Road-Crew-Kameraderie im Hintergrund der Bühne, „Leningrad“ verkitscht die späte Liebe Joels zu Rußland. Wie so oft resümiert er die Zeit und parallelisiert alles mit seiner eigenen Existenz – die Rollenprosa in „The Downeaster Alexa“, „AUentown“ und „Goodnight Saigon“ wirkt ja immer auch ein wenig anmaßend, wie ein paternalistischer Zugriff auf fremde Schicksale. Überzeugender sind die Erzählungen von „Captain Jack“, „My Life“, „New York State Of Mind“, „An Innocent Man“, „Tell Her About It“. Zuletzt, bei „The Bridge“ und „River Of Dreams“, sind Joel solche Lieder nicht mehr eingefallen. Wie charmant und zwingend sind „Easy Money“, „Leave A Tender Moment Alone“, „Careless Talk“! Und wie hektisch und bemüht „Modern Woman“ oder „I Go To Extremes“!

Natürlich mußte sich der kleine Billy aus Brooklyn stets dafür rechtfertigen, daß er ein berühmter Musiker geworden war, und auch noch so erfolgreich. Er konnte swingen wie Steely Dan („Zanzibar“!), aber niemand erkannte in ihm einen sardonischen Denker wie Randy Newman, einen empathischen Rocker wie Bruce Springsteen, ein mysteriöses Genie wie Bob Dylan. Ist er ja auch nicht. Ihm blieb die Tournee mit Elton John, dem anderen geliebten, doch nie anerkannten Songschreiber. Aber Billy Joels Karriere war die Genugtuung für seine Familie, die in Deutschland von den Nazis und Herrn Neckermann ihres Kaufhauses beraubt wurde und nach Amerika emigrieren mußte. 35 Jahre später erklangen „Just The Way You Are“, „Honesty“. „Uptown Girl“. „Movin‘ Out (Anthonys Song)“ und „My Life“ in allen Kaufhäusern der Welt.

Eine verdammt gute Rache.