Bruce Springsteen

The Rising

COLUMBIA/SONY MUSIC

Springsteen spendet seinem Land Trost und Erbauung in metaphysischen Songs

Dass ausgerechnet der 11. September Bruce Springsteens Schreibhemmung beendete, ist ebenso ironisch wie logisch. Es brauchte den Schock, damit die Lähmung überwunden werden konnte. Die Stücke kamen schnell, und schnell wurden sie in Form gebracht und aufgenommen. Die ohnehin geplante Rückkehr der E Street-Musiker erleichterte wahrscheinlich den Zugang, und Produzent Brendan O’Brien diskutierte anscheinend nicht so skrupulös wie die Leute um Jon Landau bisher. „The Rising“ war eine Terminarbeit, doch auch reine Inspiration.

In „Into The Fire“ und „Nothing Man“ ist das Ereignis noch am unmittelbarsten gewärtig, „Lonesome Day“, „Waiting On A Sunny Day“ und „Countin‘ On A Miracle“ klingen schon allgemeiner (das letztere ganz nach alten, besseren Zeiten). Aber ohne den Hintergrund müsste man sich fragen, ob dem Boss ein wenig langweilig geworden ist – nichts Spezielles scheint er mitteilen zu wollen, die Tage gehen so dahin, und er ruft sich selbst Mut zu und eine höhere Macht um Rettung an. Zwischen Blues, Ballade und Rock und all den biblischen, manchmal auch bloß merkwürdigen Metaphern mäandert die Platte wacker dahin. Die Band spielt moderat, die Melodien explodieren nicht, doch je öfter man den Auftakt hört, desto mehr berührt das Gravitätische, das gar nicht Auftrumpfende dieser Musik. Es fehlt jede Konkretion. Die Helden und die Verlierer haben keine Namen.

Diese Stücke sind so schwer fassbar, weil Springsteen von den letzten Dingen spricht. Nicht erst am Ende, wenn er „I pray for the strength, Lord“ ruft und die Gemeinde levitiert – „come on, rise up“ – befindet sich der Hörer in einer Andacht, einer Erweckungsmesse. Das ist für denjenigen nichts Ungewohntes, der je bei einem von Springsteens Konzerten war. Die E Street Band ist natürlich eine andere als damals, sie ist manchmal sogar „Tunnel Of Love“, dem spirituellen Meisterwerk, näher als „Born In The USA“ , dem populistischen Meisterwerk. Vor allem aber ist sie wieder da. Halleluja.

Doch was fehlt und warum, muss man langsam verstehen. Weder erzählt Springsteen Geschichten, für die er ja berühmt ist, noch handelt es sich manchmal – überhaupt um Songs. „Empty Sky“ ist ein Gebet ex negativo, ein böser Traum: „I woke up this morning to an empty sky.“ Das ist fast der gesamte Text, und wie um das Grauen zu bannen, wiederholt der Sänger die Worte immer wieder. So ist auch der zunächst lächerlich wirkende Qawwali-Gesang von „Worlds Apart“ in einem ansonsten überhaupt nicht fernöstlichen Stück zu verstehen, ein Nachhall des „I had a brother at Khe Sahn/ Fighting off the Viet Cong“ aus „Born In The U.S.A.“. Das Stück endet im Gitarren-Mahlstrom. „Let’s Be Friends (Skin To Skin)“ überrascht mit Calypso-Bruce und einem etwas stupiden Gute-Laune-Schwoof am Strand inklusive Damenchor und Clemons‘ Tröte, der ebenso charmant ist wie er nicht auf diese Platte gehört.

„Further On (Up The Road)“ ist ein veritabler E Street Band-Song mit Weinbergs Wumms und allem Georgel und Saxofon, geradeaus, unwiderstehlich und nicht so interessant Für die Gemeinde. „The Fuse“ ist keiner Rede wert (und viele werden das anders sehen!), Kraftmeierei und Getöse, in dem das Knistern in der Luft und die brennende Luft sexuell aufgeladen sind. Und Springsteens Gesang echot. Erstaunlich an dieser Stelle. „Mary’s Place“ passt nicht zu dem Album und scheint – uferlos, wild, überschwänglich – aus den frühen Siebzigern übrig geblieben zu sein, eine Art Schwester von Kitty und Rosalita. Also eine Party. Aber auch hier geht es um die Beschwörung des Vergangenen und Zeichen von oben: „Let it rain, let it rain, let it rain!“ „You’re Missing“ ist dagegen ganz still und repetitiv, aber genauso brillant: ein Nekrolog, eine Mediation, wie von einem Würgeengel gesungen und so schmerzlich, wie man etwas empfinden kann, das einem nicht widerfahren ist Die Orgel evoziert noch einmal das Finale von „Racing In The Streets“. „The Rising“, längst jedermann bekannt, verbreitet Optimismus, kracht ordentlich und bereitet das abschließende, mächtigere Spiritual vor. Prima Gitarren-Solo allerdings.

Und dann, es ist der vorletzte Song, geschieht das Pfingst-, das Bruce-Wunder, auf das wir gar nicht gewartet hatten (und das doch nicht überrascht): JParadise“ ist ein wahrhaft jenseitiger Gesang, ein Traum, eine Imagination, eine Beschwörung. Man mag darin die letzten Empfindungen eines Mannes vor seinem Tod (eines Selbstmord-Attentäters) erkennen, doch unter den vielen unglaublichen Wasser-Stücken und Visionen Springsteens ist es die unheimlichste Evokation. „Where the river runs to black/ I take the schoolbooks from your pack/ Plastics, wire and your kiss/ The breath of eternity on your lips“, hebt Bruce mit einer Stimme an, die selbst schon nicht mehr von dieser Welt ist. Die Keyboards dräuen, die Gitarren-Licks sitzen präzise. Das ist Kulisse, denn Springsteens Stimme ist hier schon genug. Und dann die rätselhaften, seltsam anrührenden Zeilen „The Virginia hills have gone to brown/ Another day, another sun goin‘ down/ I visit you in another dream“. Die Szene ist ein Marktplatz, der Sänger ist lebensmüde oder erleuchtet (oder beides). Wenn hier jemand stirbt (und tötet), dann muss er die Hügel von Virginia jedenfalls geliebt haben. Dem großen Eschatologen Springsteen gelingen hier am Ende wiederum enigmatische Bilder, die man nicht mehr los wird: „I search for the peace in your eyes/ But they’re empty as paradise/ I break above the waves/ I feel the sun upon my face.“ Eine Pastorale wie Robert Redfords wunderbarer Film „A River Runs Through It“.

Aber Springsteen ist nicht nur der Sensenmann, er stimmt auch den Großen Amerikanischen Gesang an. „My City Of Ruins“, das er schon beim „Tribute To Heroes“ ohne die Band (aber mit kleinem Chor) sang, hatte er angeblich schon vor dem Anschlag geschrieben, Unglücksprophet und Tröster zugleich – auch so eine unfassbare Bruce-Legende. Das Lied schwingt sich auf zum GospeL zur Erlösung: „Come on, rise up, come on, rise up/ With these hands/ With diese hands.“ Ganz Amerika scheint einzustimmen in diesen innigen Hymnus, und wenn es auch Kitsch ist, so hätte doch Walt Whitman seine Tabakspfeife dafür gegeben.

„Spring auf den Tender!“ hatte Julie Burchili als Anweisung zu „Born In The U.Sjl. „geschrieben. Der Zug ist seitdem in die Dunkelheit gefahren, aber Bruce Springsteens Funzel weist noch immer den Weg.

Gern würde ich aufspringen, wenn da nicht schon eine ganze Nation säße.