Eine andere Liga :: von Carl Weissner

Carl Weissner hatte „seine Amerikaner“ dann doch im Stich gelassen, das Übersetzergeschäft nach vielen Jahrzehnten endlich drangegeben, um eigene Prosa zu publizieren. Zwei Bände erschienen in rascher Folge bei seinem späten Hausverlag Milena. Er arbeite jetzt an zwei Romanen gleichzeitig, schrieb er mir 2011, in einem unserer letzten Mailwechsel. Die Zeit laufe ihm davon. Wie sehr, das konnte er damals kaum ahnen – die geplanten Bücher sind nicht mehr fertig geworden. Ein Jahr nach seinem Tod erscheint jetzt ein Nachlassband mit seinem einzigen Roman, „Death In Paris“, zum ersten Mal in deutscher Übersetzung, und diversen verstreut publizierten Storys und Prosaexperimenten. Legendäre frühe an Burroughs geschulte bzw. unter seiner Mitwirkung entstandene Cut-ups wie „The Braille Film“ und „So Who Owns Death TV“ sind hier ebenso zu finden wie Raymond-Chandler-Pastiches, Versuche in automatischem Schreiben, Collage-Kollaborationen mit Jürgen Ploog und Jörg Fauser und ekstatisch-halluzinatorische Prosaminiaturen, die an J. G. Ballards „Liebe & Napalm“ erinnern. Die alte Sixties-Avantgarde also, Popliteratur I, die schon immer geschwankt hat zwischen verteufelt genialisch und unlesbar. Am eingängigsten sind vielleicht die grandiosen autobiografischen Klartext-Storys, die dann eher seinem ersten Hausheiligen Bukowski huldigen. Alles in allem ein würdiger Gedenkstein, der ziemlich differenziert zeigt, was Weissner konnte und was von ihm noch zu erwarten gewesen wäre. (Milena, 22,90 Euro) Frank sChäfer

Bonita Avenue ****¿

von Peter Buwalda

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, lautet der oft zitierte erste Satz von Tolstois „Anna Karenina“. Und auch 136 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung scheint dieser Satz noch ein ganz guter Leitfaden für Autoren zu sein. Natürlich denkt man zunächst an Jonathan Franzens „Korrekturen“, aber auch der in den Niederlanden lebende belgische Autor Peter Buwalda beschreibt in seinem ziegelsteindicken Roman „Bonita Avenue“ das einzigartige Fiasko einer sogenannten Patchwork-Familie, deren Angehörige nichts unversucht lassen, das ohnehin fragile Gefüge immer neuen Haltbarkeitsprüfungen zu unterziehen. Angefangen bei Siem Sigerius, einem Ex-Ringer und erleuchteten Kraftkerl und viel gepriesenen Mathematikgenie, der die Karrierleiter bis zum Minister hinauffällt, ehe er sich selbst ein Bein stellt. Bis hin zu Wilbert, seinem Sohn, der nach abgesessener Strafe für einen Totschlag in Freiheit immer neue Tretminen auslegt. Alle anderen Figuren, Siems Stieftöchter Janis und Joni und der verkrachte Fotograf Aaro, umkreisen den alten Sigerius wie leicht ins Trudeln geratene Satelliten einen verseuchten Planeten. Machtvoll und in tiefenscharfen drastischen Bildern vermag es Buwalda, seine Geschichte als beißende Abrechnung mit dem Konstrukt „Familie“ zu inszenieren, in der zuletzt kein Stein auf dem anderen bleibt. (Rowohlt, 24,95 Euro) Peter Henning

von Karen Duve

Weil in Rotkäppchens Dorf die EU-Gelder ausbleiben, muss die Bezirksregierung an der Müllentsorgung sparen. Die vielen sich am Straßenrand stapelnden Säcke locken die Wölfe an und einer beisst Rotkäppchens Vater auch prompt in die Schulter. Und weil sie in ihrer Problemfamilie eh einen schlechten Stand hat, muss sie schließlich den Trank abholen, den die Großmutter jenseits des Waldes für den Vater zusammengepanscht hat.

Für „Grrrimm“ hat Karen Duve, die bereits mit ihrem Roman „Die entführte Prinzessin“ von 2005 als unkonventionelle Märchentante auffiel, fünf Klassiker der Gebrüder Grimm ins 21. Jahrhundert übersetzt. Schon die Originale sind ja vermutlich nach State-of-the-Art-Pädagogik nicht eben kindgerecht – modernen Eltern sei daher geraten, diesen Band mit Duves ironischen Interpretationen ins oberste Regal zu stellen. Denn aus einem Handstumpf spritzendes Blut, faulendes Fleisch, eiternde Wunden und ein kopfloser Torso, der zum Ausbluten in Omas Schuppen von der Decke hängt sind ganz sicher nichts für zarte Kinderseelen. Doch auch das irre Lachen der Eltern bei der Lektüre von „Grrrimm“ könnte den Nachwuchs in schlimme Albträume verfolgen. (Galiani, 19,99 Euro) Lena Ackermann

von Pete Dexter

Unvermeidbar, dass Romanverfilmungen verkürzen, zuspitzen und einiges verdrehen. So muss dann auch eine alternde Nymphomanin namens Charlotte (Nicole Kidman) – Zac Efron aufs Gesicht urinieren, um seine allergische Hautreaktion auf einen Quallenschwarm zu mildern. In der Vorlage „Paperboy“, 1995 auf Englisch erschienen, erledigen diesen Job hingegen drei Krankenschwestern. Dass dieser 2012 in Cannes vorgestellte Film die voyeuristische Szene naturgemäß von unten einfängt, führt uns direkt zum Thema: Der Südstaatenroman des mehrfach ausgezeichneten Pete Dexter erzählt von den Niederungen des Sensationsjournalismus, von schmierigen Reportern, über die es heißt: „Etwas zu erzählen, erregte sie weit mehr, als etwas zu wissen.“ Und wir wissen nur, dass ein Mann hinter Gittern sitzt, der in den Sümpfen Floridas 1965 einen Sheriff wie einen Alligator ausgeweidet haben soll. Die oversexte Charlotte hält ihn für unschuldig. Sie setzt ein ungleiches Autorenduo auf die heiße Story an. Der eine ist der große Bruder des am Strand besudelten Ich-Erzählers, ein naiver Idealist, der andere ein nach Anerkennung heischender Faktenverdreher. Der Pulitzer muss her, und den heimsen die beiden auch ein – allerdings für einen sehr hohenPreis. (Liebeskind, 19,80 Euro) philipp Haibach

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates