Hurricane Festival Scheeßel

Trotz vieler junger Bands begeisterten beim größten Festival Norddeutschlands die Altbekannten: The Cure, Noel, Kettcar

„Mensch, bist du groß geworden!“ Diesen Satz, den man am Morgen des ersten Festival-Tages in einem norddeutschen Städtchen aufgeschnappt hat, als eine ältere Frau einem 16-Jährigen den Kopf wuschelte – er gilt auch fürs Hurricane-Gelände.

Was 1997 noch in die Rennbahn des Eichenrings passte, mit einer Hauptbühne und einem Zelt, ist inzwischen links und rechts über den Parcours gewachsen. Und ein Festival, das sich locker mit europäischen Größen wie dem Reading in England oder dem Pinkpop in Holland messen kann. Auch was sein volksfestlauniges Publikum angeht. Ob man es dann allerdings sprachlich so derb treiben muss wie Jennifer Rostock, die später von der Blue Stage „Festival ist Tittenzeit!“ skandierte, sei mal dahingestellt. Mit ihrem Set begann eine Reihe deutschsprachiger Acts. Bei Bosse, Casper und den Sportfreunden Stiller galt ausnahmslos: „Bis zur letzten Wurstbude waren die Leute dabei und haben mitgesungen“, wie Bosse später berauscht erzählte.

Auf der Hauptbühne hatten The xx die Bürde, vor The Cure auf die Bühne zu müssen – und gegen das Halbfinale Deutschland-Italien anzuspielen. Man hatte sich durchaus ein wenig gesorgt, wie das denn so werden würde. Zu Unrecht: Es blieben Zehntausende Menschen, um die Show zur Abenddämmerung von The xx nicht zur Geisterstunde werden zu lassen. „We are not used to play in daylight“, sagte Oliver Sim lächelnd. Aber es funktionierte, zumindest wenn man diese Musik, diesen minimalistischen Gitarren-Pop des Trios an sich heranließ. Leider merkte man wieder, dass das Hurricane manchmal ein Alkoholproblem hat, das gerade bei den ja gern gebuchten atmosphärischen Acts zum Störfaktor werden kann. Testosteronbefeuerten, betrunkenen Kerlen in Ganzkörpertierkostümen kann man halt nur schwer vermitteln, warum ein so vorsichtig gesteigerter Song wie „VCR“ mitreißender ist als ein Refrain zum Mitgrölen.

Der Rest der Nacht gehörte dann The Cure. Ein irrer, erhebender Moment, als der sichtlich gealterte Robert Smith – im aufgedunsenen Gesicht den obligatorischen gruft-pathetischen Lidschatten – beinahe unscheinbar auf die Bühne trottete. Zwei Dinge haben sich bei dieser Band nie geändert: Smiths schwarze Haarspray-Frisur, die aussieht, als wäre ein verwelkter Strauß Friedhofsblumen explodiert. Und seine unfassbar präsente Kinderstimme, bei der einem der Atem stockte, als er „Pictures Of You“ sang. Der Song bildete den Auftakt zu einem zweieinhalb Stunden währenden Auftritt mit so großartigen Klassikern wie „Lovesong“, „In Between Days“, „A Forest“, „Lullaby“ und „Friday I’m In Love“. Trotzdem hielt sich am Ende nur ein harter Kern vor der Main Stage, was vor allem so wunderbar ausufernden, mäandernden Klangepen wie „Desintegration“ geschuldet gewesen sein dürfte. Wer sich diesen sphärischen, hypnotischen Gitarrenspiralen und Synthie-Flächen nicht uneingeschränkt ausliefern kann, steigt irgendwann aus. Die Band kümmerte es freilich wenig: Immer mehr spielten sich Smith und seine treuen Begleiter in einen Rausch, und man hoffte schon, Zeuge eine dieser dreistündigen Cure-Mantras zu werden, von denen einem Fans der ersten Stunde (wer sonst?) oft mit glühenden Augen vorschwärmen. Es sollte nur an den Zeitbestimmungen des Veranstalters scheitern, dass diese Hoffnung mit der Zugabe „Boys Don’t Cry“ ein jähes Ende fand, nachdem das Bühnenpersonal zuvor eine zweite Setlist unterhalb von Smiths Mikrofon geklebt hatte. Doch für diesen einen letzten Refrain kehrte auch die Wurstbudenfraktion zurück zur Musik. Man konnte ja gleich danach wieder zum Bierstand oder direkt im Zelt abstürzen. Oder zu den Stone Roses.

Danach dann noch einmal die Alte-Helden-Rutsche bei den wiedervereinten Stone Roses, die natürlich ihre beiden Alben ausspielten, aber kaum neue Freunde fanden. Vor leider recht leeren und auch recht müden Reihen bemühten sie sich redlich, ohne dass der Funke mehr erreichte als die bereits bekehrten und die mitgereisten englischen Fans. Dafür ist Ian Brown dann wohl doch zu knurrig, als dass er das Jungvolk mitreißen könnte. Da half auch sein energisches Tambourin-Geschüttel nicht. Andererseits war es mal wieder erstaunlich zu sehen, wo sich Oasis ihre Gitarrenriffs und Liam seine Posen abgeschaut haben.

Apropos Oasis: Die musste keiner vermissen, als Noel Gallagher mit seinen High Flying Birds die Bühne betrat, auf der zuvor Florence Welch sehr überzeugend ihren berückend-barocken Indie-Pop geschmachtet hatte. Noel bewies, dass er längst nicht mehr nur Sänger und Gitarrist ist, er ist jetzt auch ein Frontmann. Und ein sehr selbstbewusster noch dazu. Obwohl er sich seit Tagen mit einer Erkältung herumschlug, ging er nicht auf Nummer sicher mit dem klassischen Greatest-Hits-Set, das bei einem Festival zu erwarten wäre. Nach dem programmatischen Oasis-Song „(It’s Good) To Be Free“ folgten acht Lieder seines Soloalbums, darunter das sensationelle „If I Had A Gun“ und der Live-Gewinner „AKA … What A Life!“ Und am Ende, nach dem hymnischen „Little By Little“ (mit der tröstlichen Zeile „True perfection has to be imperfect“), kam natürlich wieder der Moment. Der Moment, in dem alle aufschreien, aufspringen, klatschen, mitsingen. Der Moment, in dem Noel Gallagher immer weiß, dass er unsterblich ist: „Don’t Look Back In Anger“. Die Stimme hielt, aber wichtiger noch: Auch vor den größten Bühnen außerhalb Englands muss dieser Mann keine Angst mehr haben. Er braucht seinen Bruder gar nicht, da waren sich an diesem Tag alle einig. Zumindest all jene, die nicht abgewandert waren, um Rise Against brüllen zu hören.

Diese donnerten am Samstag in einer scheinbar endlosen Reihe von Lärm-Bands mit Less Than Jake, Madsen, Eagles Of Death Metal und den Skater-Punk-ähhm… -Urgesteinen von Blink 182 über die Hauptbühne und sorgten vor dieser für tumultartige Szenarien. Mehr sehens- als hörenswert geriet spät in der Nacht das Comeback von Garbage, was wohl hauptsächlich an Shirley Mansons Bühnenpräsenz lag. Und an einigen alten Garbage-Songs, bei denen man sich selig erinnerte, sofern man seine Jugend in den Neunzigern verschwendet hat.

„Dort hinten wird’s hell!“ sollte schließlich zum meistzitierten Satz des Sonntags werden. Man kennt die Zeile natürlich aus der großartigen Kettcar-Hymne „Nacht“. Und tatsächlich brach der Himmel für ein paar rare Momente auf, als die Hamburger am Abend ein souveränes Konzert spielten. Durch die letzte Festival-Nacht ging’s schließlich mit der Dauerbespaßung der Ärzte, dem Nostalgie-Tanz von New Order und den wehmütigen Bläsern von Beirut, zu deren balkan- und ja oft auch walzerinspirierten Melodien ein paar tausend Menschen tanzend dem Regen trotzten.

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