J. G. Ballard – Liebe & Napalm :: Skulpturen aus Prosa

„The Atrocity Exhibition“, so der Originaltitel, ist eine Inkunabel der „New Wave“ des Science-Fiction-Genres und markiert zugleich die Grenzen des herkömmlichen Erzählens. Wie in „Naked Lunch“ zerfällt der Text in Fragmente, surreale, groteske Traumszenarien, aber noch stärker als bei Burroughs entbindet Ballard die Sprache von ihrer niederen Aufgaben, zum Beispiel so etwas Profanes wie eine Handlung voranzutreiben. Es gibt fast keinen Plot mehr, wenn überhaupt spielt der sich zwischen diesen statischen, stillebenhaften Miniaturen ab. Die Prosa verdichtet und verfestigt sich zur Skulptur. Und in der Form verhandelt Ballard bereits das, was dann auch inhaltlich zur Debatte steht. Ein Psychiater verliert langsam den Verstand. Er registriert die zunehmende „Fragmentierung“ seiner Realität und leistet Widerstand, wahnhaft versucht er die Zusammenhanglosigkeit der Phänomene aufzuheben, indem er aberwitzige Analogien erfindet. Nichts anderes macht dieser Text, er stellt aus diversen Motiven der Sixties-Zeitgeschichte – Vietnam, Marilyn Monroe, das Attentat auf John F. Kennedy. Warhols „Screen Tests“, Autos als Embleme technologischer Evolution, der drohende Dritten Weltkrieg usw. – in immer neuen Permutationen Zusammenhänge her. Ballard bildet also die Entropie der Welt ab und hebt sie zugleich wieder ästhetisch auf. Ein Leitmotiv in diesem Buch ist der Autounfall – Ballard nimmt hier schon den Subtext seines späteren Bestsellers „Crash“ vorweg -. weil sich in ihm die Vereinzelung des modernen Subjekts exemplarisch umkehrt: Es verschmilzt gewaltsam mit der Materie. Eine Epiphanie, ein Moment religiöser Ekstase. Vermutlich war es nicht einmal diese perverse Logik, die seinen amerikanischen Verleger Doubleday veranlasste, als der das Buch kurz vor der Auslieferung in die Hand bekam, die ganze Auflage einzustampfen, sondern nur wieder das bisschen Gewalt und Obszönität. Was für ein Kleinmut angesichts der intellektuellen Tiefenschärfe und immer wieder berückenden Schönheit dieses Prosaexperiments. (19,90 Euro)

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