Johnny Flynn 

Country Mile

Transgressive/Kobalt

Intelligent, charmant, unfertig: wunderbare Folksongs, die Tradition und Moderne verknüpfen

Vor ein paar Jahren war Johnny Flynn für einen Moment the new poster boy der Londoner Neo-Folk-Szene und hätte fast dieselbe Aufmerksamkeit bekommen wie die guten Freunde von Mumford & Sons und Laura Marling. Doch Flynn hielt seine Musik für ungeeignet für das große Geschäft. Schon das zweite Werk, „Been Listening“ von 2010, erschien bei einer viel kleineren Plattenfirma. Das Album präsentiert das am British-Folk-Revival geschulte Songwriting des geerdeten Sängers, der sein Berufsleben zu einer Hälfte mit Musik und zur anderen Hälfte mit Schauspielerei verbringt – zuletzt in diversen recht erfolgreichen britischen Produktionen. Die letzte Veröffentlichung hieß „A Bag Of Hammers“ (2012) und war der Soundtrack zum gleichnamigen Film von Brian Crano. Dort machte sich Flynn frei(er) von klassischen Konventionen. Das Album klingt manchmal, als würde das Ensemble nur auf Zuruf miteinander musizieren – und ist von einer ungemein charmanten Holprigkeit.

Dasselbe gilt für diese neue Platte, auf der Flynn Lieder versammelt, die in den vergangenen zwei Jahren in New York und London entstanden. „Demos with intent“ seien das, sagt der Künstler – ihm war aufgefallen, dass er zuletzt die Demos meist besser fand als die finalen Aufnahmen. Das ist die erste große Errungenschaft dieses fabelhaften Albums: dass die Musik bebt und lebt und schunkelt und seufzt und wunderbar unfertig produziert ist, anstatt in moderner Studioakkura­tesse ihr Leben einzubüßen. Mehr noch als bisher meint man bei einigen Liedern den Einfluss der New Yorker Anti-Folk-Szene zu erkennen, deren kantiger Boykott des Melodramatischen interessanterweise herrlich mit der vernünftigen, formalen Melancholie des britischen Folk zusammengeht.

Flynn sammelt seine Kompositionen lose um die Erzählung einer Wanderung, die eine Lebensreise sein könnte oder auch nur ein Spaziergang durch Englands splendid hills. Beim Titelsong schrängelt seine elektrisch verstärkte Halbakustische zu einem schwankenden Schlagzeug; „After Eliot“ ist offenbar auf T. S. Eliot gemünzt, hinter dem Gitarrenpicking barmen Geige und Pedal Steel. Wenn im Refrain die Stimme von seiner Schwester Lillie dazukommt, wird es ungeheuer romantisch. Bei „The Lady Is Risen“ haben jene Bläser ihren ersten Auftritt, die auch bei Mumford & Sons die Arrangements groß machen, Flynn singt mit steifem Bariton, hat aber gleichzeitig etwas ungemein Sehnsüchtiges in der Stimme. „Fol-de-rol“ fußt auf einem lateinamerikanischen Rhythmus, zu dem Flynn mehrstimmige Chöre singt, wie Jethro Tull es einst taten.

Diese poetischen, intelligenten Lieder gehen ans Herz wie eine Open-Mic-Night in einem literaturbesoffenen Londoner Pub. Flynn schöpft seine Musik aus den alten Brunnen, doch er ist kein Verweser – wie er hier alte Weisen mit einem neuen Ausdruck beatmet und immer nach den schönsten Momenten sucht, das ist die zweite große Errungenschaft von „Country Mile“.