Judee Sill

Judee Sill

Die genialischen Spintisierereien der komischen Heiligen

„Audio Alchemy by Henry Lewy“ war im Kleingedruckten ihrer Debüt-LP zu lesen. Noch bevor dessen bekanntester Schützling mit „For The Roses“ zu Asylum wechselte, war das die erste LP, die auf dem neuen Label erschien und seitens des sonst bis heute als recht geschäftstüchtig bekannten David Geffen mehr ein Akt von Mäzenatentum. Denn Judee Sill war weder Joni Mitchell noch die Eagles, die seine Plattenfirma zu einer der weitaus erfolgreichsten der 70er Jahre machen sollten. Auch Bob Dylan verkaufte während seines kurzen Asylum-lntermezzos von „Planet Waves“ und „Before The Flood“ ein paar Millionen LPs mehr als diese Singer/Songwriter-Entdeckung aus dem Folk-Dunstkreis des Laurel Canyon.

Das war schon eine merkwürdige Heilige, die Lieder über Gott und den Teufel, über „enchanted sky machines“ und die „cryptosphere where the great sadness begins“, über Engel, Sünde und Jesus Christus schrieb, nachdem sie dem Tod trotz Heroinüberdosis und Koma gerade noch mal so von der Schippe gesprungen war. Kurzfristig an einer Musikhochschule eingeschrieben und auch mal einem Job als Pianistin in einer Gospelkirche nachgehend, war sie nicht nur kein Autodidakt oder Dilettant. Kammermusikalisch betörende Arrangements adelten Songs von ganz außerordentlichen Ohrwurmqualitäten. Hauptsächlich inspiriert von Pythagoras, Bach und Ray Charles, wie sie meinte, aber de facto auf beste Folk- und Gospel-Traditionen zurückgreifend. Die Platte blieb für Jahrzehnte so ziemlich das bestgehütete Geheimnis des Labels, nach der Veröffentlichung mit Klapp-Cover und allen Texten nie nachgepreßt und hierzulande nur als Import zu haben.

Sie bekam eine zweite Chance und nahm „Heart Food“ auf – noch aufwendigeres Klapp-Cover, Dutzende erstklassige Session-Profis, tolle Streicher und großartige (Co-) Produktion von Henry Lewy, der für süperbe Klangqualität bürgte. Mehr versponnene Lieder über Erlösung, Liebe und ihre Suche nach jemandem, die Wahrheit pfundweise verkauft, Buddy Emmons, Spooner Oldham, Chris Ethridge, Doug Dillard und ein paar ausgewiesene Koryphäen unter den Kollegen für wunderbar pastorale Country-Klänge sorgend.

Einer dieser unwiderstehlichen Ohrwürmer war „There’s A Rugged Road“, den Shawn Colvin später in mindestens kongenialer Interpretation bot. Ein anderer „The Phoenix“. Und nicht zuletzt die hinreißende Gospelballade „When The Bridegroom Comes“. Stoff von dem nämlichen Kaliber, das heute allenfalls ein Ausnahmetalent wie Kate Rusby auszeichnet. Aber nach „Haut Food“ sah Geffen dann doch wenig Chancen für morgen, und Judee Sill war auch die erste, die wieder aus der Liste der Asylum-Künstler gestrichen wurde.

Das dritte, mit Emitt Rhodes am Mischpult von Bill Plummer produzierte Album -1974 weithin fertig blieb bis 2003 unter Verschluß. Zu dem Zeitpunkt weiterhin absolut clean, hatte sie rund ein Dutzend Kompositionen geschrieben, von denen sich etliche im Songbook von Joni Mitchell, Carole King und manch anderer Kollegin sehr gut ausgenommen hätte. Einmal mehr gehören die stark Gospel-inspirierten unter den acht fertig produzierten Songs für „Dreams Come True“ zu den herausragenden. Die Demos und Outtakes auf der zweiten, „Lost Songs“ betitelten CD dokumentieren, daß sie alles andere als ein ausgebranntes Talent war. Manches ist noch Skizze oder Entwurf, mit ein paar dieser Songs hätte sie problemlos sofort in Studio gehen können, auch mit „Waterfall“ und „Emerald River Dance“.

Dieses Set kommt mit einer 70 (!) Seiten starken Broschüre. Aus den vielen Interviews dort erfahrt man unter anderem, daß sie den letztgenannten Song offenbar längst vor denen des Debüts geschrieben hatte. Wieso sie den dafür nie aufnahm, verstehe, wer will. Das ist einer ihrer ganz großen. Als sie einen Tag nach Thanksgiving 1979 an einer Uberdosis starb, wurde das offiziell als Selbstmord erklärt. Ein Mißverständnis. ( water REC)