Lee Ranaldo

Between The Times & The Tides

Matador

Lee Ranaldo ist für Sonic Youth, was Eric Dolphy für John Coltrane war – der Mann fürs Lyrische und Komplexe, für die Avantgarde, die immer die Tradition fest im Blick hat. Seine Worte und seine Stimme leiht er nur ein, zwei Stücken pro Album – „Eric’s Trip“ und „Hey Joni“ von „Daydream Nation“ etwa stammen von ihm, „Mote“ von „Goo“, später „Skip Tracer“, „Karen Koltrane“ und „NYC Ghosts & Flowers“. Seine Soloalben waren bisher Versuchsanordnungen in Poetry und Minimal Music. Vor fünf Jahren spielte er für den Soundtrack von Todd Haynes’ Filmcollage „I’m Not There“ u.a. mit Tom Verlaine, Wilcos Nels Cline, dem Jazz-Keyboarder John Medeski und Sonic-Youth-Schlagzeuger Steve Shelley als The Million Dollar Bashers mitreißende, wuchtige Versionen von Dylan-Klassikern. Man hätte alles gegeben für ein ganzes Album dieser Formation.

Mit „Between The Times & The Tides“ geht der Wunsch nun endlich in Erfüllung. Verlaine ist zwar nicht dabei, dafür aber die Avantgardisten Alan Licht und Jim O’Rourke. Aus der Mitte dieser wundervollen Band entspringt nun ein psychedelischer Mahlstrom – natürlich hört man Sonic Youth heraus, aber auch die Stones, die Byrds, Neil Young und R.E.M.. Ranaldo sprechsingt sogar stellenweise wie Michael Stipe, wenn er von Straßen und Flüssen erzählt,  der Stadt und dem Meer, Schleiern und Segeln, Zeiten des Aufruhrs und einer New Yorker Jugend um 1970. Die Musik dazu wird im Verlauf filigraner, verzweigter – zwei dunkle semiakustische Balladen sind von elektrischen Gitarrenschlieren durchzogen, die Suite „Fire Island (Phases)“ changiert zwischen Crazy-Horse-Gitarren und Country, „Shouts“ ist ein kleines Dramolett aus Westcoast und Wahn. Am Ende steht eine Hommage an Ranaldos erste musikalische Liebe, die Beatles: „Tomorrow Never Comes“ – stilecht mit Rückwärtsgitarren, Tapespulen und leierndem Gesang.

„Between The Times & The Tides“ ist so souverän und gelassen, so voller in Sounds und in Worten aufgehobener Erinnerungen und kluger Könnerschaft, dass man fast von einem Alterswerk sprechen möchte – kreiert hat es allerdings ein sonisch Jugendlicher.