New Order

Movement

Warner 27.03.2000

Aus der Gruft in die Disco – und das ohne Qualitäts- und Gesichtsverlust. Auf ihren ersten fünf Alben – die jetzt als „Collector’s Editions“ wieder aufgelegt wurden – haben New Order eine ziemlich rasante Entwicklung vollzogen. Die obligatorischen, in anderen Fällen oft enttäuschenden „Bonus-CDs“ ergeben hier tatsächlich Sinn. Denn erst die 12-inch-Maxi-Versionen, Singles, Remixe und B-Seiten zeigen das volle Potenzial der Band – „Blue Monday“, die bestverkaufte 12-inch-Single aller Zeiten, ist nie auf einem regulären Album erschienen. Aber der Reihe nach.

„Movement“ (1981) stand noch komplett unter dem Einfluss des Selbstmords von Ian Curtis. Die Stücke „Dreams Never End“ und „Doubts Even Here“ werden von Bassist Peter Hook gesungen, den Rest übernimmt Bernard Sumner. Beide brummeln unsicher und im Verhältnis zur Musik viel zu leise. „Truth“ ist trotzdem toll: Sanft klackert die Rhythmusmaschine, eine Melodica trötet verloren im Hintergrund, und der Synthesizer klingt so frostig, als würden Eiszapfen aus ihm herauswachsen. Auch wenn ab und zu eine brachiale Gitarre dazwischenfährt: Das ist der Soundtrack einer zunehmenden gesellschaftlichen Entfremdung, die in jenen Jahren sehr bewusst wahrgenommen wurde. Das zupackende „ICB“ ist eine Art Nachruf, das Kürzel steht für „Ian Curtis Buried“.

Doch das wahre Joy Division-Vermächtnis befindet sich auf der zweiten CD: „Ceremony“ und „In A Lonely Place“ entstanden noch zusammen mit dem Sänger und zählten zum Live-Repertoire der letzten gemeinsamen Monate. Die New Order-Versionen der beiden Stücke erschienen im September 1981 als Single, dabei klingt „In A Lonely Place“ immer noch, als gehörte es eigentlich auf „Closer“: Man möchte danach sofort auf einem alten Friedhof spazieren gehen. Trotzdem eröffneten New Order noch im selben Jahr in Manchester ihren berühmt berüchtigten Club „Hacienda“.

Auf „Power, Corruption And Lies“ (1983) hat sich das Quartett endgültig von Joy Division emanzipiert. Schon wenige Monate nach Curtis‘ Tod war Gilliam Gilbert, die Freundin von Schlagzeuger Stephen Morris, als Gitarristin und Keyboarderin eingestiegen. So konnte sich Sumner stärker auf seine neue Rolle als Sänger konzentrieren – was man nun auch deutlich hört.

Doch damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Mann war nie ein guter Sänger, aber er hatte etwas jungenhaft Schüchternes in der Stimme, das später viele Shoegazer-Bands begeistert übernahmen. Die beiden 12-inch-Mixes von „Blue Monday“ überragen das sehr gute Album – natürlich. „Blue Monday“ war der Blueprint des neuen New Order-Sounds und der Vorläufer aller Indie-Disco- und Alternative-Dancefloor-Stile. Der zwischen Disco und Funk hoppelnde Beat besaß etwas Verspieltes, das Keyboard imitierte mit großer Leichtigkeit den damals grassierenden Electro-Sound, und trotzdem war das immer noch Rockmusik mit einem hohen Pop-Anteil. Wunderbar, wie sich Sumners Stimme und die supermelodischen Bassläufe von Hook verschränken und vorantreiben.

„Low-Life“ (1985) gibt dem Affen dann richtig Zucker: Das fast neunminütige „The Perfect Kiss“ – die erste New Order-Single, die sich auch auf einem Album fand – feiert den computerisierten Spielhallen-Sound von Afrika Bambaataa bis hin zum Plagiat. Doch das rockt und bolzt so wunderbar, dass man auch heute noch instinktiv dazu einen Electric Boogie tanzen möchte. Jede Form von Post-Punk war aus dem Sound von New Order verschwunden, „This Time Of Night“ ist purer Hedonismus zwischen New-Pop und Hi-Energy. Das war näher am harten Homo-House von Dead Or Alive als an den geschmäcklerischeren Entwürfen der Pet Shop Boys. Was Ian Curtis dazu gesagt hätte, wissen wir allerdings nicht.

Ein Stückchen zurück ruderten New Order auf „Brotherhood“ (1986). Und wieder gab es prächtige Ergebnisse: „Bizarre Love Triangle“, die einzige Single-Auskopplung des Albums, ist bis heute ein Monument britischen Pop-Songwriting. Ich habe trotzdem immer die Single „;True Faith“ bevorzugt, die sich als Remix auf der zweiten CD befindet. Auch das gewaltige „Touched By The Hand Of God“ ist hier im „Shep Pettibone Mix“ zu hören. Die Originalfassungen sind allerdings besser, denn gerade die Sound-Gimmicks von Remixern wie Pettibone, die in den Achtzigern für Epiphanien auf dem Dancefloor sorgten, klingen heute etwas angestaubt. Trotzdem: Man ahnt die großen staunenden Augen und weit geöffneten Ohren, die Typen wie Shaun Ryder oder Bobby Gillespie damals beim Hören dieser Songs entwickelten – die Happy Mondays waren nicht ohne Grund auf dem Factory Label.

Mit „Technique“ reagiert die Band 1989 auf Acid-House, die Entdeckung von Ibiza durch feierwütige Engländer (wie New Order, die „Technique“ zum Teil hier einspielten) und die wüsten Orgien in der eigenen Disco „Hacienda“. Der Beat steht nun klar im Vordergrund, auch wenn er in Stücken wie „Round & Round“ von einem nach wie vor verführerisch melodischen Gesang flankiert wird – man bemüht sich weiterhin um die Balance zwischen Pop und Dance, doch der Schwerpunkt hat sich verschoben.

Obwohl „Technique“ das kommerziell erfolgreichste New Order-Album des Pakets ist, finden sich trotzdem die wenigsten guten Songs. Als Bonus serviert man fast 20 Jahre später unter anderem den Carbineri-Mix von „World In Motion“, New Orders Hymne zur Fußball-WM 1990 – die Ära von House und Techno hatte begonnen: Songs galten plötzlich als furchtbar altmodisch.