Stakkato der Geistesblitze

Wer gerade mit dem Rauchen aufhören will, sollte sich das nicht antun: Jean-Luc Godard pafft seine Zigarre derart beiläufig, als bildete der Tabak den Treibstoff für sein Gehirn. Gelegentlich nimmt er ein Buch aus dem Regal, tippt – gern mit nacktem Oberkörper – auf seiner Schreibmaschine, die sich dann dank Zwischenspeicher auf der Tonspur verselbstständigt. Man sieht ihm beim Denken zu. Er arbeitet an einer wahren, in sich längst nicht abgeschlossenen Geschichte des Kinos, einer Geschichte ohne Worte, einer Geschichte der Nacht. Was soll das sein: Kino? Eine perverse Kunst, ein pädagogisches Unternehmen, das unsere Fantasien formt, wie es Slavoj Zizek definierte? Eine Traumfabrik, die eine Welt entwirft „im Einklang mit unseren Wünschen“, wie es bei Godard heißt? Oder doch eher, laut Jacques Derrida, eine spektrale Erinnerung, eine riesige Trauerarbeit?

Zehn Jahre hat Godard für die Fertigstellung seines für den französischen Canal Plus gedrehten, achtteiligen Videoessays „Histoire(s) du Cinema“ benötigt, der nun auf zwei DVDs inklusive Booklet mit Materialien und Interviews (Suhrkamp, 29,80 Euro) erscheint. Herausgekommen ist dabei ein Prosagedicht voller Rätsel und Momente unfassbarer Schönheit, eine raunende Tourde Force durch die Filmgeschichte(n) und die kriegerische Historie des 20. Jahrhunderts. Der Regisseur der Nouvelle Vague montiert Texte und Musik, konkrete Poesie, Porträtfotografien, Gespräche, Gemälde und Filmstills, in Ausschnitten, die sein Blick gewählt hat, jede Kadrierung ein Schnitt durch das Auge wie in Bunuels „Ein andalusischer Hund“. Er vereint zwei Aufnahmen unterschiedlicher Provenienz in einer Überblendung und schafft dadurch ein neues Bild – ein Palimpsest, das nicht mehr auf eine ursprüngliche Lesart reduziert werden kann. Diese Bilder geben keine Ruhe; sie kehren wieder, verändern ihre Form und finden sich in einem anderen Kontext wieder. Godard archiviert das Kino somit nicht, sondern erweitert es um bisher Ungesehenes, von ihm aus dem Off kommentiert. So gedenkt er etwa auch der Filme, die nie vollendet wurden (wie Orson Welles‘ „Don Quichotte“), die gleichwohl als Idee existierten. Kino als Utopie also. Zugleich vermittelt sich in jeder Montage, die eine Liebeserklärung an die Mittel des Films selbst darstellt, eine Kritik dessen, was das Kino (noch) nicht zu leisten imstande war. Zu einer Geschichtsschreibung, die sich nicht an bloßen Fakten entlanghangelt, gehört demnach auch die Frage, was das Kino idealiter hätte sein können.

Godards Ästhetik der sinnlichen und intellektuellen Überforderung, das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit der künstlerischen Ausdrucksformen, die stetige Thematisierung von Theorie und Praxis, von Produktionsbedingungen, Rezeption und Technik, macht den Zugang zu seinen „Histoire(s)“ freilich nicht leicht. Zumal Godard zumeist jener Humor fehlt, der beispielsweise bei Alexander Kluge immer wieder durchscheint, der sich in seinem filmischen Werk oft ähnlicher Methoden bedient. Doch nach einem mühsamen Beginn gewöhnt man sich rasch an das Stakkato der Bilder und Geistesblitze, an die vorbeirauschenden Bonmots, die popmusikalischen und klassischen Zitate, die hintergründigen Bezüge zur Zeitgeschichte. Denn Godards eigentümlicher Rhythmus, der Stummfilm und Wochenschau, Hollywood-Spektakel und Italienischen Neorealismus, Hitchcock, Ingmar Bergman, Fritz Lang und Eisenstein zusammentrommelt, wirkt schnell ansteckend, und die Zusammenhänge seiner Ausführungen, zum Beispiel über die Zerstörung des europäischen Kinos durch das amerikanische, werden im Laufe der Zeit immer klarer. „Mit dem alten Kinohirn, das irgendwo im Narrativen festhängt, können wie die Histoire(s) tatsächlich nicht sehen“, schreibt Klaus Theweleit in seinem konzisen Begleittext. Man müsse sie vielmehr wie eine Schallplatte genießen, die man so oft hört, bis man sie auswendig kennt, bis sich die lyrischen Refrains und Thesen von Godard endgültig eingeprägt haben: „A Film Is A Girl And A Gun.“ Dieses Verfahren hat den Vorteil, nicht einer vorgefertigten Analyse der Kinematografie zu folgen, die chronologisch ohnehin geläufige Meilensteine präsentiert und erläutert.

Godards poetische Sichtweise, das Beschleunigen und Verlangsamen der Sequenzen, das Vor- und Zurückspulen, die Doppelbelichtung, lässt vielmehr Frei räume für die eigene Interpretation. Der Zuschauer wird im positiven Sinne zum Lückenfüller; er kann unmöglich alle Assoziationen sofort nachvollziehen, aber er kann einzelne zunächst kryptische Text- und Bildkombinationen im Kopf hin und her wenden, bis sie sich wie eine literarische Metapher plötzlich erschließen und Licht ins Dunkel des Kinosaals bringen. Er sieht sich einer Fülle an Eindrücken gegenüber, einer scheinbar undurchdringlichen Polyphonie, die herausfordert und provoziert. Gemütliches Zurücklehnen im Fernsehsessel ist definitiv nicht angesagt. Aber so, wie man nicht jedes Pop-Album immer komplett durchhört, kann man auch in die „Histoire(s)“ reinschalten, sich eine Weile atemlos treiben und inspirieren lassen, eine neue Lieblingszeile entdecken und nebenbei einiges über das Leben, die Liebe an sich, die Liebe zum Kino, über den Abschied, die Zärtlichkeit und die Verachtung lernen: „All die Geschichten um Sex/ Gefährliche Liebschaften / Mit Liebe spielt man nicht/ Farewell, My Lovely.“

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