Tocotronic

Wie wir leben wollen

Buback/Universal

In den ersten Momenten erschrickt man über den Ton, den Tocotronic anschlagen: „Hey! Ich bin jetzt alt! Hey! Bald bin ich kalt!“, singt Dirk von Lowtzow zu herbstlich verwelkenden Gitarrenläufen in dem Eröffnungsstück „Im Keller“, und man denkt sich: „Oh nein, bitte nicht noch ein nicht mehr ganz junger Musiker, der sich öffentlich mit seiner verwelkenden Jugend auseinanderzusetzen gedenkt.“ Aber nein! Denn Tocotronic sehnen sich weder nach Trost noch nach Mitleid, sie zeigen auf diesem Album vielmehr, wie man zu Lebzeiten für Unsterblichkeit sorgt. Den Verfall des Körpers besingen sie bloß, weil sie um die Wonnen des vom Körper befreiten Geistes wissen: „Im Keller“, so erfahren wir bald, wartet bereits eine „neue Version“, die nach dem Ende des Ich-Erzählers dessen Erbe antritt. „Wie wir leben wollen“ ist ein weiteres Großwerk dieser im fortgeschrittenen Alter so überraschend aus den Niederungen des deutschsprachigen Indie-Rock zu epochaler Bedeutung emporgestiegenen Band. Es handelt vom Tod und der Wiederauferstehung, vom Körper und der Überwindung des Körpers, es handelt von gelebtem Leben und glühender Zukunft, vom Erinnern und Sehnen, von Weltmüdigkeit und dem Wunsch nach ewiger Wiederkehr. So schwelgend und süß hat Dirk von Lowtzow noch nie gesungen; so lieblich blühten die bunten Feedbackblumen noch nie, die Rick McPhail in das immer operettenhafter werdende Spiel von Arne Zank und Jan Müller flicht. Die Musik ist kraftvoll, aber zugleich dezent und geschliffen; sie ist druckvoll, ohne zu schreien. Sie scheut jedes Muskelspiel, aber ist doch nie schlaff. Im Herbst ihres Daseins haben Tocotronic sich zu einer Kunst aufgeschwungen, die Lust und Schmerz, Verfall und Werden gleichermaßen umfängt – eine Musik des Körpers, die die Körperlichkeit doch weit unter sich lässt: Man kann auch Metaphysik dazu sagen.