Tonträger :: im Juni

Wenn Schwermut episch wird. Wenn die Egozentrik Songs schreibt Wenn die Kindheit ein Leben dauert. Wenn der Himmel die Grenze ist. Wenn der Wahnsinn nebenan wohnt. Wenn Drogen nicht mehr helfen. Wenn Walt Disney und William Shakespeare gemeinsam eine Platte aufnehmen. Wenn alles gesagt ist und niemals Schluß.

Heißen Sie Billy Corgan willkommen, den König der Welt, den Herrscher der Rockmusik, den Fürsten der Finsternis, den Jäger der Blauen Blume. Diesmal geht es um alles, und Corgan ist bereit Leer und öd liegt das Feld der amerikanischen Rockmusik da, kein Retter in Sicht, und ist die Lage nicht wirklich verzweifelt? Wer eint die Jugend, wer stiftet Identität, wer tanzt auf dem Vulkan? Der Billy doch wohL Frau weg, Mutter gestorben, Keyboarder tot, Schlagzeuger geschaßt, Produzenten abgesetzt – alle Voraussetzungen für den großen Coup waren geschaffen. Und so geschah es: Nur noch begleitet von dem treuen, leidensfähigen Gespann James Iha und DArcy holt Corgan zu einem Schlag aus, der sogar Roger Waters zur Zeit von „The Final Cut“ Respekt abgenötigt hätte bloß daß“Adore“kein Schlag ins Wasser ist, sondern ins Kontor. Es ist „Tubular Beils „ohne Glocken und ohne Tonträger IM JUNI

Mike Oldhcld. Es ist „Batman“ ohne Michael Keaton. Es ist „Titanic“ ohne Schiff und Leo.

Corgans erste titanische Entscheidung war der beispiellose Entschluß, Jimmy Chamberlain am Schlagzeug gar nicht zu ersetzen, nachdem er die besten Rock-Drummer seines Landes geprüft hatte. Statt dessen setzte er die Drurn-Machine ein, wie sie noch niemand in der Rockmusik eingesetzt hat ein kunstloses, geradliniges Zischen und Kesseln, überhaupt nicht bemüht, irgendwie echt zu klingen, und dabei nicht ein Jota Drum & Bass oder Big Beats oder modernistisch. Diese Maschine sagt: Der Schlagwerker hatte ein Drogen-Problem. Wir mußten ohne ihn weitermachen. Er ist weg. Der Fleck ist blind, auf dem Jimmy einst saß.

So war ^idore“ von Beginn an eine Prothese, doch eine fiinktionablere gab es nie. Corgans zweiter, nun fast gottgleicher Entschluß war es, die wütenden Propeller-Gitarren, für die The Smashing Pumpkins berühmt sind, zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen, besser: sie zu streichen. Und das bedeutet, daß Iha und DArcy keine Aufgaben mehr hatten. Was wiederum bedeutet, daß Corgan das Solo-Album schon gemacht hat, über das er angeblich ja noch immer nachdenkt. ^Adore“ ist ein director’s cut ohne Beteiligung eines Studios.

Corgans unglaublichste Entscheidung war es jedoch, die Rockmusik mit einer Platte fast ohne Rock retten zu wollen. Klavier und Synthesizer setzt Corgan in einer Weise ein, die sich kein Amateur-Rocker erlauben würde. Der Song „1979“ von „Mellon Collie“ ist der Prototyp, was insofern schlüssig ist, als alle Wege Corgans zu diesem Jahr zurückführen. Als“Siamese Dream“gerade erschienen war, saß er zu Interviews in einem Hotelzimmer und gab freundlich distanziert Auskunft. Nur einmal leuchteten seine Augen: als er nach seinem Traum gefragt wurde, dem siamesischen. Und er antwortete: Disneyland. Grimms Märchen. Der alles überspannende Traum seit seiner Kindheit, die er als eigenbrötlerischer, zu lang geratener Junge in einem zerrütteten Elternhaus verbracht hatte.

Sein liebsten Filme sind die von Tim Burton, diese herzensreinen Fabeln von Träumern und Spinnern wie „Edward mit den Scherenhänden“ und „Ed Wood“, und es liegt eine Tragik darin, daß Corgan erst für „Batman und Robin“ den Titelsong schreiben konnte, als Burton nicht mehr inszenieren durfte. „Batmans Returns“ war sein Film, der mit dem Pinguin-Mann und den vielen falschen Tieren und Catwoman und der Dickensschen Weihnachtsgeschichte.

Was ist nun großartig an, Ein Mann allein realisiert seine Vision, jawohL Aber er realisiert sie doch anders, als man allen Vorberichten entnehmen konnte. Hier tobt kein Getriebenet; hier behauptet sich kein Neurotiker. Billy Corgan singt zarte und zugleich fiebrige Oden „Tb Sheila“, „For Martha“ (Billys an Krebs gestorbene Mutter), an „Annie-Dog“ und „Pistol Pete“, einen Baseball-Helden der 50er Jahre. „Ava Adore“ ist angeblich ein Hymnus auf eine russische Seglerin, die er in Hamburg kennengelernt hat, und das ist natürlich so unglaubwürdig und entlegen und schön, daß es die Wahrheit sein muß. Die Songs sind schwebende Nachtmusiken, wie beiläufig gespielt, geträumt. Ein Piano-Intermezzo ist hier so selbstverständlich wie im Prog-Rock. Am Ende klimpert mal das Klavier ohne Ziel, in achtminütigen Stücken verliert sich die Melodie, um in ein rauschendes Finale zu münden.

Alles ist Erinnerung auf diesem Album, Elegie und Hommage. Sterntaler fallen, wenn Corgan silberzüngig schwört: „I will follow you/ See you on dieotherside.“ Dann schwelgen plötzlich Röten wie in dem Film mit dem großen Dampfer. Aber hernach bimmelt der Synthesizer kirre, setzt der Chor ein, jubiliert alles, wie es sogar Joe Jackson nicht wagen würde. Ganz, ganz großer Meta-KJtsch. ^4dore“hat kein Maß; es ist Traumzeit, Weltenferne, kosmische Entrücktheit. „Love is good and love is blind/ Love is good and love is mine/ Love is good and all the time/ Hello goodbye/ Hello goodbye“, singt Corgan in dem Mantra „Shame“. Wie David Fricke berichtet, dachte Corgan am Ende der Aufnahmen an „Strawberry Fields Forever“, auch dies ein Song der Evokation, als er auszudrücken versuchte, wie die Magie in einen Pop-Song kommt. Bei „Strawberry“ war es die alte Pump-Orgel und das wüste Gelärme im Mittelteil, das sich der eitle Schwätzer George Martin heute zuschreibt. Was der spät hinzugezogene Rick Rubin an „Adore“ geleistet hat, ist wohl das, was er zuletzt immer geleistet hat: die Konzentration auf Stimme und Aura des Künstlers. Nun ist Billy Corgan noch nicht Johnny Cash – gewirkt hat es trotzdem.

Und glauben Sie mir: Diese Stimme hört man noch lange. Adoration für Corgan. 4,5

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