Rolling Stones in Wien: die überlebensgroßen Archetypen des Rock’n’Roll

Die Stones bewiesen bei ihrem Wien-Konzert am 16. Juni 2014 wieder einmal, dass Resistenz gegenüber Veränderungen positive Seiten hat. Von Markus Brandstetter.

Es fiel den Rolling Stones auch bei ihrem 14. Österreich-Konzert in ihrer rund fünf Dekaden umfassenden Karriere nicht schwer, das Wiener Ernst-Happel-Stadion binnen kürzester Zeit auszuverkaufen. Das letzte Mal gab man sich 2006 die Ehre, acht Jahre, in denen sich eigentlich wenig geändert hat. Der unsägliche Begriff „Rock-Opas“ saß Kritikern auch schon vor Jahrzehnten recht locker, davon, dass dies „das letzte Mal sein könnte“ sprach man auch schon seit den Achtzigern (für anschließend in die Höhe schnellende Verkaufszahlen seit jeher ja nicht hinderlich), und mal ehrlich: Setlist-Überraschungen stehen bei Jagger, Richards, Wood und Watts auch nur marginal an. Veränderungsresistenz hat aber auch ihr Gutes, und mehr noch: Irgendwie schafften es die Rolling Stones auch an diesem Abend im Wiener Happel-Stadion nicht nur das gewohnte (volle) Programm zu bieten, sondern musikalisch wirklich zu begeistern.

Klar, die Kehrseite des durchschnittlichen Stadion-Rock-Publikums ist freilich, dass Konzerte leicht zu Dienstleistungs-Großevents werden. Undenkbar, säße Jagger und Richards beim Verfassen der Setlist einmal der Schalk im Nacken, und man entschiede sich für ein, zwei obskure B-Seiten anstelle von „Satisfaction“ oder „Sympathy For The Devil“. Stadion-Konzerte  sind Generationen-verbindende Orte des Best-Of-Tourismus. Natürlich sind die Stones auch ihre eigene Lebensform, Archetypen in Überlebensgröße. Und nicht zuletzt so etwas wie ein Riesenkonzern.

Dennoch, bei allem Professionalismus kommt vom gewohnten Opener „Start Me Up“ das Gefühl dessen auf, worauf die Firma fußt: diese beinahe schelmische, jungenhafte Spielfreude am Rock’n’Roll, am Rhythm and Blues. Jeder bei den Stones hat längst seine einzementierte Rolle, und an diesem Abend füllt sie jeder einmal mehr in Bestform aus. Jagger, der Überprofi und Entertainer, durchtrainiert und schlank, in Röhrenjeans und im Dauerlauf. Richards, mittlerweile eher wie ein Miami-Pensionist als ein Pirat gekleidet, mit seiner unfassbaren Coolness, seiner  scheinbaren Nachlässigkeit und seiner Nonchalance. Charlie Watts, der Stoiker. Ronnie Wood, der Sorgsame, der, der Richards mal aushilft, wenn dieser daneben greifen sollte. Und dann natürlich die Riege der Gastmusiker, die den Sound des Kerns nicht nur komplettieren, sondern in der Vergangenheit auch oft aufgefangen haben.

Es braucht an diesem Abend nur ein paar Anfangsakkorde, um die Stimmung nach oben zu treiben. Hier muss man sich nicht aufeinander eingewöhnen: Es sind schließlich die Stones, und die legen mit „You Got Me Rocking“ und „It’s Only Rock’n’Roll (But I Like It)“ amtlich nach, ehe man nach „Tumbling Dice“ mit „Angie“ eine kurze Balladenverschnaufpause gibt. Nach „Doom And Gloom“ steht jenes Lied auf dem Programm, das Fans über das Internet aus einer handvoll Möglichkeiten wählen konnten. Jagger witzelt – auf deutsch – , man wollte eigentlich „Rise Like A Phoenix“ von der österreichischen Gewinnerin des Eurovison Songconest 2014, Conchita Wurst, spielen, habe sich dann aber doch für einen Stones-Song entschieden. In Berlin gab es denselben Witz mit den Scorpions. Wenig überraschend fiel die Wahl auf „Get Off My Cloud“, bei dem die Band in einer energetischen, rastlosen Version begeistert. Bei jener Voting-Aktion verschrieb man sich übrigens ein wenig beim Städtenamen: statt „#StonesWien“ stand da im Vorfeld „#StonesWein“ zu lesen. Vielleicht ja ein Seitenhieb auf Keith Richards And The Winos?

Apropos Keith: der übernimmt nach einer fulminanten Version von „Honky Tonk Women“ für zwei Songs die Lead-Vocals. Macht erst mal die altbekannte Geste und klopft mit der Faust auf Kopf, Herz und Lendengegend. Sagt „It’s good to be here, well, it’s just good to be anywhere“, wird frenetisch bejubelt und grinst erstmal sein unfassbares Grinsen über beide Ohren. Ein Grinsen, das uns zu sagen wollen scheint: „Ich bin überraschter als ihr, immer noch da zu sein“. Dann greift er zur Akustikgitarre, „You Got The Silver“ steht am Programm: Herzzereißend räudig und irgendwie auf eine schräge Art würdevoll wie immer, wenn „Keef“ Balladen singt. Danach bringt man ihm eine Les Paul Junior, „Can’t Be Seen“ ist dran, Richards sorgt für den Rhythmus, Ronnie Wood soliert und erntet dafür Blicke der Zuneigung von seinem alten Buddy Keith.

Bei „Midnight Rambler“ holt man dann Ronnie Woods Vorgänger Mick Taylor auf die Bühne, und liefert mit einer langen und exzessiven Version des Songs vielleicht so etwas wie ein Highlight des Abends. Hier legen die Stones die Essenz des halben Jahrhunderts Bandgeschichte auf den Tisch, zelebrieren Gospel und Rhythm and Blues, das alles will gar nicht aufhören.

Es geht Schlag auf Schlag: „Miss You“, „Gimme Shelter“ (bei dem die Backing-Sängerin Lisa Fischer ihren wohlverdienten Platz im Rampenlicht bekommt), „Jumping Jack Flash“. Danach wird die Bühne in feuriges Blutrot getränkt und Jagger gibt den Mephisto, selbstredend zu „Sympathy For The Devil“. Als das Percussion-Intro von Band ertönt, setzten auch gleich die ersten Falsetto-„Uh-Uhs“ des Publikums ein. Als Richards beim Solo mal nicht den richtigen Ton findet, setzt er einmal mehr dieses Grinsen auf. Eigentlich ist seine gelegentlichen Verspieler bereits längst als Teil einer Stones-Show zu werten – das Zusammenspiel der Band gibt Richards Raum für seine unnachamliche Art, zu spielen – diese coole, „Laissez-Faire“-artige Zurückgelehntheit, dieses beiläufige aber begeisterte Reinstreuen von großen Licks und Riffs. Wobei man sagen muss, dass Keith an diesem Abend beinahe immer spot on ist. Zumindest die Keith-Richards-Variante von spot on.

Erwartungsgemäß kommt für die erste Zugabe ein Chor auf die Bühne um das Intro von „You Can’t Always Get What You Want“ zu singen, und weil ohne „(I Can’t Get No) Satisfaction“ ohnehin keiner von einer Stones-Show nach Hause gehen würde, gibt es ebenjenes (mit Mick Taylor an der Akustikgitarre) auch als obligatorischen Abschluss. Und weil wir in einem Stadion sind, gibt es auch noch ein kurzes Feuerwerk am Schluss, die Band verbeugt sich, zuerst in ganzer Besetzung, dann nochmal zu viert. Und da sind sie also noch ein letztes Mal auf der Leinwand, diese überlebensgroßen Archetypen des Rock’n’Roll.

Setlist:

1. Start Me Up

2. You Got Me Rocking

3. It’s Only Rock ’n‘ Roll (But I Like It)

4. Tumbling Dice

5. Angie

6. Doom and Gloom

7. Get Off of My Cloud (by request)

8. Out of Control

9. Honky Tonk Women

10. You Got the Silver  (Keith Richards on lead vocals)

11. Can’t Be Seen (Keith Richards on lead vocals)

12. Midnight Rambler (with Mick Taylor)

13. Miss You

14. Gimme Shelter

15. Jumpin‘ Jack Flash

16. Sympathy for the Devil

17. Brown Sugar

Zugabe:

18. You Can’t Always Get What You Want

19. (I Can’t Get No) Satisfaction (with Mick Taylor)

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