Sex & Glam & Rock’n’Roll

Glam fand im atlantischen Ozean statt, auf halbem Weg zwischen London und New York. In den 1960er-Jahren erfand die Designerin Mary Quant den Minirock in London. Zur gleichen Zeit erfand die Designerin Vicky Tiel den Minirock in New York. So ist das eben. Ideen, deren Zeit gekommen ist, liegen in der Luft, und Menschen mit Visionen ergreifen sie. Zum Beispiel Glam: Glam kam aus London, Glam kam aus New York. Er fiel vom Himmel. Es war Synchronizität - das Einzige, was überhaupt auf die Hippie-Ära der 1960er-Jahre hatte folgen können.

Als ich 1970 in New York City landete, war das der vermutlich übelste Ort, um an einen Plattenvertrag zu kommen, obwohl alle wichtigen Plattenfirmen hier ihr Hauptquartier hatten. Jimi Hendrix musste von New York nach London aufbrechen, um berühmt zu werden (er war so was von glam, bevor es Glam überhaupt gab!). The Velvet Underground waren zu Hause ein Flop. In dem Sommer, in dem ich ankam, spielten sie im Max’s Kansas City, danach verließ Lou Reed die Band und zog zu seinen Eltern. Bridget Berlin, einer von Andy Warhols Superstars, nahm diesen letzten Auftritt auf einer Sony-Kassette auf. Daraus wurde später die LP „Live at Max’s“(1972). Sie waren großartig. Zu großartig.

Das Problem bestand vielleicht darin, dass New York dem Rest des Landes zehn Jahre voraus war. Ich dachte immer, dass am Times Square die Zeit anfing und dann langsam durch Jersey sickerte, bis sie die Landeier erreichte, die den großen Marktplatz Amerikas ausmachen. Die großen Bands hörten auf Namen wie Kansas, Black Oak Arkansas, Alabama, Boston oder Chicago. Was sagt uns das? Die Manager in den Plattenfirmen wussten, dass New Yorker Bands zu far out, zu abgefahren waren. In Wahrheit war New York einfach anders. Johnny Carson riss jeden Abend in seiner „Tonight Show“ Witze darüber, was für ein gefährliches Pflaster New York sei und dass selbst die dortigen Hippies einem Angst einflößten. So entwickelte sich eine Szene, die nicht etwa Musik für den Rest der USA, geschweige denn den gesamten Globus machte, sondern für New York. Die Punkszene und die Glamszene, die jener voranging, machten Musik für sich und ihre Freunde. Die Musiker waren ambitioniert, aber doch eher von der Art, wie ein Jugendlicher sagt, er wolle ein Filmstar werden, wenn er groß ist. In Wirklichkeit hätte es völlig gereicht, im East Village berühmt zu sein. So fingen New Yorker Musiker an, ganz sie selbst zu sein.

In der großen, weiten Welt des Rock’n’Roll neigten Musiker dazu, wie gut betuchte Versionen ihres Publikums auszusehen -Hippies mit Cash. Die New Yorker begriffen jedoch, dass sie es mit Showbusiness zu tun hatten, und kleideten sich dementsprechend für die Bühne. Es ist wahr, dass New York seine eigenen Hippies hatte, aber hier war nicht Haight-Ashbury. New Yorker Hippies stritten für Frieden und Liebe, aber sie trugen Messer. New Yorks Hipster wussten, wie es auf der Straße zuging, und man sah dort eine Menge von ihnen, egal welcher Rasse und welchen Geschlechts. Vor allem sah man Persönlichkeit und Attitüde. Und Sex. New York drehte sich schon immer um Sex und Drogen. Und danach natürlich um Rock’n’Roll. Die New Yorker Urszene des Glam hatte ihren Mittelpunkt im Mercer Arts Center. Die Bands, die dort auftraten, waren Freaks: The Magic Tramps, Ruby and the Rednecks, The New York Dolls, Harlots, Tuff Darts, Teenage Lust und The Lustettes, Suicide, Luger (mit Ivan Kral an der Gitarre, später Patti-Smith-Band), Rags, Wayne County, Street Punk und Sniper, deren Sänger später Joey Ramone hieß. Keiner nannte es Glam.

Keiner nannte es Punk. (Punk hieß nicht mal Punk, bis er passé war.) Es war schlicht New-York-Rock’n’Roll, und doch wurde hier eine einzigartige Ästhetik zusammengeschustert. Nicht einmal die Medien nannten es Glam. Sie nannten es Glitter-Rock. Damit meinten sie geläuterte Hippies in Glitzerkostümen, Lidschatten und etwas Spandex mit Plateauschuhen, die Rock mit weniger Soli und zweideutigeren Texten spielten. Es waren junge heterosexuelle Männer wie die New York Dolls, die ihre Modetipps von den Transvestiten des Times Square und den Strichern von der Third Avenue bekamen. Skandal muss schließlich skandalös bleiben. Es war, als würden Hell’s Angels und sizilianische Mafiosi einander auf die Lippen küssen, um Außenseiter zu schockieren und sich gegenseitig ihrer Solidarität als Außenseiter zu versichern.

Die Rolling Stones waren die Pioniere der sexuellen Ambivalenz. Mick Jagger ging als Liz Taylor in Donald Cammells und Nicolas Roegs Proto-Glam-Film „Performance“ (aufgenommen im Jahr 1968, gezeigt jedoch erst 1970), und die gesamte Band erschien in Drag auf dem Cover ihrer Single „Have You Seen Your Mother, Baby, Standing in the Shadow?“(1966). Doch die New York Dolls drangen in völlig neue Dimensionen vor, beinahe wie eine Karikatur der Stones. David Johansen und Johnny Thunders, Sänger und Gitarrist der Gruppe, gaben sich wie eine nuttige Dragqueen-Version von Mick und Keith mit vollem Lippenstift und Mascara, toupierten Haaren und Plateaustiefeln. Sie sollten diese Quaalude Vision (ein Beruhigungsmittel, das damals in war) übers Meer tragen.

Zu schockieren war auch die Absicht von Alice Cooper, der aus Detroit nach New York gezogen war, um hier seine eigene polymorph perverse Vision zu inszenieren. Cooper brachte die USA endlich dazu, auf Glam zu reagieren. Die New York Dolls und die Ramones gingen auf Tournee in Großbritannien, und das Ergebnis war Punk. Der Glam-Verleih funktionierte jedoch in beide Richtungen, und beide Seiten des Atlantiks zeigten einander ein nächstes Level, nach dem sie streben konnten. Iggy Pop und Lou Reed tourten durch Großbritannien, dafür bekamen die USA David Bowie, T. Rex, Mott The Hoople und äh Jobriath, ein Versuchsballon in Sachen Gay Rock, der leider von der heterosexuellen und spießigen Plattenindustrie abgeschossen wurde, und Johnny Cougar, nämlich John Mellencamp, bevor dieser berühmt war. Er hatte in Tony DeFries denselben Manager wie Bowie. Und dann war da noch Gary Glitter, dessen „Rock And Roll Part 2“ war 1972 ein Riesenhit in den Schwulendiscos von New York.

Die New Yorker Hipster wussten, dass der britische Glam-Rock eine Retourkutsche war. Wir hatten begonnen mit Warhols Factory, mit Jack Smith (dessen Filme „Flaming Creatures“ und „Normal Love“ aus dem Jahr 1963 stammten), mit Les Ballets Trockadero de Monte Carlo und dem legendären Theatre of the Ridiculous, das 1965 gegründet worden war. Auf Vorlage aus Detroit mit dessen Silbern-angemaltem-freier-Oberkörper-Bluejeans-Knaben Iggy Pop und aus San Francisco mit der Truppe der Cockettes. Das Theatre of the Ridiculous war bahnbrechend. John Vaccaro war der Regisseur, Ronald Tavel (nebenbei Drehbuchautor für Warhol) schrieb die Stücke. Charles Ludlam schrieb ebenfalls und war einer der Stars des Ensembles, dem auch die Factory-Superstars Jackie Curtis (der auch Stücke schrieb), Candy Darling, Mary Woronov, Taylor Meade, Ondine und Ultra Violet, Jack Smiths Superstar Mario Montez, Wayne/Jayne County und Ruby Lynn Reyner (von Ruby and the Rednecks), ja sogar Patti Smith zeitweise angehörten.

Sie schufen gemeinsam die Ästhetik des Glam. Bowies Partner Leee Black Childers glaubt, dass Ridiculous-Regisseur John Vaccaro für den Glitzerwahn verantwortlich war: „Die Leute trugen schon lange Glitzerkram, und die Dragqueens trugen ihn auf der Straße, aber ich glaube,,Glitter‘ hob wirklich ab, als John Vaccaro Material für Kostüme einkaufen ging Er stieß auf diesen kleinen Laden in Chinatown, in dem ein großer Ausverkauf von Glitzerkleidung im Gange war. Er kaufte alles – gigantische Einkaufstüten voll Glitzerzeug in allen Farben.“

Andy Warhols persönlicher Glamour hingegen war eher ein Abglanz: Er war eine hochpolierte Oberfläche und wusste nur allzu genau, wen er spiegeln musste. Seine Weltanschauung kommt am besten in seiner Sicht auf die Factory zum Ausdruck, nämlich, dass er im Schlepptau seiner Entourage fuhr, nicht sie in seinem. Er wusste, falls er nicht selbst magnetisieren konnte, so konnte er doch eine Entourage zusammenstellen, der das gelang. Warhol war der Meister-Impresario, und er wusste exakt, wann und wo er die angesagtesten und öffentlichkeitswirksamsten Formen von Infra-Glamour borgen konnte. Mit untrüglichem Gespür wählte er die besten Ideen und Talente aus einem breiten Spektrum aus und machte aus ihnen Meta-Glamour.

Die Factory-Glam-Ästhetik war ein berauschender Cocktail aus Haute Couture und feiner Gesellschaft (Baby Jane Holzer, Edie Sedgwick, Ultra Violet, Susan Bottomly), aus modernem Tanz über das Judson Dance Theater, Rock über Velvet Underground and Nico, Stricher-Macho-Hengsten (Joe Dallesandro, Louis Waldon, Eric Emerson) und campigen Dragqueens (geborgt und adoptiert waren diese von dem Filmemacher und Künstler Jack Smith, der den Begriff „Superstar“ einführte, und vom Theatre of the Ridiculous). Warhol machte gewaltig Kasse mit der skandalösen Ästhetik, indem er eine um einiges kommerziell schmackhaftere Präsentationsweise schuf, diese auf Film bannte und mit seinem unglaublich einflussreichen, wenn auch keineswegs profitablen Theaterstück „Pork“ (1971) nach London exportierte. Das Stück und seine Besetzung waren dermaßen erfolgreich in der Szene, dass David Bowie und Tony DeFries im Anschluss an die Laufzeit im Londoner Roundhouse das ganze Ensemble anheuerten, um ihr New Yorker Büro zu führen.

Wenn Andy Warhol der Künstler war, der für die Welt am meisten Glam darstellte, so wusste er selbst doch, dass die Künstler Ray Johnson, David Hockney und Jack Smith am meisten Glam waren. Jack war Glam in einer Mülltonne, Ray hingegen war Glam in einem Vakuum: viel cooler (eisiger) und distanzierter und reizender noch als Warhol. Glam strebt nach Elfenbeintürmen. Eiseskälte war eine wesentliche Eigenschaft des Glam. Glam-Bands waren keine Stagediver. David Bowie hatte ein Talent für Kälte. Sie durchzieht seinen Song „Andy Warhol“. Ich war gerade in der Factory, als Bowie kam, um ihn Andy vorzusingen. Andy fragte, ob wir ihn reinlassen sollten. Andy fand Bowies lange Haare langweilig. In der folgenden Woche ließ ich mir meine abschneiden. Bowie seine kurz danach. Ebenso wie Warhol war Bowie ein Meister des Borgens. Er borgte von Warhol wie Warhol von Vaccaro und Smith. Glam wurde durch Bowie zu einem weltweiten Phänomen und kam im Mainstream an. Er selbst wurde zu einem wahrhaften Konglomerat aus Glam mit seinen Appropriationen von Warhol und mit seinen Ablegern Lou Reed und Iggy Pop.

Eine weitere Vision von Glam kam im November 1971 mit den Cockettes aus San Francisco nach New York. Die Cockettes waren eine Art Transgender-Hippie-Kommune auf einem LSD-und Glitter-Trip. Die komplette Truppe mit ihren 47 Mitgliedern kam aus San Francisco mit ihrer Hippie-Glam-Revue „Tinsel Tarts In A Hot Coma“ an das Anderson Theatre im East Village. Die Cockettes waren zwar in der Szene ein Hit – es hieß, Alejandro Jodorowsky habe seine Frau für eine der bartlosen Cockettes verlassen -, doch ihr Auftritt war ein spektakulärer Flop. Die New Yorker erwarteten selbst von degenerierten Performern Professionalität. Gore Vidal witzelte: „Kein Talent zu besitzen ist nicht ausreichend.“ Die Cockettes bewiesen jedoch ihr Talent in Form eines riesigen schwarzen Transvestiten namens Sylvester, der nach einigen Auftritten der Truppe abschwor und eine Solokarriere begann. Er gründete die Hot Band und machte alles in allem elf Glam-Platten, bevor er 1988 an den Folgen von AIDS starb.

In der Zwischenzeit hatte John Waters seit den 1960er-Jahren im Sibirien des Showbusiness, auch bekannt als Baltimore, Maryland, gearbeitet und in seinen außergewöhnlichen Filmen Glam-Haltungen mit Schmuddelästhetik und nihilistischem Humor verschmolzen. 1972 trat er mit dem Film „Pink Flamingos“ ins Schlampenlicht, der die dunkle Seite von Glam auslotete. Waters wurde zur festen Größe in der neuen Institution des Mitternachtskinos -wo Kultfilme zu Zeiten liefen, in denen die Leinwände sonst dunkel blieben. Waters‘ Clan (der an eine Warhol-Factory-Version der Manson Family erinnerte) lebte sich in der New Yorker Kulturszene ein und lieferte eine amüsante Synthese aus Glamour, Ruhm und Kriminalität. Divine, mit einer Pistole ausgestattet in der Rolle des Dawn Davenport, fasste Waters‘ Philosophie in der Schlussszene seines Films „Female Trouble“ von 1974 zusammen: „Schauen Sie mich ganz genau an, denn morgen werde ich auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen des Landes stehen! Sie sehen hier die Verkörperung des Verbrechens, vergessen Sie das nie Und ich bin so verdammt schön, dass ich es selbst nicht aushalte! Keine Bewegung jetzt. Wer will berühmt werden? Wer will für die Kunst sterben?“

So viel zur Philosophie. Sensationsgier hatte sich in den Kulturhauptstädten etabliert, doch der ultimative Mitternachtsfilm sollte sie bis in die letzten Winkel der Medien und der kulturellen Provinz tragen. „The Rocky Horror Picture Show“ von 1975, der auf einer Londoner Bühnenproduktion des Jahres 1973 basierte, entwickelte sich zu einem globalen Ritual, bei dem sich Zuschauer ohne Rücksicht auf das Geschlecht wie ihre Lieblingsfiguren verkleideten und so bislang unerforschte Tiefen von schrägen Identitäten offenbarten, die die Jugend der Mittelklasse durchzogen. Ich erinnere mich an Jugendliche, die den Transgender-Glam in ahnungslose Vorstadtkinos brachten. Tausende von verwirrten, langhaarigen, im Rock’n’Roll Pubertierende sangen den aus Bowies Feder stammenden Text zu „All The Young Dudes“ zusammen mit Mott The Hoople: „Now I’ve drunk a lot of wine and I’m feeling fine/got to race some cat to bed.“ Die Revolution war in vollem Gange. Heute sind jene jungen Dudes verheiratet, manche sogar miteinander. Die Tragödie des Glam besteht darin, dass viele seiner strahlendsten Sterne jung zu Tode kamen (Candy Darling, Jackie Curtis, Jobriath, Eric Emerson, Johnny Thunders, Klaus Nomi, Marc Bolan) oder nicht die Höhen erreichten, die sie verdienten. Stattdessen wurde Glam zu Kiss (vier Soloalben, die an einem einzigen Tag herauskamen) und Metal-Bands, die so taten, als seien sie Dragqueens. Für mich war der wegweisende, triumphale Augenblick für Glam derjenige, in dem Wayne County mit blinkenden Lichtern in ihren Haaren Handsome Dick Manitoba von den Dictators in den Arsch trat, als er sie betrunken angepöbelt hatte („Homo!“). Glam bam thank you ma’am. Der aufgewirbelte Glitzerkram hat sich noch immer nicht gelegt.

Glenn O’Brien war bis 1974 Redakteur bei Andy Warhols „Interview“, danach arbeitete er u. a. bei „High Times“ und „Harper’s Bazaar“.

GLITTER HEROES

ENGLAND

David Bowie

wurde mit „Ziggy Stardust“ zur Glam-Ikone. Die Kostüme stammen von Kansai Yamamoto und Freddie Burretti

Marc Bolan

mutierte vom Folkie zum Glitzer-Rocker und Teeniestar. Mit T. Rex spielte er 1971 das Meisterwerk „Electric Warrior“ ein

Mott The Hoople

Ian Hunters Band nahm mit „All The Young Dudes“ die Hymne der Generation Glam auf

USA

Jobriath

sollte Amerikas Antwort auf Bowie sein – der schwule Glam-Rocker blieb stets Geheimtipp

Jayne County

markiert die Schnittstelle zwischen Punk und Glam, New York und London. Die Travestiekünstlerin wurde in den USA zum Kult, nahm mit den Electric Chairs ihr erstes Album aber in England auf

New York Dolls

mit David Johansen und Johnny Thunders waren New Yorks erste Glam-Band, schrieben große Songs wie „Lonely Planet Boy“

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