Späte Würdigung

Nach 38 Jahren wird der Songschreiber Rodriguez mit seinem alten Album "„Cold Fact" überraschend wieder entdeckt.

Wissen Sie eigentlich, was ihr Nachbar so treibt? Rein musikalisch betrachtet, versteht sich. Ein Mensch aus Detroit, der auf YouTube als „Wild Columbine“ kommentiert, will mehr als 30 Jahre lang keine Ahnung vom Doppelleben dieses netten Latinos von nebenan gehabt haben. Der sagt von sich selbst, er habe „zwei Identitäten“ – und muss dafür weder Jekyll & Hyde spielen noch metaphysische Verstiegenheiten bemühen.

Der eine Sixto (sprich: Sees-toe) Rodriguez ist ein Fabrik- und Bauarbeiter in bester Motorcity-Tradition. Der legt Wert auf den Zusatz „hard working class“, hat Anfang der 70er Jahre mal zwei kaum verkaufte Platten gemacht und spielte seine Gitarre daraufhin fast nur noch im stillen Kämmerlein – und nach einem Arbeitsunfall auch mit einer Fingerkuppe weniger an der linken Hand. Zwischendurch zeugte der Sohn mexikanischer Immigranten drei Töchter, studierte Philosophie und bewarb sich—vom Bürgermeistersessel bis zum Senatssitz -vergeblich um ein politisches Mandat.

Der andere Sixto Rodriguez ist fast ein Pop-Star in Australien, wo nach dem Einsatz eines begeisterten DJs Ende der 70er Jahre allein in Sidney 15 000 Menschen in seine Konzerte strömten. Später wiederholte sich das Schauspiel in Südafrika, wo seine eher harmlose Zeile „I wonder how many times you had sex“ Provokation genug war im prüden

Apartheids-Sumpf, um „I Wonder“ zum Underground-Hit zu machen und seinen Autor sogar zum Gegenstand eines Films mit dem schönen Titel „Dead Men Don’t Tour“. Ein Fan dort hatte schließlich per Webseite nach dem verschollen, wenn nicht gar Totgeglaubten gesucht – bis Rodriguez‘ Tochter Regan eben diese im Internet fand. Wenig später saß der Papa für erste Konzerte im Flieger ans Kap, wo bis dahin schon fast 100 000 Rodriguez-Platten verkauft wurden. Für die er bis heute keine Tantiemen gesehen hat.

„Ich hatte ja keine Ahnung, was da lief“, sagt Rodriguez. „Jetzt schauen sich das ein paar Leute mal genauer an. Aber erst mal will ich mich ganz auf die Wiederveröffentlichung von ,Cold Fact‘ konzentrieren — deshalb liegt mir nichts daran, jemanden vor Gericht zu schleifen, verstehst du?“

Ich verstehe. Doch wer verstehen will, warum und wieso diese erstaunliche Geschichte geschrieben wurde, muss deren Hauptfigur nicht unbedingt dazu befragen, egal wie. Schnell landet Rodriguez im Gespräch immer wieder bei den schon anderweitig zitierten Stehsätzen, wonach Neil Young jedermann in L. A. für einen Gitarristen hält (nicht Schauspieler?) und der Rock’n’Roll „a living thing“ und also unberechenbar sei.

Macht aber nix. Denn „Cold Fact“, das jetzt wieder aufgelegte Rodriguez-Debüt vom März 1970, ist zwar nicht der ganz große Wurf, zu dem es jetzt hochgeschrieben werden soll. Aber allemal ein auch kurioses Inner-City-Folk-Fundstück an der Schnittstelle von Psychedelia, Soul und Kinderlied, das mit „Sugarman“ sogar Detroits Antwort auf „Waiting For The Man“ parat hält.

Sixto Rodriguez wartet, als wir sprechen, schon etwas ungeduldig auf sein Konzert zwei Tage später. Mit 66 Jahren, 38 Jahre nach der Veröffentlichung seines Debüts, wird er endlich den ersten richtigbezahlten Gig in seiner Heimatstadt spielen. 200 Leute passen in die Park Bar Downtown. „Oooooh yeah!“, freut sich der Mann, das sei schon ein bisschen besser als die Schwulen-Bars und Rotlicht-Spelunken, die er in den Sixties beglücken durfte.

„Wild Columbine“ kommt bestimmt auch zu dem Konzert. Die „zweite Chance“ (Rodriguez) seines netten Nachbarn kann er sich nicht entgehen lassen.

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