Tanz der Untoten

Im britischen Musikjournalismus gibt es eine lange Tradition von Texten, die mit "The Death of" überschrieben sind - "Der Tod der Kunst", "Der Tod des Rock" usw. Ich habe solche Texte immer besonders gern gelesen, denn für mich sind die Geburt und der Tod von etwas immer die spannendsten Momente. Nichts ist schlimmer, als wenn alles einfach weitergeht wie bisher.

Vor ziemlich genau einem Jahr erschien mein Buch „Retromania“, das durchaus in diese Reihe passt, denn es geht um den Tod des Pops. Pop ist am Ende, so meine These, weil er nicht mehr nach vorne schaut, sondern süchtig ist nach seiner eigenen Vergangenheit. Es gab in den letzten Monaten etliche Versuche von Fans und Kritikern, das zu widerlegen. Doch bisher hat mich niemand wirklich überzeugen können. Selbstverständlich gibt es auch heute noch aufregende und originelle neue Musik – Alben wie „Quarantine“ von Laurel Halo etwa, das sich jeder Einordnung in bestehende Kategorien entzieht. Aber das sind Einzelphänomene – aus ihnen entsteht kein neues Genre oder gar eine Subkultur. Die subkulturellen Bewegungen, die in den letzten Monaten diskutiert wurden, haben sich alle um das bereits Vergangene gebildet. An der Westküste der USA etwa zeigte sich ein Trend namens Hipster-House: Musiker aus dem LoFi-, Noise- und Cassetteunderground entdeckten auf einmal die elektronische Musik für sich. Doch sie versuchten nicht etwa, dieses Genre neu zu beleben und ihm etwas hinzuzufügen, das State of the Art wäre. Sie bezogen sich vielmehr explizit auf die primitiven Anfänge von House und Techno. Pop berauscht sich wieder einmal an der eigenen Vergangenheit.

Mit dem gemeinsamen Auftritt von Snoop Dogg und Dr. Dre mit dem lebensechten Hologramm des 1996 ermordeten Tupac Shakur beim diesjährigen Coachella Festival hat die Retromanie schließlich eine neue Dimension erreicht. An das Erscheinen von Tupac-Platten nach seinem Tod haben wir uns längst gewöhnt. Genauso wie an neu entdeckte Aufnahmen verstorbener Musiker wie Jimi Hendrix, Michael Jackson oder Amy Winehouse. Aber einen toten Künstler mit den eigenen Augen auf der Bühne zu sehen, ist eine völlig andere Erfahrung als eine Tonkonserve – ein thrill, ein Schockmoment. Die Sucht nach der eigenen Vergangenheit hat den Pop anscheinend in die Transzendenz geführt. Pop hat den Tod überwunden und ist dadurch zugleich selbst lebloser geworden. Neue Technologien, so heißt es, verheißen keine musikalischen Revolutionen mehr, sondern dienen zur Archivierung und Inszenierung des Vergangenen.

Die Frage, die sich nach den Bildern vom Coachella-Festival zwangsläufig stellt, ist, ob wir uns ins Zukunft damit zufrieden geben werden, auf den Konzertbühnen statt echter Körper nur noch Projektionen zu sehen. Ich glaube nicht daran, denn der Reiz von Konzerten liegt nun mal darin, den Künstler in Fleisch und Blut vor sich zu sehen. Selbst wenn bei den großen Bühnenproduktionen von Lady Gaga, Nikey Minage oder Ke$ha kaum Raum für Improvisation und Spontaneität bleibt: die Aura ist entscheidend. Sonst kann man sich auch einen Konzertfilm anschauen. Und wie viele populäre Konzertfilme gibt es? Außer Jonathan Demmes „Stop Making Sense“ mit den Talking Heads fällt mir kein einziger ein.

Doch man sollte die Technologie nicht verteufeln, bevor sie ihr gesamtes Potenzial offenbart hat. Vielleicht steckt etwas darin, das wir noch nicht erkennen können. An sich ist der Gedanke einer Reanimation von Ikonen wie Jim Morrison, John Lennon oder Michael Jackson ja schon reizvoll. Vielleicht lässt sich eine Software programmieren, die das Timbre und die Körnung der Stimme, die gesanglichen Eigenheiten und Manierismen eines Künstlers erfasst und wiedergibt, so dass man eine Art Mark Bolan 2.0 erschaffen kann, der dann auch neue Songs singen könnte. Von all den moralischen Bedenken und schauerlichen Zombie-Assoziationen abgesehen, finde ich die Idee, die Essenz eines Künstlers programmieren und weiterzuführen zu können, ziemlich faszinierend. In gewisser Weise wäre das Retro, doch zugleich kann etwas völlig Neues entstehen. So könnte Pop nicht nur den Tod seiner Ikonen überwinden, sondern auch die eigene Leblosigkeit.

Simon Reynolds zählt zu den wichtigsten Poptheoretikern. Sein viel diskutiertes Buch „Retromania“ erscheint in deutscher Übersetzung beim Ventil Verlag. Unser Text wurde von Maik Brüggemeyer aufgezeichnet.

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