The Show Must Go On

Das Musikfernsehen ist tot - es lebe das Musikfernsehen! Oder? Bei den diesjährigen MTV Europe Music Awards in Liverpool war von Krise nicht viel zu spüren. Im Gegenteil, der vermeintliche Totentanz entpuppte sich als routinierte Selbstinszenierung. Allerdings unter neuen Vorzeichen.

Tanzt! Singt euch die Seele aus dem Leib! Gebt alles! Und 3,2,1, LOOOOS!!!“ Die Stimme des Anheizers überschlägt sich fast. Er brüllt in sein Mikro, zieht mit der Ausdauer eines Aufziehmännchens seine Kreise über die runde Bühne, reißt die Arme hoch und lässt das Publikum probejubeln für die in ein paar Minuten beginnende Live-Übertragung der 15. MTV Europe Music Awards. Eine schillernde, bunte, ausgeflippte Party soll es werden, und die bombige Stimmung vor Ort soll eins zu eins über die Bildschirme in 42 Ländern flimmern. Also, juuuubeln! Schließlich soll man die Feste feiern, wie sie fallen. Oder wäre es in diesem Fall angebrachter zu sagen: BIS sie fallen?

Die Verleihung in der Liverpooler Echo Arena steht nicht eben unter einem guten Stern. Nur einige Tage vorher hatte MTV Deutschland bekannt gegeben, dass ein harter Sparkurs eingeschlagen werde, um die strengen Rendite-Vorgaben des US-Mutterkonzerns Viacom zu erfüllen. Eigenproduktionen wie „MTV News“ und „MTV Masters“ wurden mit sofortiger Wirkung eingestellt, die Kultshow „TRL“ – in den USA komplett gestrichen – wird nur noch einmal wöchentlich ausgestrahlt. Man setzt vermehrt auf in Amerika produzierte Dating-, Reality- und Comicshows statt auf Musikformate. Der Aufschrei war groß: Tod des Musikfernsehens! Wo bleibt das M in MTV? Internet killed the Videostar! Viele munkelten, diese EMAs seien die letzten.

Von Weltuntergang und Depression ist hinter den Kulissen indes nicht wirklich viel zu spüren. Klar, so räumt man ein, ist die Stimmung im Berliner Office ob der Sparmaßnahmen und der damit verbundenen Kündigungen „total besch…“. Aber was hilft’s? Es mag Fakt sein, dass das Zeitalter des Musikfemsehens und die Vorherrschaft von MTVals Popkultur prägendes Medium Geschichte sind. Aber diese Erkenntnis hat sich längst durchgesetzt und bringt folglich auch hier niemanden aus der Fassung. Also, juuuubeln! Nicht nur die Millionen Zuschauer da draußen, auch die drinnen in der Arena und von denen vor allem die mit zwei Chartermaschinen eingeflogenen Anzeigenkunden sollen unterhalten werden. Denn wenn die Awards nächstes Jahr, wie es heißt, in Berlin stattfinden, gilt es, potenzielle Sponsoren zu finden. Die haben sich in Liverpool äußerst zahlreich eingestellt und als sehr spendabel erwiesen. Ein Modelabel, ein Computerhersteller und eine Handyfirma sind an Bord und pumpen als Hauptsponsoren Milhonenbeträge in die Veranstaltung. Und was winkt ihnen als Gegenleistung? „Die Awards bieten eine der attraktivsten Gelegenheiten für Sponsoren, auf paneuropäischer Ebene mit dem jungen Publikum in Kontakt zu treten“, kommentiert man aus der Viacom-Chefetage. Hinter dem smarten Marketingsprech verbirgt sich die felsenfeste Überzeugung der Manager, dass MTV nach wie vor großen Einfluss auf diese Zielgruppe ausübt.

Der Sender feiert sich selbst, und das kann er ziemlich gut. Bunte, glamouröse Promiparaden organisieren – für die MTV-Macher eine leichte und mit geübter Hand inszenierte Übung. Vor der Halle fahren im Minutentakt dicke Stretchlimousinen, teure Rolls Royce oder Vans mit getönten Scheiben vor. Riesige Scheinwerfer strahlen dicke, weithin zu sehende Lichtsäulen in die Nacht, der Liverpooler Himmel leuchtet angemessen festlich. Kein Zweifel, die EMAs sind tatsächlich so furchtbar wichtig, wie all der Medienrummel, die Cross-Promo-Sponsorships und der riesige organisatorische Aufwand vermuten lassen. Gerne lässt man sich da von der Begeisterung anstecken, entsprechend ausgelassen ist die Stimmung der Gäste, die, mit Gratisdrinks versorgt, auf den VIP-Rängen der Halle Platz nehmen. Ein toller Blick ist das von hier oben und die beste Gelegenheit, das mitzubekommen, was den Leuten zuhause vorm Fernseher verwehrt bleibt: die ungefilterte Realität. Was das Ganze neben dem inszenierten Glanz und Glamour auch wieder sympathisch macht.

Moderatorin Katy Perry zum Beispiel, um die in den Moderationspausen ein ganzer Tross von Visagisten, Stylisten und Produktionsassistenten schwirrt. Gebetsmühlenhaft memoriert sie ihren Text und wischt sich noch mal, nicht ganz ladylike, mit den Fingern den Lippenstift von den Zähnen. Paul McCartney taucht plötzlich in einem der Zugänge zur VIP-Tribüne auf. Zusammen mit Bono steht er im dunklen Beton-Treppenaufgang, wartet auf seinen Einsatz und lässt sich von sichtlich aufgeregten Produktionsassistenten mit Walkie-Talkies und dicken Klemmbrettern erklären, wer, wo, wann, wie und was zu tun hat. Vergeblich, der Auftritt der Poplegende startet dennoch mit einer Panne: Irrtümlich kommt McCartney noch während des Laudatio-Einspielers als „Ultimate Legend“ auf Bühne und lässt sich feiern, bevor erschrockene Produktionsmitarbeiter ihn schnell wieder auf seine Ausgangsposition führen. Zwischendurch posiert Sir Paul noch für die Fotografen und gibt den ewig jugendlichen, Faxen machenden Beatle. Nur Fotos der Fans, die sind nicht ganz so erwünscht. Die Security schickt alle, die einfach nur mal knipsen wollen, höflich aber bestimmt zurück. Leute, hier gibt’s nichts zu holen, konzentriert euch auf die Show! Juuuubeln!

Die entpuppt sich als atemberaubender Mix aus Highlights und Fremdschäm-Aktionen. Optisch ist auf jeden Fall einiges geboten: The Killers spielen in überdimensionalen Lichtwürfeln ihren Song „Human“. Links und rechts daneben pulsiert eine gigantische Herzkurve meterhoch über riesige Lichtflächen, die ganze Arena wird in rot-weißes Licht getaucht. Cool inszenierte Auftritte, extravagante Ästhetik – Krise hin, Krise her, das gute alte MTV-Feeling kommt in diesen Momenten rüber. Eher peinlich dagegen die Preisvergaben. Zum Beispiel die an Tokio Hotel, die, das sei klargestellt, inzwischen mit Nachdruck bewiesen haben, dass sie mehr sind als eine hinter den Kulissen gesteuerte Teen-Sensation mit zweijähriger Halbwertzeit. Nur: Dass sie die Auszeichnung als bester Live-Act 2008 gegen gestandene Bühnenacts wie Foo Fighters, Metallica, The Cure und Linkin Park gewinnen, sorgt denn doch für amüsiertes Schmunzeln. Großer Jubel trotzdem im Tokio-Hotel-Camp und höflicher Applaus beim Publikum, wo man in das eine oder andere verwunderte Gesicht blickt. „Tokio-who?“, fragt denn auch die Sitznachbarin, die sich kurz zuvor als Entertainment-Redakteurin aus London vorgestellt hat. Der Ruhm der Magdeburger scheint es zwar inzwischen über den großen Teich, nicht aber auf die britische Insel geschafft zu haben.

Dass die Band gewonnen hat, verdankt sie dem Wahlsystem der Awards. In fast allen Kategorien können die Zuschauer sowohl über die Nominierungen als auch über die Vergabe der Awards im Internet abstimmen. „Keine andere Preisverleihung gibt dem Publikum diese totale Kontrolle“, hat Richard Godfrey, Senior Vice President, Music and Production, sowie Executive Producer der MTV Europe Music Awards, im Vorfeld noch stolz verkündet.

Denn wenn die Awards nächstes Jahr, wie es heißt, in Berlin stattfinden, Ob das wirklich so eine gute Idee war? Die Antwort darauf gibt die Kategorie „Best Act Ever“. Nominiert sind: U2, Green Day, Britney Spears, Christina Aguilera, Tokio Hotel – und Rick Astley. Der inzwischen 42-Jährige hatte seine große Zeit bereits vor 20 Jahren und seitdem nichts Berichtenswertes mehr von sich hören lassen, trotzdem sahnt er die Trophäe ab. Diesmal gibt es nicht nur erstaunte Gesichter, sondern auch jede Menge spontane Lacher. Des Rätsels Lösung: das sogenannte „Rick Rolling“, ein bereits seit geraumer Zeit durchs Netz geisternder, millionenfach geklickter Internetstreich. Das Ganze funktioniert höchst einfach: Der Link zum Clip von Astleys „Never Gonna Give You Up“ wird unter einem anderen, meist Bilder von unbekleideten Stars versprechenden Link getarnt. Klickt man darauf, wird man „ge-rickrolled“ und landet unversehens bei Astleys größtem Hit, der aus dem Jahr 1987 stammt. Auf diese Weise inspiriert, hatten sich Tausende von Usern nun den Spaß erlaubt, MTV zu rickrollen und die Wahl zu manipulieren. 95 Prozent der Stimmen zur Kategorie des besten Acts aller Zeiten sollen so für Astley abgegeben worden sein. Peinlich? Sicherlich. Traurig? Nicht wirklich, eher lustig. Vor allem aber bezeichnend: Denn das World Wide Web hat dem Medium Mattscheibe auf diese Weise eine lange Nase gedreht und MTVdie Grenzen aufgezeigt. Bitter für den Sender, der in Liverpool seine Verbindung zum Web 2.0 demonstrieren wollte und deshalb extra den Internet- und inzwischen Reallife-Star Perez Hilton, Betreiber eines täglich millionenfach geklickten Klatschblogs, als Host für den im Netz übertragenen Livestream mit exklusivem Backstage-Content engagiert hatte. Hilton dürfte sich über die schallende virtuelle Astley-Ohrfeige amüsiert haben. Was sich von den MTV-Machern allerdings nicht sagen lässt – sie begegneten der Sache eher humorlos. Man hätte sich aus dem Malheur einen Riesenspaß machen können, indem man den ehemaligen Teen-Star Astley mit großem Tamtam hätte auftreten lassen. Stattdessen wollte man ihn verschämt verstecken und ihm die zweifelhafte Auszeichnung an der VIP-Bar in die Hand drücken, anschließend hätten alle anwesenden Stars den Award signieren sollen, der dann zugunsten wohltätiger Zwecke versteigert worden wäre. Zu Wort gekommen wäre Astley allenfalls auf einer Pressekonferenz am Tag vor der Veranstaltung. Verständlich, dass er abgesagt hat. So bemüht sich die peinlich berührte EMA-Regie um Schadensbegrenzung und sieht zu, dass diese Kategorie so schnell und unauffällig wie möglich erledigt wird.

US-Sängerin Katy Perry verabschiedet sich: „Ihr fandet mich entweder schrecklich oder super und ihr schaut entweder noch zu oder nicht.“ Lachen konnten darüber diejenigen unter den laut MTV 30 Millionen Zuschauern, die den Titel von Perrys neuer Single „Hot N Cold“ kannten. Immerhin: Gesehen haben sie nichts Schreckliches, aber auch nichts, das zu Jubelstürmen hätte hinreißen können. Nett war’s, bunt war’s, ordentlich inszeniert war’s. Etliche Huldigungen und Einspielungen, die Barack Obama zum Gegenstand hatten, zeigten weniger politische Flagge als dass sie bewiesen, dass man auch im MTV-Lager den Pop-Appeal des neuen US-Präsidenten entdeckt hat. Mit Pink, Kanye West, Bono und Paul McCartney waren zwar jede Menge prominente Acts vor Ort, etwas wirklich Spannendes ist trotzdem nicht passiert.

Und so bleibt, trotz betont guter Laune und Partystimmung, ein irgendwie fader Nachgeschmack. So ganz wegfeiern lässt sich die aktuelle Misere eben doch nicht. Während der Aftershowparty spricht es ein MTV-Mitarbeiter denn auch offen aus: „Mit Musik hat das Ganze nichts mehr zu tun. Die Acts sind beliebig austauschbar.“ Eitel Freude herrscht immerhin bei der deutschen Abordnung um die Tokio-Hotel-Heroes Bill Et Tom Kaulitz, auch wenn man dort weiß, dass sich TV-Auftritte und gewonnene Awards kaum Stimmung im Berliner Office ob der Sparmaßnahmen und der Dass die Band gewonnen hat, verdankt sie dem Wahlsystem der oder gar nicht mehr auf die Absatzzahlen von CDs auswirken. „Die Zeiten sind lange vorbei“, heißt es von der Plattenfirma der Magdeburger. Im Ernst würde das auch niemand mehr erwarten. Selbst in Folge der amerikanischen Video Music Awards, so musste die dort ebenfalls ausgezeichnete Band feststellen, habe es bei den Albumverkäufen keinen messbaren Ausschlag nach oben gegeben. Die Zeiten, in denen Musikfernsehen also nicht nur den Musikgeschmack einer ganzen Generation beeinflussen, sondern auch Stars auf den Thron hieven konnte, sind endgültig vorbei. Bei MTV hat man sich damit abgefunden. Warum dann diese ganz große Oper in Liverpool, wo MTV sich und seinen Zuschauern doch im gleichen Atemzug ein schmerzhaftes Sparprogramm verordnet? Die Antwort ist so einfach wie pragmatisch: Veranstaltungen wie die EMAs sind wichtig, um die Marke MTVzu stärken. Und da geht’s um Entertainment, nicht nur um Musik. Mode oder Technik bieten schließlich eine perfekte Plattform, um junge Leute zu erreichen und den Coolness-Faktor zu steigern. Außerdem erschließen Veranstaltungen wie die „MTV Fashionshow“ oder die gerade erst ins Leben gerufenen „MTV Game Awards“ ganz neue Bereiche und Wege für Anzeigenkunden und Kooperationspartner.

Das M in MTV steht heute mehr denn je für „Marketing“. Basta. Wer da nostalgisch den alten Zeiten hinterhertrauert, gehört ohnehin nicht mehr zur Zielgruppe. Fakt ist: Bei Musik schalten die Zuschauer von heute tendenziell ab – ganz im Gegensatz zum aktuellen Trashprogramm. Wie pflegte Markus Kavka in aber bezeichnend: Denn das World Wide Web hat dem Medium Mattscheibe auf diese Weise eine lange Nase gedreht und MTV die seiner mittlerweile eingestellten MTV-News-Sendung zu sagen: „Hamma wieder was gelernt!“ Hoch die Tassen also, die Party geht weiter. Wenn sich während der Aftershowsause noch ein paar Werbedeals eintüten lassen – fein. Ansonsten aber gilt: The show must go on! Nur eben ein bisschen anders. ¿* Glanz und Glamour auch wieder sympathisch macht.

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