Thom Yorke und die Kunst des Verschwindens

Oktober 2000 Die – zumindest von den Kritikern – am sehnlichsten erwartete Platte des Jahres: Radioheads „Kid A“, Nachfolger von „OK Computer“. Ein noch größeres Wunderwerk.

How To Disappear Completely“ hat er einen der neuen Songs genannt – und danit das Motto des Albums geliefert. Mit „Kid A“ nehmen Thom Yorke und Radiohead endgültig Abschied von Charts, Singles und dem ganzen Medienzirkus, der sie zuletzt fast an den Rand des psychischen Ruins getrieben hatte. Ein Trost bleibt: Sollte sich Yorke eines Tages endgültig in Luft auflösen, wird er zumindest ein begnadetes Album hinterlassen haben.

Die Umstände sind dem Ereignis angemessen. Drei Jahre nach „OK Computer“ kündigt das Quintett aus Oxford endlich die Veröffentlichung des mehrfach verschobenen Nachfolgers an – und die Gerüchteküche qualmt: „Kid A“ werde eine radikale Abkehr von Gitarre und Song sein; das wichtigste Instrument auf dem Album sei der Ondes Martenot, ein antikes Instrumentarium zur elektronischen Klangerzeugung, das nun von dem – arbeitslosen – Gitarristen Jonny Greenwood bedient werde. Thom Yorke, der medienscheue Mastermind, habe die Band mit seinen Alleingängen an den Rand des finalen Eklats gebracht – nicht mal die kryptischen Songtexte habe er diesmal der Band erläutert! Statt Songs mit herkömmlichen Melodien zu schreiben, habe er ihnen programmierte Drum-Loops vorgesetzt und auf die improvisierte Arbeitsweise von Can oder Aphex Twin verwiesen. („Kid A“ ist der Name eines Computerprogrammes für Kinder, mit dem verschiedene Stimmen simuliert werden können!) „Ästhetische Statements“ würden ebenso der Vergangenheit angehören wie Sponsoren auf ihren Tourneen. (Ursprünglich sollte das Album sogar „No Logo“ heißen.) Und zu guter Letzt: Yorke selbst werde keine Interviews geben – von einem missmutigen Geknödel im englischen „Q“-Magazin einmal abgesehen.

Die Nervosität scheint sich auf die Umgebung zu übertragen: Die Plattenfirma verschickt nicht die üblichen Promo-CDs (Napster, ick hör dir trapsen), statt dessen bringt der Kurier eine Kassette, die weder überspielt noch anderen – grundsätzlich suspekten – Zeitgenossen vorgespielt werden darf. Macht nichts, denn zwar stehen die zehn Songtitel auf dem Tape, die Kassette aber ist … vollkommen leer. 90 Minuten Rauschen. Dass Radiohead derart radikal-experimentell werden würden, hatte wohl niemand ahnen können.

Aufruhr. Vorspieltermin dann eben an Ort und Stelle: Astoria-Hotel, Upper-class, Brüssel. Drummer Phil Selway wird Rede und Antwort stehen. Noch knapp drei Stunden bis zum Interview, jetzt möchte man aber doch mal das Album hören. Ein „Kid A“-Rohling, Discman und Kopfhörer stehen zur Verfügung, es kann losgehen. Die ersten drei Titel der CD springen. Ach, es ist nicht schön. Während ein anderer Discman herbeigeschafft wird, bittet man zu Tisch. Der neue Discman trifft ein. Nach zweimaligem Durchhören steht fest: ein harter Brocken. Doch die Faszination ist groß. Wo sind die Gitarren? Waren die Musiker bei rund der Hälfte der Songs völlig arbeitslos? Elektronik. Beats. Bläser. Jazz. Kakophonien. Dissonanzen. Erinnerungsfetzen. Flickenteppiche. Hörner. Keine Waldhörner.

Oder doch? Zwei Instrumentals, eines davon gleichsam als hidden track ganz am Ende von „Kid A“. Im Opener, dem Mantra „Everything In Its Right Place“, säuselt Yorke schwerelos „Yesterday I woke up sucking a lemon“; seine Stimme, von Jonny Greenwood gesampelt und immer wieder aufeinander montiert, dient dabei als Background-Chor. Das ursprünglich als „OK Computer“-B-Seite geplante „The National Anthem“ endet in wüsten Freejazz/Krautrock-Bläser-Einsätzen. Im vergleichsweise traditionellen Gitarren-Pop-Schwermüter „How To Disappear Completely“ dann: „Im not here. In a little while I’ll be gone.“ Wo soll das alles hinführen? 13 Outtakes sind noch übrig geblieben, von zahllosen unvollständigen Sound-Skizzen ganz zu schweigen. Unfassbar. „Kid A“ ist ein Sog, in den man unweigerlich hineingezogen wird. Man kann gar nicht so schnell denken, wie zügig einem hier die Querverweise durch den Kopf schießen.

Flashback: „Pablo Honey“ (1993), inspiriert von Nirvana und Sonic Youth, war stellenweise noch unausgegoren und zerfahren, auch wenn immerhin schon das meisterhafte „Creep“ (das Gerüchten zufolge in nur einem Take eingespielt wurde) darauf enthalten war. „The Bends“ (1995) war bereits der ganz große Wurf – teenage angst, vier Single-Hits und bereits hier: immer die wundervollen Videos mitdenken. Zu „OK Computer“ (1997) ist genug gesagt worden. Konkurrenzlos und inkommensurabel.

Was aber will uns „Kid A“ sagen? Philip James Selway, ehemaliger Englisch- und Geschichtsstudent, nun Schlagzeuger und stets gut gekleideter, ruhender Pol der Band, beweist Eloquenz und hilft gern.

Wenn man „Kid A“ zum ersten Mal hört, drängt sich der Eindruck auf, dass es noch schwerer zugänglich ist als „OK Computer“. Denkt man bei Radiohead in irgendeiner Form über „Zugänglichkeit“ oder „Absatzchancen“ nach?

Ich kann schon nachvollziehen, dass man anfänglich Probleme bei der Auseinandersetzung mit „Kid A“ hat, weil die musikalischen Einflüsse, aus denen sich die Platte zusammensetzt, weit vielschichtiger sind als früher. Wenn man sich aber erst einmal eingehört hat, hat man’s vielleicht sogar noch einfacher als mit „OK Computer“. Natürlich haben wir uns bei den Aufnahmen nicht hingesetzt und darüber gegrübelt, wie wir ein möglichst unkommerzielles Werk zustande bekommen könnten. Es ist halt die Musik, die wir mittlerweile machen können und wollen. Und da wir gute Chancen sahen, mit diesen Songs ein Album zusammenzustellen, haben wir dies getan. Ein „OK Computer Part 2“ mit ein paar schönen Hits drauf hätte uns nicht weitergebracht.

Auf „Kid A“ finden sich wohl so viele verschiedene Einflüsse wie auf noch keinem Radiohead-Album zuvor. Lediglich das epische „How To Disappear Completely“ entspricht noch dem Schema des klassischen Gitarren-Pop-Songs. Glaubst du, dass die Zeit für diese Art von Musik langsam abläuft?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist ja auch nicht so, dass wir uns für derlei Musik nun partout nicht mehr interessieren. Wir spielen immer noch gerne Songs mit Strophe und Refrain, bei denen das Publikum mitsingen kann. Aber Thom hörte zu Beginn der Aufnahmen etwa viel Aphex Twin und Autechre – und das hört man dem Album stellenweise ja auch an. Und bei „The National Anthem“, das von Charlie Mingus beeinflusst ist, besuchten uns acht Leute von einer Jazz-Bigband im Studio, um dort die Bläsersätze einzuspielen. Wir waren total beeindruckt! In den 17 Monaten, in denen wir „Kid A“ aufnahmen, haben wir 23 Songs fertiggestellt – und diese zehn Songs, die sich nun auf dem Album befinden, haben einfach genau so und in dieser Reihenfolge den stimmigsten Eindruck gemacht. Was wir mit den restlichen 13 Songs machen, wissen wir noch nicht. Entweder werden wir eine Reihe EPs veröffentlichen oder sie anderweitig verwenden.

Als „OK Computer“ vor drei Jahren erschien, mutete es – vom Titel über die Gestaltung bis hin zur Songreihenfolge – wie ein Konzeptalbum an. Nicht umsonst kamen ja Vergleiche zu „Dark Side Of The Moon“ und anderen Pink Floyd-Alben auf. Konntet ihr das nachvollziehen – und wie verhält es sich heute, bei „Kid A“?

Also, wenn du die anderen Bandmitglieder nach dem Albumtitel fragen würdest, würdest du wahrscheinlich lauter verschiedene Antworten bekommen. Wir hatten zahlreiche Titel in petto, und „Kid A“ schien uns allen am besten zu dieser Art von Album zu passen. Ich persönlich bin nicht vom Progressive-Rock beeinflusst; wenn du allerdings die anderen in der Band in einem ruhigen Moment fragen würdest, würde der eine oder andere dies wohl bejahen. Nein, ich denke, wenn es ein „Konzept“ gab, was uns als Band bei den Aufnahmen zu „Kid A“ begleitet hat, dann war es dieses, uns nicht von herkömmlichen Strukturen des Songwritings leiten zu lassen, sondern etwas für uns völlig Neues zu kreieren und uns dabei auch einfach einmal auf den Zufall zu verlassen.

Bezeichnend ist ja wohl auch,dass es zu „Kid A“ weder eine Single noch ein einziges Video geben wird. Lässt das auf eine Verweigerungshaltung schließen oder waren, wenn wir mal bei den Videos bleiben, die eventuell vorgelegten Konzepte diesmal einfach nicht so überzeugend wie zu „The Bends“- und „OK Computer“-Tagen?

Hmm, es stimmt schon, dass wir zu „OK Computer“ diese tollen Videos wie „Paranoid Android“ oder „Karma Police“ hatten, bei denen alles gestimmt hat. Die Scripts waren einfach hervorragend, echte Glücksfälle. Aber diesmal wollten wir uns einfach nicht mit dem gleichen Strickmuster zurückmelden: „Hey, wir sind Radiohead, jetzt drei Jahre älter, und wieder da!“

„Kid A“ ist vielleicht das am ungeduldigsten erwartete Album des Jahres, zumindest im Lager der Kritiker. Standet ihr bei den Aufnahmen unter Druck, da euch ja wohl bewusst wart, wie hoch ihr die Latte mit „OK Computer“ gelegt hattet?

Klar. Besonders zu Beginn der Aufnahmen spürten wir diesen Druck, und die Tatsache, dass wir unsere Arbeitsweise völlig umstellten, trug nicht gerade zur Entspannung bei. Es hat lange gedauert, bis wir diesen Druck etwas abbauen konnten. Letztlich haben wir fast die gesamte erste Hälfte des letzten Jahres damit verbracht. Wir wollten nicht da weitermachen, wo wir mit „OK Computer“ aufgehört hatten. Wir wussten um die Erwartungen. Aber irgendwann haben wir es dann geschafft, diese Befangenheit einfach abzuschalten. Wir machten uns bewusst, dass wir mit „OK Computer“ viel mehr erreicht hatten, als wir uns das zu Gründungszeiten der Band je erträumen konnten. Deshalb fiel uns am Ende die Entscheidung leicht – nämlich das zu machen, was für die Entwicklung der Band richtig ist. Wir dachten sogar dran, ein Doppel-Album zu veröffentlichen, aber das war dann wohl doch zu viel des Guten gewesen.

Sprechen wir über Thom Yorke: Dir dürfte nicht entgangen sein, welche Mythen sich inzwischen um ihn ranken, vor allem natürlich in England. Mal wird er als Alien, oft auch als Junkie oder aber als chronisch depressiv dargestellt. Dadurch wurden auch Radiohead zu einer Band, die irgendwie „nicht von dieser Welt“ ist. Michael Stipe ließ verlauten, Radiohead seien so gut, dass sie ihm Angst machten. Wie reagiert ihr auf solche Reaktionen in den Medien?

Es ist schon bizarr, wie Informationen aus dem Umfeld der Band in die Öffentlichkeit gelangen und dort völlig verzerrt werden. Ich meine, wir fünf kennen uns jetzt seit unserer Schulzeit und wissen alle vom Charakter der anderen. Was Thom betrifft: Er ist ein unglaublich ehrlicher, gradliniger, kreativer Mensch mit der notwendigen Energie, um seine Ideen auch umsetzen zu können. Aber dabei legt er sein Augenmerk eben auf die Musik, wohingegen Interviews und Fotosessions ein rotes Tuch für ihn sind. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass bei ihm – wie auch beim Rest der Band – Drogen jemals eine entscheidende Rolle gespielt hätten. (Dagegen sprechen allerdings Yorkes Lyrics des Songs „Bones“ vom „The Bends“-Album sowie ein früheres Statement von Jonny Greenwood, das da lautete: „Playing bridge goes very well with drugs.“ Anm. d. Verf.) Wir sind alle bemerkenswert unskandalös. Es ist also definitiv unangebracht und ebenso unerwünscht, einen Personenkult um Thom zu veranstalten. Das hat uns sogar etwas gestört, als wir nach der „OK Computer“-Tour erst mal wieder festen Boden unter den Füßen bekommen mussten. Wir machen zwar keinen „normalen“ Job, aber ich halte uns trotzdem für ziemlich normale Typen.

Wenn ihr, so wie jetzt, auf Tour geht, dann spielt ihr neuerdings ausschließlich in eurem eigens dafür konzipierten Zelt. Das scheint nicht nur angenehm, sondern auch problematisch zu sein: In Deutschland etwa wird man euch – abgesehen von den beiden Konzerte Anfang Juli in Berlin – wohl nicht live erleben können, da sich für dieses Unterfangen anscheinend kein Veranstalter findet. Wo liegen für euch die Vorteile dieses doch recht ungewöhnlichen Schrittes?

Wir freuen uns einfach wieder richtig darauf, live aufzutreten; der eine mehr, der andere weniger. Von diesem Gefühl waren wir nach der letzten Tournee Lichtjahre entfernt. In den großen Arenen haben wir uns zuletzt überhaupt nicht mehr wohl gefühlt. Klar, in unser Zelt passen ebenfalls wahnsinnig viele Leute (von 10.000 ist die Rede – die Red.), aber es gibt uns auch irgendwie das Gefühl, uns in unserer eigenen Umgebung zu befinden. Die Atmosphäre ist trotz der vielen Menschen erheblich persönlicher.

In der letzten Zeit gab es eine Reihe von Bands aus Großbritannien wie Travis, Muse oder Coldplay, die man immer wieder mit Radiohead verglichen hat. Interessieren euch diese Bands eigentlich – und mögt ihr vielleicht sogar die eine oder andere?

Nun, ich habe viel von Coldplay gehört und gelesen, ihre Musik aber bisher noch nicht zu Ohren bekommen. Bei Travis und Muse weiß ich, dass definitiv genug Substanz und eigene Identität vorhanden ist. Jede Band beginnt doch erst ab dem zweiten oder dritten Album damit, einen wirklich eigenen Sound zu entwickeln. Man weiß auch nicht immer, ob diese Bands wirklich von uns beeinflusst wurden. Aber ich sehe die Parallelen. Vielleicht haben wir früher auch nur dieselben Platten gehört und uns auf dieselben Quellen berufen.

Gibt es jetzt – mehr ab zwölf Jahre nach der Bandgründung – eigentlich noch irgendein konkretes Ziel, das Radiohead erreichen wollen?

Gute Frage. Ich denke, es wäre wünschenswert, wenn wir den Freiraum, den wir uns mittlerweile geschaffen haben – „Kid A“ haben wir erstmals in unserem eigenen Studio in der Nähe von Oxford geprobt und aufgenommen, was immer ein Traum von uns war – auch weiterhin erhalten und ausbauen können. Ein Ziel von uns und unserem Produzenten Nigel Godrich, der auch schon „OK Computer“ produzierte, war es auch, mit „Kid A“ einen kreativen Anfangspunkt zu setzen, von dem aus wir uns weiterentwickeln können. Ich denke, dass das auch ganz gut gelungen ist …

Kid A“ als Anfangspunkt der weiteren Entwicklung also. Eine vielversprechende Perspektive. Befinden sich Radiohead nun vollends auf den Spuren des großen Scott Walker, der 1995 – nach elfjähriger spiritueller Versenkung – den Monolithen „Tilt“ auf die geneigte Hörerschaft losließ und klang wie noch kein Mensch zuvor? Radiohead wurden von ihm auf dessen „Meltdown“-Festival eingeladen, und „Kid A“ gemahnt noch mehr an „Tilt“ als etwa an Talk Talk und Mark Hollis, dem anderen großen Exzentriker der britischen Popmusik. Wer sich Zeit nimmt für „Kid A“ (und in Geduld sind Radiohead-Fans ja von Haus aus geübt), wird in Zukunft nie mehr ohne es sein wollen. Es sind dies die wohl ungewöhnlichsten, seltsamsten und schillerndsten 50 Minuten, die man seit Jahren gehört hat. Keine Hymnen mehr und auch keine klar strukturierten Songs. Selten Refrains. „Kid A“ ist ein Wagnis. Und der Schlusspunkt „Motion Picture Soundtrack“, auf dem Yorke zur Akkordeon-Begleitung einsam Tränen vergießt, ist das vielleicht erschütterndste und schönste Dokument der gesamten Radiohead-Historie. Es ist kaum noch wahrnehmbar, wie Yorke die letzten Worte des Albums singt: „I will see you in the next life.“

Dann entschwindet er, irgendwo inmitten der kalten, zackigen Berglandschaft, die das „Kid A“-Cover ziert Und kein Mensch weiß, wo er wieder auftauchen wird. Ladies and Gentlemen, we are floating in Space.

Der Autor Jan Wigger schreibt seit 1998 für den deutschen Rolling Stone. bei „Spiegel Online“ rezensiert er in der beliebten Rubrik „Abgehört“ die wichtigsten Alben der Woche.

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