Tocotronic: Kritiker der reinen Vernunft

Pop kann komplexe Dinge nicht einfach machen - Tocotronic aus Hamburg haben schon vor zehn Jahren davon gesungen, wurden aber lange als Konsens-Band missbraucht. Heute erzählen sie vom Leben im Zwielicht - und in Deutschland.

Meine erste Begegnung mit Tocotronic fand Anfang 1995 statt, auf dem angegammelten Teppichboden eines Altonaer WG-Zimmers. Umzingelt von kreischbunten Actionfiguren und einer beachtlichen Godzilla-Sammlung. Vor der klapprigen Stereoanlage stapelten sich Platten der Labels Amphetamine Reptile und Touch & Go. Es war eng, fast beklemmend, und über unseren Köpfen schwebten Missverständnisse. Natürlich ging es um das Debütalbum „Digital ist besser“, das in wenigen Wochen erscheinen sollte. Ich war einer der ersten Vertreter des „etablierteren“ Journalismus, mit dem sich Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank auseinandersetzen mussten. Entsprechend zäh und vorsichtig lief das Gespräch: Nein, nein! Bloß nicht in die Grunge-Kiste stecken! Auch die Beziehungen zur Hamburger Schule wurden eher umständlich dargelegt Es galt, keine Fehler zu machen: Nicht schon gleich zu Anfang ausverkaufen! Es war, als hätte Jochen Distelmeyer mitten unter uns gesessen, um anschließend Schulnoten zu verteilen.

Später verstand ich die Paranoia von Tocotronic: Je weiter die 90er fortschritten, umso zahlreicher wuselten die Trend-Scouts der großen Agenturen durch Bars, Clubs und Plattenläden. Jeder subkulturelle Furz wurde gierig beschnüffelt, um daraus Rückschlüsse über die neuen Peer-Groups und ihr Konsum-Verhalten zu ziehen. Die Hamburger Schule war in Auflösung begriffen, weil der Begriff längst nicht mehr für die Verbindung von Pop, Politik und Privatleben stand, sondern verkommen war zum Etikett für Gitarrenrock made in Hamburg. Das viel kritisierte „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ der Tocos kam deshalb als Seitenhieb eigentlich zu spät Auch wenn sich das Trio damit in erster Linie gegen das vereinnahmende Schulterklopfen der Szene wehren wollte.

Tocotronic hatten nie behauptet, dezidiert politisch zu sein – und waren es gerade deshalb umso mehr. Ihre Lieder sind durchdrungen von einem Unbehagen an kulturellen Gemeinplätzen. Sie fürchten den Konsens, weil der meist über Leichen geht. Man muss schon taub, doof oder beides sein, um die bittere Ironie zu überhören, mit der Dirk schon gleich zu Anfang sang: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein, ich möchte mich auf euch verlassen können.“ Und es war eine Sternstunde der deutschen Popmusik, als die Band den „Comet“ ablehnte, weil man ihr damit das unappetitliche Etikett anheften wollte Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“.

Und da wären wir nun endlich auch bei „Pure Vernunft darf niemals siegen“, dem neuen, siebten Album von Tocotronic. Der Name knüpft an die frühen Tage an, wo fast jeder Songtitel des Trios Inhaltsangabe und verschrobener Slogan zugleich war. Doch diesmal fungiert der Titel eher als eine Art politische Botschaft: „Wenn man so eine Zeile als Albumtitel verwendet, kriegt das schon etwas Schlachtrufartiges. Das ist auch sehr trotzig gemeint Aber man darf sich dem gegenwärtigen Regime der Vernünftigkeit, der Rationalität und Faktizität nicht unterwerfen, selbst wenn das momentan der herrschende kulturelle und auch politische Konsens ist“, erklärt Dirk, der mit Jan, Arne und dem neuen Gitarristen Rick McPhail im Büro der Plattenfirma L’Age D’Or sitzt Die komplexen Arrangements und Soundschichten des letzten, schlicht „Tocotronic“ betitelten Albums waren ohne Live-Verstärkung einfach nicht mehr spielbar. Und ganz offensichtlich passt der von Maine über San Francisco, Wuppertal und Köln nach Hamburg ausgewanderte Amerikaner bestens ins Team – auch wenn er manchmal Fachzeitschriften wie „Guitar Player“ und „Keyboards“ liest.

Nun könnte man einwenden, dass einer Aussage wie „Pure Vernunft darf niemals siegen“ nichts konkret Politisches anhaftet, sondern eher etwas esoterisch Eskapistisches. Vor allem, wenn es im Titelsong heißt: „Pure Vernunft darf niemals siegen/ Wir brauchen dringend neue Lügen/ Die uns durchs Universum leiten/ Und uns das Fest der Welt bereiten.“ Doch gleichzeitig entfachen Tocotronic einen Orkan der Leidenschaft, entwickeln aus einem schrammeligen Semi-Folksong eine emphatische Hymne, die alle Feuerzeuge dieser Welt verdient hat und dennoch mehr will. „Wir sind heute mit einer Flucht zur Realität konfrontiert. Alles muss auf einem ganz vernünftigen Boden stehen, bloß keine Ambivalenzen produzieren. Alles muss fundiert sein und von fachmännischer Hand umgesetzt werden. Das ist ein Backlash gegenüber der Menschlichkeit und allen seit ’68 stattgefundenen Entwicklungen“, sagt Dirk mit ungewohnter Entschlossenheit „Gleichzeitig ist jeder politische Anspruch aus der Musikszene verschwunden“, ergänzt Jan.

Nicht bei Tocotronic: Zwar sind von Lowtzows Texte inzwischen so poetisch und verrätselt wie nie – doch gerade das ist ja die Botschaft. Die Band dagegen rockt präziser als je zuvor. Zwischen diesen nur scheinbar gegensätzlichen Polen entwickelt sich eine wahnsinnige Spannung, in der jedes kleine Detail funkelt wie eine verlorene Christbaumkugel. Hier geht es um das Recht, anders zu sein. Die radikale Ausgeflipptheit der Incredible String Band ist dabei ein wesentlich wichtigerer Orientierungspfosten als die hohlen Phrasen von U2 oder die wohlfeile Weltverbesserungsmentalität von Sting.

Für das letzte Album haben Tocotronic anderthalb Jahre im Studio verbracht, in einer Kunstwelt, wenn man so wilL Diese Bastelarbeit hatte etwas Entfremdetes: Den sinnlichen Glücksmoment, einen Song einfach direkt einzuspielen, gab es fast nie. „Deshalb sind wir diesmal ins gegenteilige Extrem gegangen und haben mit Moses Schneider ein fast schon Dogma-mäßiges Album aufgenommen“, sagt Dirk. Gerade mal neun Tage dauerten die Sessions in Berlin.

Es sind vor allem die romantisch-poetischen Texte, die für den Zauber der Platte sorgen. Auch ein Hauch der Schwüle von Phantom/Ghost liegt in der Luft, Dirk von Lowtzows Nebenprojekt. „Wenn ich über meine Texte reden muss, verfalle ich immer in ein extremes Stammeln“, sagt er – und versucht es dann trotzdem.

„‚Gegen den Strich‘ entstand nach dem gleichnamigen Buch von Joris-Karl Huysmans. Das ist ein symbolistischer Schlüsselroman über einen dekadenten französischen Adeligen, der sich in eine Kunstwelt zurückzieht. Ich habe das mit 20 gelesen und war total fasziniert Wenn man das aus dem Zusammenhang reißt, hat es etwas Punkiges ein revoltierendes Dandytum. ,Mein Prinz‘ habe ich in einer Phase geschrieben, als ich sehr viel allein war. Man hat dann manchmal das Gefühl, Rieben sich zu stehen‘ – das Stück kreist um eine Art Alter Ego, jemanden, der neben einem herläuft, eine Art Geist. Bei ,In den höchsten Höhen‘ geht es um Schwindelgefühle, das war inspiriert von ,Vertigo‘. Und der letzte Satz in diesem Film von Hitchcock ist: ,Ich habe Stimmen gehört.‘ Da dachte ich, das ist doch ein super Songtitel.“

Salopp gesagt: Wenn Tocotronic das unbedingt wollen würden (aber wollen sie das wirklich?), könnten die vier so etwas wie Die Ärzte ihrer Generation werden. Bereits die letzte Tour rührte sie auf die Bühnen von, ,Rock am Ring“ und „Rock im Park“, und selbst „Top Of The Pops“ haben sie geduldig über sich ergehen lassen. Auch in Tocotronic-Foren diskutiert man mit glühenden Wangen über die Frisuren der verehrten Künstler. Und man möchte gar nicht so genau wissen, in wie vielen Poesiealben und Tagebüchern sich Aphorismen finden wie „Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss“.

Sicher, jeder Künstler freut sich über Menschen, die sein Werk zu schätzen wissen. Doch im Unterschied zu den erwachseneren Anhängern von Blumfeld waren die Fans von Tocotronic lange Zeit kindisch genug, um mit einem Lowtzow-Foto zum Friseur zu gehen und sich hinterher im Secondhand-Laden die passende Trainingsjacke zu besorgen. Die Musiker waren Popstars, Kumpels, große Brüder und Vordenker in einem geworden.

„Diese großen Erwartungen muss man ja enttäuschen“, sagt Arne, „man kann das gar nicht erfüllen und der gute Freund sein, den viele aus den Platten heraushören“. Und Dirk glaubt: „Eine Weile war das wirklich ein Problem, als wir feststellten, dass man unglaublich viel auf uns projiziert, was wir gar nicht leisten können. Es gab deshalb keine Krise, aber wir haben uns dann schon überlegt, keine Trainingsjacken mehr anzuziehen – zumal sich unser Geschmack eh schon geändert hatte.“ Jan sieht die Überaffirmation der Fans eher gelassen: „Man kann das ja auch beeinflussen, es geht schließlich um uns. Und solange wir uns verstehen und untereinander einig sind, kommt man da ja auch wieder raus.“

Freundschaft hat einen großen Stellenwert bei den Tocos, die noch immer angenehm schlurfig aussehen, auch wenn es inzwischen eine Tendenz zu (verkrumpelten) Jacketts und schwarzen Rollkragen-Pullovern gibt. „Wir wollen die Band nicht als Firma betreiben oder damit eine Karriere planen“, sagt Dirk. „Bei uns regiert eher ein Spaßprinzip, ich finde das so schon anstrengend genug. Wenn man da noch nicht mal Spaß dabei hätte, dann würde man das doch sein lassen. Was ich auch wichtig finde, das ist, dass man sich vor jeder Platte die Frage stellt: Gibt es einen Grund, diese Platte zu machen? Hat man noch was zu sagen, funktioniert das? Ich glaube, wir sind schon immer voller Selbstzweifel gewesen, haben sehr viele Skrupel und sind fast schon krankhaft selbstkritisch.“

Und Arne ergänzt: „Weil es ja genug Bands gibt, die sich mit dem Argument rechtfertigen: Ja, solange das Leute hören mögen, scheint es ja in Ordnung zu sein… Und das ist es eben nicht! Die Angst, Dienstleister zu werden, ist bei uns schon sehr groß.“ Gut so, aber unbegründet Denn, ähnlich wie Blumfeld mit „Testament der Angst“, reagieren auch Tocotronic mit „Pure Vernunft darf niemals siegen “ auf die jüngsten Entwicklungen in Deutschland. Nicht mit lauten Protestsongs, sondern mit Liedern, die Empathie zeigen statt Handlungsanweisungen zu liefern. Wie sollte man die Angst vor der eigenen Zukunft auch mit rationalen Argumenten in Schach halten? Tocotronic führen uns lieber in eine illusionstrunkene Gegenwelt.

„Rockmusik, sofern sie gut ist, singt nicht von sicheren Häfen. Wie auch, sie kennt sie ja kaum. Unterwegs zu sein ist die Pflicht und das Ziel“, heißt es treffend im aktuellen Presseinfo der Band. Verweigerer waren die Hamburger Jungs schon immer. Keine Radfahrer, niemals Backgammonspieler. In Zeiten, in denen alle den Gürtel enger schnallen sollen, wo intellektuelle Extravaganz als entbehrlicher Luxus gilt, ist es nicht leicht, das Recht auf die eigene Individualität einzufordern. Doch auch das ist Politik. Andere Bands und Musiker – auch solche, von denen man das nicht gedacht hätte, wie Jan Delay etwa oder Max Herre, suchen dagegen vor allem den Konsens, den kleinsten gemeinsamen Nenner: das Deutschsein.

„Es ist unglaublich, wie schnell die deutsche Popmusik einer Nationalisierung anheim gefallen ist“, sagt Dirk über die Tendenz, die Farben Schwarz-Rot-Gold nun auch in Popsongs zu besingen, wie Mia das tun, und dafür sogar eine Radioquote zu fordern. „Das lehnen wir ab! Diese Quote und jeden Versuch der Nationalisierung von Musik finden wir total absurd, peinlich und schlecht. Da wird versucht, einen Diskurs zu führen, der behauptet, man wäre in Deutschland fast schon so eine Art Dissident, wenn man mal wieder sagt, dass Deutschland ja schön und auch gut ist und man darauf stolz sein kann.“

„Das widert uns echt extrem an“, empört sich Arne, und Jan schnaubt: „Es ist immer dieselbe Scheiße, egal ob in der `hohen Politik`, in der Musik oder im Film, es geht immer darum: Man wird doch noch mal sagen dürfen… Und da wird mir einfach schlecht Da will ich auch gar nicht groß drüber diskutieren, da wird mir einfach schlecht.“

Diese Wut der Tocotronic-Musiker wird am deutlichsten in „Aber hier leben, nein danke“, dem großartigen Opener des Albums, bei dem die machtvollen Rifls und der dialektische Zorn von Gang Of Four übertragen wurden auf die neuen Lebensumstände unter den Bedingungen des Wirtschaftsliberalismus: „Ich mag den Weg, ich mag das Ziel/ Den Exzess, das Selbstexil/ Ich mag erschaudern und nicht zu knapp/ Ich gebe jedem etwas ab/ All das mag ich/ Aber hier leben, nein danke.“

Wenn es in Deutschland auch nur ein Fünkchen Liebe für gegenwartsbezogene Rockmusik gibt, muss dieser Song ein Klassiker werden. Weil er artikuliert, was vielleicht viele denken, aber längst nicht mehr aussprechen: „Es herrscht momentan eine Stimmung in diesem Land, wo ich sagen würde, dagegen richtet sich die Platte und ein Stück wie ‚Hier leben, nein danke‘. Man muss ganz unqualifiziert oder nörglerisch mal wieder sagen können: Hier ist es Scheiße! Weil das eine Auffassung ist, die heute kaum noch geteilt wird. Denn die Leute, die diese Deutschland-Symbolik für sich benutzen, die gerieren sich als Dissidenten. Als wäre dieser so genannte Tabubruch nicht gesellschaftlich anerkannt und als würden diese Tabubrüche nicht am laufenden Band passieren.“

Eigentlich sind Tocotronic schon viel früher „gekommen, um sich zu beschweren“ nur hat das damals keiner so richtig ernst genommen. Es ging ja nur um die kleinen Alltagsdinge, um Selbstfindung und eine irgendwie amüsante Verweigerungshaltung.

Doch gerade im Pop sind auch die kleinen Dinge oft wichtig und groß. Wenn der nationale Konsens alle und alles umarmt, werden schlechte Zeiten anbrechen für die Gesellschaftsinseln, auf denen eigenständige Subkulturen wachsen und gedeihen können. Dirk von Lowtzow denkt sogar ohne jeden Anflug von Ironie darüber nach, „Ausflippen und Ausdruckstanz wieder positiv zu besetzen“.

Weil gute Rockmusik in erster Linie immer vom Einzelnen spricht, nicht von Kollektiven oder gar Massen – allein schon deshalb sind Tocotronic die im Moment wichtigste Band Deutschlands.

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