Tocotronic: So jung kommen sie nicht mehr zusammen

Seit 14 Jahren sind sie die beständigste und - neben Blumfeld und Element Of Crime - wichtigste deutsche Band. Mit "Kapitulation" schreiben sie ihre Geschichte nun fort - Anlass für einen Blick zurück auf turbulente Jahre.

Tocotronic sitzen in einem alten Luftschutzbunker und warten auf ihren Auftritt. Wenn sie durch die Fenster schauen, die man nachträglich wie kleine Tunnels durch die meterdicken Betonwände getrieben hat, sehen die Musiker ein kleines Stück des Hamburger Schanzenviertels. Als sich die Band 1993 zusammenfand, war hier noch das Dorado der linksalternativen Jugendbewegungen. Ein urbanes Dorf, zwischen „Heinz Karmers Tanzkaffee“ auf der einen und dem „Kir“ auf der anderen Seite; nicht wenige Jugendliche glaubten, sie hätten sich das selbst aufgebaut. Heute ist die Schanze eher ein Laufsteg für hippe Besserverdiener, Pop hat sich wieder mal selbst aufgefressen. Neues wächst hier kaum noch, dafür sind die Mieten längst zu teuer. Lediglich die autonome Trutzburg „Rote Flora“ wacht noch über die Moral des Viertels – der Kontrast zwischen blasierten Milchschaum-Schlürfern und zerlumpten Revolutionswächtern ist inzwischen eine Touristenattraktion. Schon lange haben sich Tocotronic von der Beschreibung dieses Milieus abgewandt, 1:1 besungen haben sie es nie, es sind die Widersprüche und Blindstellen, von denen die frühen Lieder handeln.

Für die Band ist heute ein besonderer Tag, denn der Luftschutzbunker ist kein gewöhnlicher Luftschutzbunker, sondern die Location eines der besten Hamburger Clubs: Im „Uebel & Gefährlich“ soll in wenigen Stunden die Live-Premiere des neuen Tocotronic Albums „Kapitulation“ über die Bühne gehen und natürlich sind die vier Musiker angemessen nervös. Vorhin, beim Soundcheck, war das noch anders. Da hat Dirk von Lowtzow in breitestem Schwäbisch mit dem Mixer geflachst, und auch Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail zeigten sich vergnügt und voller Vorfreude auf ein schon lange ausverkauftes Heimspiel.

Doch hinter der Bühne fließt die verlorene Zeit zäher als Sirup. Dirk überlegt, ob er auf eine Dusche nach gegenüber gehen soll, in das Hotel, das die neue Major-Plattenfirma für ihn gebucht hat, weil er seit vier Jahren nicht mehr in Hamburg wohnt, sondern in Berlin. Doch draußen warten schon die ersten Fans, und der Gedanke, beim Zurückkommen Hunderte von Händen schütteln zu müssen, behagt dem Sänger und Gitarristen nicht so sehr, also bleibt er und trinkt Cola, wie die anderen. Auf dem Tisch des Backstage-Raums, der aussieht wie alle Backstage-Räume – karg, schmuddelig und auf eine Sperrmüll-Art funktional – liegt die neueste Ausgabe des Berlin-Magazins „Tip“. Auf dem Cover steht „Tocotronic: Deutschlands wichtigste Band ist zurück“ – als wären Tocotronic jemals weg gewesen. Statt eines Fotos gibt es eine hübsche Collage mit den Köpfen der Musiker, die an die psychedelischen Sechziger erinnert, aber letztlich doch nur das Cover von „Lucifuge“ zitiert, dem zweiten Album von Danzig. Wir lachen herzlich über Glenn Danzig, den muskelbepackten Zwerg Satans, und Dirk findet, dass Rock’n’Roll-Machos ja eigentlich gar kein Problem sind, weil man sich über die ja immerhin amüsieren kann. „Der ehrliche Typ, der alles aus dem Bauch heraus macht, das ist sicher ein größeres Feindbild als die ganz offensichtlichen Machos“, sagt er und schwärmt von den grotesk langen Stacheln auf den Armbändern der Metal-Band Slayer. Die sind angeblich so wahnsinnig lang und spitz, dass sie die Gitarristen beim Spielen regelmäßig stark behindern. Dieser unbedingte Wille zum Stil begeistert den Tocotronic-Sänger, der selber statt quälerischer Lederkreationen ein sehr geschmackvolles helles Hemd mit feinen blauen Streifen trägt.

Und plötzlich ist es 22 Uhr. 1200 Menschen drängen sich vor der Bühne. Rauch, Schweiß und Alkoholdünste bilden einen klebrigen Nebel, auch man selber beginnt sich aufzulösen im Premieren-Publikum, das zu einem hohen Prozentsatz aus anderen „Ich steh auf der Gästeliste“-Schlawinern besteht. Trotzdem ist der Jubel gigantisch, als die Band auf die Bühne kommt, euphorischer noch als beim letzten Heimspiel an gleicher Stelle. Gewollt linkisch und ironisch steif, also eigentlich wie immer, spricht von Lowtzow sein Grußwort: „Ich freue mich sehr, euch mitteilen zu dürfen: Die tocotronische Saison 2007 ist eröffnet“. Ein Gitarrenakkord-und schon fliegt das Dach des alten Luftschutz-Bunkers weg, die Sterne rasen auf ein imaginäres Zentrum zu, Explosionen in der Luft, Blumen blühen, Schmetterlinge flattern, und kosmische Liebe erfüllt den Raum. Dabei ist das alles doch nur Rockmusik, bloß eine kleine Epiphanie für zwischendurch mit dem Titel: „Mein Ruin“. Gleich zu Anfang ein Stück vom neuen Album – das ist mutig, aber egal, es funktioniert: Die Gitarren wogen wie ein erregter Ozean, schwer wie Gewitterregen prasselt das Schlagzeug, dunkel wühlt sich der Bass in tiefste Tiefen. „Mein Ruin, das ist zunächst etwas, das gewachsen ist. Wie eine Welle, die mich trägt und mich dann unter sich begräbt“, singt Dirk, und in seiner Stimme tremoliert die Lust an der Dekadenz.

Wie die körnigen Schwarzweiß-Bilder einer alternden Diva, die ihren letzten Auftritt zelebriert: bittere Tränen, die Schminke zerläuft, der letzte Vorhang fällt, aber der Triumph bleibt, die Realität wird zum Traum, man selber unerreichbar, der Strudel dreht sich schneller und schneller, bis eine Stimme ans Ohr dringt und jubiliert: „Mein größtes Glück – ein tiefes Rot!“

Höllisch entschlossen, wie Rick an den Saiten seiner Gitarre zerrt, bis sie immer infernalischer heult und jault. Ja, Rick, der schon seit drei Jahren dabei ist und viel zu lange als „der Neue“ galt, ist jetzt definitiv angekommen beiTocotronic. Nie war der Sound so voll und satt wie bei diesem ersten Song der „tocotronischen Saison 2007“. Nach tollen Versionen von „Viel zu lange“ und „Sie wollen uns erzählen“ folgt der Titelsong des neuen Albums „Kapitulation“. Das verführerisch leichte Stück wird getragen von einem kecken Sixties-Beat, zu dem einige bereits jetzt in die Hände klatschen. Sanft und hingebungsvoll wie ein Pferdeflüsterer besingt Dirk bisher ungekannte Leidenschaften: „Alle, die die Liebe suchen, sie müssen kapitulieren. Alle, die die Liebe finden, sie müssen kapitulieren. Alle, die disziplinieren, sie müssen kapitulieren. Alle, die uns deprimieren, sie müssen kapitulieren.“ So geht das eine ganze Weile in bester Gospel-Manier, bis das Wunder passiert und die Niederlage suggerierenden Silben Ka-pi-tu-la-ti-on aus dem Mund des Sängers tatsächlich so süß und verlockend klingen wie kein anderes Wort der deutschen Sprache. Halt, Moment mal! – wird jetzt vielleicht der ein oder andere Leser denken.

„Mein Ruin“, „Kapitulation“ -das sind ja ganz schön merkwürdige Titel, selbst für ein Tocotronic-Album. Stimmt. Andere Stücke heißen sogar „Wehrlos“, oder „Verschwör Dich gegen Dich“. Man spürt die Lust am eigenen Untergang; ahnt, dass der Akt der L’nterwerfung hier ausgesprochen positiv besetzt ist. Solche Aneignungen findet man selten in der, immer noch – oder schon wieder? – sehr männlichen Perspektive des Rock. Rufus darf das, auch Antony, aber die sind schwul und camp und somit in den Augen unbedarfter Menschen vogelfrei und können machen, was sie wollen. Aber warum sollte eine heterosexuelle Rockband nicht das gleiche Privileg in Anspruch nehmen? Warum nicht im Pathos baden und die Schönheit des Scheiterns besingen? Zumal in diesem Sich-entziehen ja auch die letzte und ultimative Form der Verweigerung liegt.

Trotzdem tanzt das Unbehagen bei Tococtronic auch 2007 zu stürmischen Power-Akkorden: „Aus meiner Festung“ hat eine an Morricone erinnernde klangliche Weite, steckt voller poetischer Bilder und dem geborgten Aufschrei „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ „Imitationen“ klingt wie eine perfekte Single, ein Ohrwurm, der die Verschmelzung von Du und Ich zum Wir feiert. Ganz anders das 140-bpm-Massaker „Sag alles ab“, das beim Konzert auch als streng limitierte Single (handnumerierte Auflage: 1500 Stück) verkauft wurde. So wild und zügellos klangen Tocotronic zuletzt auf „Wir kommen um uns zu beschweren“. „Verschwör Dich Gegen Dich“ lebt dagegen wieder von jangelnden Gitarren und einem treibenden Beat, man kann prima mit den Fingern dazu schnippen und denkt einen Moment lang an The Jam. „Luft“ ist das letzte Stück vom neuen Album, das Tocotronic an diesem Mai-Abend im „Uebel & Gefährlich“ spielen. Eine weitere Feier der Verweigerung, mit herrlich manieriertem Gesang und den schönen Zeilen: „Ja, ich habe heute nichts gemacht. Ja, meine Arbeit ist vollbracht. ICH ATME NUR. ICH ATME NUR.“

Natürlich spielten die Vier an diesem Abend auch die alten Songs – „Drüben auf dem Hügel“ klang noch nie so atemberaubend.

Eine Woche nach dem Konzert treffe ich mich mit der Band in Ricks Wohn-Studio, das sich auf der anderen Seite des Schanzenviertels in einem Hinterhof befindet. Wenn man hereinkommt, steht man in einem großen, strahlend weiß

gestrichenen Raum, der aussieht wie ein Fotostudio, hell und fast leer, nur ein paar vereinzelte Instrumente stehen herum, weil Tocotronic hier in den letzten Wochen regelmäßig geprobt haben. Weiter hinten hat sich Rick ein kleines Studio eingerichtet, das er in den nächsten Monaten Stück für Stück ausbauen möchte. Im angrenzenden Wohnbereich stehen ein paar schicke, aber nicht zu schicke Möbel aus den frühen Sechzigern. „Nein, das hier ist kein dänisches Design“, sagt der Hausherr lachend, „das kommt alles aus Deutschland.“ Zwischen den Möbeln hat Rick ein paar gutaussehende Keyboard-Raritäten verteilt, ein altes Fender Rhodes hat er gerade erst für 600 Dollar in Amerika gekauft – die Lieferung nach Deutschland war genauso teuer wie das Piano selbst.

Trainingsjacken trägt hier keiner mehr, das macht heute nur noch Jonathan Meese. „Für den ist das ja auch nur so eine Art Uniform“, glaubt Dirk, der mit Meese, einem der zurzeit aufregendsten deutschen Künstler, befreundet ist. Jan ist ganz in schwarz gekleidet und wirkt ausgesprochen elegant, Rick bildet dazu einen entspannten Gegenpol, in einem roten Sweatshirt mit dem Aufdruck „Maine“ – der amerikanische Staat, in dem er geboren wurde. Arne fühlt sich in seinem dunklen Sommerhemd ganz gut aufgehoben. Das Interview kann beginnen.

Auf dem Cover eures neuen Albums “ Kapitulation“ sieht man das Porträt eines ernsten jungen Manns – von wem stammt dieses Bild?

Arne: „Das ist etwas kompliziert: Das Cover ist ein Werk von Henrik Olesen, aber er hat dafür ein Porträt des amerikanischen Malers Thomas Eakins mit dem Titelschriftzug des Albums versehen.“ Dirk: „Henriks Arbeit besteht also in der Aneignung des Bildes, durch die Zusammenführung mit der Schrift.“

Olesen hat also nichts anderes getan, als die Worte „Tocotronic“ und „Kapitulation“ auf ein bereits existierendes Ölgemälde zu setzen?

Arne: „Wir waren anfangs auch sehr überrascht- aber dann ziemlich schnell begeistert. Eigentlich rechneten wir mit etwas anderem von Henrik, die Sachen, die er sonst macht, sind eher grafischer.“ Kunst scheint euch sehr wichtig zu sein.

Dirk: „Wir arbeiten ja schon länger mit Künstlern zusammen, das ist einfach auch ein Teil unseres sozialen Umfelds. Wir würden uns nicht unbedingt Christopher Wool angeln, den Künstler, der das letzte Sonic Youth-Cover gemacht hat – obwohl der sehr toll ist.“ Jan: „Doch! Den kaufen wir uns…“ (alle lachen) Dirk: „Es muss da schon eine gegenseitige Beeinflussung stattgefunden haben. Auch Jan Timme, der die Fotos zu dieser und zur letzten Platte gemacht hat, ist nicht nur ein in Berlin lebender Künstler, sondern vor allem ein Freund.“

Ein Freund ist inzwischen auch Moses Schneider. Der Berliner Produzent hat bereits dem letzten Album, „Pure Vernunft darf niemals siegen“, seinen knackig-trockenen „Dogma-Sound“ verpasst. Diesmal hat Schneider eine breite Palette musikalischer Stile zusammengeführt und viel Raumklang aufgenommen.

Was kann Moses Schneider, was andere Produzenten nicht gönnen?

Rick: „Er kann in sehr kurzer Zeit sehr viel aus allen Beteiligten herausholen. Die letzte Platte hat er so wahnsinnig gut hinbekommen, dass wir uns dachten: ,Never change a winning team!'“

Arne: „Wir haben ja schon andere Platten gemacht, für die wir sehr lange im

Studio waren. Diesmal haben wir wieder viel im Proberaum arrangiert und vorbereitet. Im Studio haben wir das dann in relativ kurzer Zeit auf den Punkt gebracht.

Was hat sich denn gegenüber „Pure Vernunft“ geändert?

Jan: Die Idee der Klangästhetik war eine andere. Wenn man als Rockband zu Herrn Schneider geht, kann man zwar davon ausgehen, dass man live aufnehmen wird, doch diesmal wurde viel räumlicher mikrofoniert.

Der Sound erinnert manchmal ein wenig an Sonic Youth.

Dirk: Moses hatte tatsächlich das letzte Album von Sonic Youth als Referenz gehört. Gar nicht so sehr wegen der Musik, die tangiert ihn, glaube ich, nicht so sehr, es war das Klangbild, das ihn interessiert hat. Wir wollten zusammen ein Statement setzen, gegen diese sehr zusammengeschusterte, extrem komprimierte Art, wie man Rockbands heute produziert. Dieses Cut-and-paste-artige, dieses super tighte Schlagzeug. Moses hat uns aufgenommen, wie man ein Klassikkonzert mikrofoniert, er konnte an uns heran zoomen und wieder weg.

Bei „Explosion“, dem letzten Song der Aufnahmesession in Schneiders Studio, werden die Vorzüge dieses Verfahrens besonders deutlich: Ganz leise – Spacemen 3 lassen grüßen! – fängt das weitgehend improvisierte Stück an. Vom feinen Abtupfen der Gitarrensaiten über das Pulsieren von Jans Bass bis zu Dirks geraunten Feuerwerks-Impressionen rollt Klangwelle für Klangwelle heran, bis alles in einem symphonischen Brausen und Donnern in die Luft fliegt. Moses Schneider soll dabei, wie ein verrückter Dirigent, mit den Fingern in der Luft herumgerührt haben.

Eigentlich erstaunlich: Da sitzt man mit den Tocos, wie sie in Hamburg gerne genannt wurden, und redet über dänisches Design, zeitgenössische Kunst und die Mikrofonierung klassischer Konzerte. Literaten und Philosophen nehmen wir uns später noch vor. Wo bleibt denn da das niedlich Motzige, das der Band anfangs so viele Sympathien beschert hat? Schließlich haben sich die Musiker auf Plakaten und Autogrammkarten gerne mal selber als lustige Fix-und-Foxi-Klone gezeichnet.

Vielleicht sollten wir einfach mal ein paar Jahre zurückgehen und uns im Zeitraffer ansehen, wie Tocotronic das wurden, was sie heute sind: die kleptomanischste, leidenschaftlichste und magischste Band Deutschlands.

Es geschah etwa zu der Zeit, als sich ein kultisch verehrter Rockmusiker aus Seattle mit einer Schrotflinte das Hirn aus dem Schädel rotzte. Drastik war 1994 nämlich sehr angesagt, jeder sprach von Tarantino, Zitat-Pop hatte nun auch das Kino erobert, und die Welt war mehr oder weniger bereit für die erste Tocotronic-Single „Meine Freundin und ihr Freund“. Den Titel hatte die Band von Eric Rohmers „Der Freund meiner Freundin“ abgegriffen, die Musik wurde im kompromisslosen Zwei-Spur-Verfahren im Proberaum produziert und als 7-Inch-Vinyl auf dem eigenen Label Rock-O-Tronic veröffentlicht. Die einzige Verbindung zu den damals immer wieder als Vergleich herbeigeredeten Nirvana war die Tatsache, dass beide Bands aus drei Slackern bestanden, die lautstark und mit viel Emphase auf ihre Instrumente einprügelten. Doch das Sendungsbewusstsein von Kurt Cobain ging Dirk von Lowtzow komplett ab:

„Der hat tolle Lieder geschrieben und war ein toller Sänger und Musiker, aber diese ganze Haltung , dieses total Selbstzerstörerische, da kann ich nicht so drauf. Das ist auch ein gerüttelt Maß an Dummheit“, hat er dem Online-Fanzine „Tocotronix“ erzählt.

Die Single „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ wird sofort von jedem geliebt, der sie kennt -und das waren damals überwiegend Kölner „Spex“-Redakteure und Hamburger Musiker. Jochen Distelmeyer baut die (wir sagen es noch ein letztes Mal für alle zu spät Gekommenen: IRONISCHE) Zeile sogar in den Blumfeld-Song „Sing Sing“ ein. Dazu erhält Tocotronic auf „LEtat Et Moi“ auch noch den Ritterschlag der Hamburger Schule: Gemeinsam mit Schorsch Kamerun, Rocko Schamoni, Tillman Rosmy und Frank Spilker singt Dirk von Lowtzow den legendären „Superstarfighter“-Refrain: „Und davon handeln wir!“

Das Tocotronic-Debütalbum „Digital ist besser“ entstand zwar in einem professionellen Studio, doch der wüst röhrende Sound spottete noch immer jeder Beschreibung. Schon das erste Stück, „Freiburg“, klingt, als hätten die Melvins in einem Dixie-Klo Thomas Bernhard vertont: „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Fahrradfah‘ rer dieser Stadt. Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool. Und ihr demonstriert Verbrüderung.“ Wie kann man mit 23 Jahren so besserwisserisch und negativ sein – vielleicht, weil Dirk gerade erst von Freiburg nach Hamburg umgezogen war und es tatsächlich besser wusste? Es war auch beeindruckend, wie viel Energie, Leidenschaft und Ehrgeiz die drei bei der Informationsaufnahme entwickelten. Tocotronic verschlanger- die Theorie-Heftchen des Merve-Verlags wie andere Musiker Marvel-Comics – egal, ob die Autoren nun Foucault, Baudrillard, Deleuze oder Barthes hießen. Den Titel der EP „Nach der verlorenen Zeit“ haben sie dreist von Marcel Proust geklaut, Literatur lieferte von Anfang an ebenso viel Input wie Slime- und Neil-Young-Platten, Nouvelle Vague, Splatter-Filme und trashige TV-Serien. Kunst kam erst später.

Dirk: „Schon unsere ersten Stücke waren beeinflusst von Schriftstellern wie Thomas Bernhard, solche Sachen hab ich ja damals gelesen wie Pop. Das hat man sich eben reingepfiffen…“

Arne: „… wie’n Bierchen.“ (alle lachen) Dirk: „Man war ja Fan von diesen Sachen, diese Merve-Heftchen waren ja auch so aufgezogen. Schon die Texte der ersten Platte hatten etwas Sarkastisches und… Altkluges. Ein Gefühl, das sich einstellt, wenn man zuviel Thomas Bernhard liest. Man denkt, man versteht die ganze Welt, und alles ist dem Untergang geweiht…“

Arne: „…oder zu verabscheuen.“

Verweigerung und ein allgemeines Unbehagen an der Welt spielten von Anfang an eine wichtige Rolle. Neben einer romantischen Melancholie sind siederrote Faden, der sich von Anfang an durch alle Alben zieht. Dirk schrieb damals Lieder wie Tagebucheinträge: Nur wenige Monate nach dem Debüt folgte bereits „T^ach der verlorenen Zeit“. Mit ironischen Statements wie „Ich bin neu in der Hamburger Schule“ oder „Es ist einfach Rockmusik“ reagierten Tocotronic auf ihre Rezeption in den Medien. Trotz des Hangs zu künstlerischen Verfremdungstechniken wollte man ja bitteschön auch richtig verstanden werden.

Und das war manchmal schwer genug. Denn die Tatsache, dass es gleichzeitig auch sehr berührende persönliche Stücke gab, produzierte immer wieder Missverständnisse. All die 20-Jährigen, die mit Cobain an der Welt gelitten hatten, mochten es noch immer authentisch und echt. Und wenn eine Band so brachial drosch und knüppelte wie Crazy Horse in ihren ekstatischsten Momenten, dann wollte man auch in den Texten Handlungsanweisungen und Beschreibungen ihres eigenen Lebens entdecken. Tocotronic wurden große Brüder, beste Freunde, Mutmacherund Mädchen-Versteher. Second-hand-Kleiderläden wurden spätestens ab jetzt nach Trainingsjacken und engen Vintage-T-Shirts durchstöbert, denn diese Jungs schienen zu wissen, was cool war. Aus ähnlichen Gründen konnten die Frisöre der einschlägigen Szene-Viertel den Band-typischen, asymmetrischen Gesichtsvorhang schon bald im Schlaf schneiden. Ein paar Jahre später wird ein glühender Fan namens Thees Uhlmann, der die Band eine Weile als Roadie begleitet hatte, seine Tour-Tagebücher veröffentlichen. Tocotronic waren, zu ihrer eigenen Überraschung, so etwas wie Popstars geworden.

Kein Wunder, dass VIVA der Band 1996 einen „Comet“ verleihen wollte, dummerweise in der fragwürdigen Rubrik „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“. Auf der Bühne bedanken sich Tocotronic artig für die Einladung zur großen Verleihungs-Gala – und lehnten den Preis vor laufenden Kameras ab. „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein“, erklärte Jan Müller.

Im folgenden Jahr erreichte das von Hans Platzgumer produzierte Album „Es ist egal, aber“ Platz 13 der deutschen Charts. „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ oder „Für immer dein Feind“ sind nur drei von vielen mürrischen Titeln des höchst unterhaltsamen Nachfolgers von „Wir kommen um uns zu beschweren“.

Danach gab es zum ersten Mal eine längere Schaffenspause. Eine gute Gelegenheit, um mit der befreundeten amerikanischen Band Fuck auf US-Tour zu gehen. Beim Abschlusskonzert in New York kamen sogar Abordnungen von Pavement und Sonic Youth hinter die Bühne, um den Hamburgern zu gratulieren. Es muss wie Weihnachten gewesen sein.

Mit „K.O.O.K.“ traten Tocotronic 1999 in ihre experimentelle Phase ein. Man hatte in den letzten Jahren ja weißgott genug Punk-Pop-Songs auf Platten geknüppelt, und langsam gingen Dirk wohl auch die Themen für identitätsstiftende Hass-Lieder aus. Selbst die verwackelte Polaroid-Ästhetik, der die Band all die Jahre über treu geblieben war, hatte sich überlebt. Nun signalisierte bereits das mit leuchtenden Science-Fiction-Bildern prunkende „K.O.O.K. „-Cover eine Veränderung. Die Musik des von Lsge D’Or-Chef Carol von Rautenkranz und der Band semeinsam produzierten Albums ist definitiv Rock – aber dabei so aufwendig und raffiniert wie nie zuvor. Für einige Songs hat Micha Acher von der Weilheimer Band The Notwist sogar Bläser und Streichersätze arrangiert, Thies Mynther spielt Keyboards und Synthesizer, selbst eine Panflöte hat sich eingeschlichen. Höhepunkt des Albums ist die grandiose AC/DC-Hommage „Let There Be Rock“ mit ihren herrlich klebrigen „The Final Countdown-Fanfaren. Im Video stehendie drei Musiker, gekleidet in maskulines Schwarz, vor einer brennenden Bohrinsel und singen ungerührt die tolle Zeile: „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“. Für soviel subversive Sexyness ist ein Platz 38 in den Singlecharts eigentlich viel zu wenig. Auch „Jackpot“ zeigt mit „Wir sind raus, und wir sind stolz darauf“, dass man im Hause Tocotronic einen guten Slogan immer noch zu schätzen weiß.

Ein Jahr später zerlegten Electro-Produzenten wie Funkstörung, DJ DSL oder Fischmob & Erobique, die Songs von „K.O.O.K.“ in das Remix-Albums „KOOiC Variationen“. Endlich hatten auch Tocotronic die Bedeutung von Techno, House und Electronica erkannt. „Gerade nach der langen Arbeit an, K.O.O.K‘ waren wir neugierig darauf, was andere daraus machen“, erinnert sich Jan, der zusammen mit Arne die Auswahl getroffen hat. Leider erreichten nur wenige Interpretationen die Qualität und Wucht der Originale. Wirklich toll ist nur Thies Mynthers und Sven Meyers Version von „Freiburg V3.0“, wegen der wahnsinnigen Idee, das Leitmotiv von Dario Argentos „Suspiria“ einzubauen -weil dieser Horror-Klassiker doch in Freiburg spielt. Was nun folgte, könnte man das „Smile“ von Tocotronic nennen – die Suche nach dem heiligen Gral der klanglichen Perfektion. Fast zwei Jahre verschwindet die Band im Electric-Avenue-Studio von Tobias Levin. Nicht nur, um die Lieder für das nächste Album einzuspielen, sondern um sie dort zu schreiben, zu arrangieren, zu proben und letztlich detailbesessen und aufwendig aufzunehmen. Zwischendurch vertreiben sich die drei die Zeit mit Neben-Projekten: Dirk gründet zusammen mit Thies Mynther das Elektronik-Projekt Phantom/Ghost und schreibt für das Magazin „Texte zur Kunst“. Jan schließt sich derweil mit Rasmus Engler und der Ex-Pop Tarts-Sängerin Julia Wilton zur Band Das Bierbeben zusammen, während Arne in seinem Schlafzimmer Electronica produziert und sich an der Programmgestaltung der Hamburger Off-Galerie Hinterconti beteiligt.

Als dann im Frühsommer 2002 das namenlose „Weiße Album“ endlich erscheint, sind alle zunächst sprachlos – das hatte nun wirklich keiner von Tocotronic erwartet. Danach bricht der Jubel los. Selbst der „NME“ meldete sich zu Wort – und hat ausnahmsweise völlig recht: „Excellent icy electro-guitarclash’pop. A meeting of movements that comes good (…) landing somewhere between Grandaddy and New Order.“ Roxy Music und Brian Eno dienten als Referenzpunkte, doch herausgekommen ist eine eigenständige und sehr moderne Popmusik. Die Leichtigkeit der Songs, die Brillanz der Produktion und die rätselhaftesten, aber dabei auch schillerndsten Texte seit der Gründung der Band machen das „Weiße Album“ zum bisher besten Tocotronic-Album.

Selbst der leidenschaftlichste Fan von „Digital ist besser“ muss nun mit dem leben, was Dirk in „Neues vom Trickser“ singt: „Wir sind wie Agenten, jetzt ist es soweit. Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei.“ Das Lyrische Ich hat endgültig gesiegt: „Wenn man instrumentalisiert wird und ungehört in eine Schublade gesteckt wird, dann stört einen das“, sagt Dirk, und man hört am Klang seiner Stimme, wie ernst es ihm ist. „Wir wollten auch nie, dass die Trainingsjacke zum Pendant der Lederjacke der Ramones wird. Dazu geht es uns, so hochtrabend das vielleicht klingt, doch mehr um die Kunst als um Entertainment.“

Nun ist es aber keinesfalls so, dass Tocotronic wegen der Kunst auch aufgehört hätten, kritische Geister zu sein. Die neuen Texte spiegeln lediglich eine komplexere Weltsicht, Schönheit wird zum Gegenentwurf der Realität, mit der man sich aber weiterhin auseinandersetzt – nur symbolischer und mit Bildern aus Poesie, Theorie und Trash-Kultur.

2003 spielen Tocotronic in der Hamburger „Roten Flora“ unter dem Motto „Regierung stürzen – Let The Music Play“ ein Benefiz-Konzert für die Bewohner des von Innensenator Ronald Schill geräumten Bauwagenplatzes „Bambule“. Und die Debatte um eine Radio-Quote für deutsche Popmusik lassen die Musiker auch nicht unkommentiert: „Sehr geehrte Damen und Herren, wie schon an anderer Stelle vermerkt, lehnen wir, die Gruppe Tocotronic, Nationalismus, Deutschtümelei und Heimatduseligkeit seit Anbeginn aller Zeiten ab. Umso erstaunter sind wir nun, das schon zum zweiten Mal in unserer bewegten Karriere der Versuch unternommen wird, deutsche Musik zu nationalisieren und eine Quote für hiesige Produktionen im Rundfunk einzurichten. Das gepfeffert zornige schreiben schließt mit den Worten: „Wir sind dagegen! Und fragen: Lebt denn der alte Holzmichel noch? Mit herzlichem Gruß, Tocotronic“.

Mit den Aufnahmen zum nächsten Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ wird der seit Mitte der Neunziger in Deutschland lebende Rick McPhail offiziell zum zweiten Gitarristen von Tocotronic. Inoffiziell hat der Multiinstrumentalist, der auch noch in der Band Glacier spielt, schon seit Jahren bei Tourneen mitgemacht, sich vom T-Shirt-Verkäufer zum Gitarristen und Gelegenheits-Keyboarder hochgearbeitet.

Das nach Wald und Ausdruckstänzen bei Vollmond riechende „Pure Vernunft“-Album dreht noch ein wenig mehr an der Rätselschraube: Man bezieht sich nun auf die Freak-Folk-Pioniere The Incredible String Band und Joris-Karl Huysmans morbiden Dandy-Klassiker „Gegen den Strich“, der gerade in einer wunderschönen neuen Ausgabe unter dem neuen Titel „Gegen Alle“ bei Zweitausendeins erschienen ist.

Und trotzdem war die erste Single „Aber hier leben, nein danke“ wieder mal ein poetisches Statement zur Lage der Nation und der Versuch, so etwas wie eine künstlerische Utopie zu formulieren: „Ich glaube, dass wir heute mit einer Flucht zur Realität konfrontiert sind“, behauptete Dirk damals. „Alles muss auf einem vernünftigen, fundierten Boden stehen, das ist ein Backlash gegenüber allen seit 1968 stattgefundenen Ideen und gegenüber einer diffusen Menschlichkeit. Es kommt viel zu selten vor, dass mal ein Rundumschlag gestartet wird oder auch mal mit der eigenen Freakigkeit gespielt wird, dabei finde ich das wichtig.“

Auch kommerziell stoßen Tocotronic mit „Pure Vernunft“ in höchste Höhen vor: Platz 3 der deutschen Albumcharts und ein Beitrag in den „Tagesthemen“. Eher bizarr ist dagegen die Zensur des Hamburger Bürgermeisters Ole von Beust durch den NDR. Zu Gast in einer Radio-Wunschsendung, durfte der „langjährige Anhänger“ ein von ihm gewünschtes Tocotronic-Stück nicht über den Sender schicken. Der Götze „Format-Radio“ kennt keine Ausnahmen. Die Band selbst war von der Tatsache, prominente CDU-Politiker unter ihren Fans zu haben, dann doch leicht irritiert.

Nicht bloß irritierend, sondern nahe am Desaster war die Krise der Hamburger

Institution LAge D´Or – von Anfang an die Label-Heimat von Tocotronic. Die Insolvenz konnte Chef Carol von Rautenkranz glücklicherweise gerade noch abwehren (siehe Kasten), doch über die bestmögliche Zukunft seiner erfolgreichsten Band gab es keine Einigung. Tocotronic kauften Anfang des Jahres die Rechte an ihrem gesamten Backkatalog zurück und wechselten zum Major Universal. Auf der Strecke blieb dabei vorerst das Soloalbum von Arne Zank. Obwohl die Sammlung überwiegend elektronischer Stücke (nur vier Lieder sind mit Gesang) seit letztem Sommer fertig ist, soll sie erst Ende des Jahres auf Rock-O-Tronic erscheinen. „Das ist jetzt erst mal vertagt“ sagt Arne. „Ich möchte das nicht parallel veröffentlichen, das hat Zeit, es ist ja nicht so, das ich den neuesten Style präsentiere, der ein Jahr später schon wieder altbacken wäre.“

Rick McPhails sonnendurchflutete Wohnung, in der gerade die vierte Literflasche Cola auf dem Tisch kommt, durchzieht ein kühler Hauch, als ich das Thema LAge D’Or anschneide. „Wir können über alles reden….“, sagt Jan lächelnd und wirkt doch eher unlustig dabei.

Könnt ihr die Ereignisse, die zu dem Wechsel geführt haben, kurz zusammenfassen?

Arne: „Das war sehr unangenehm, dass man während der Aufnahmen zu einem neuen Album eine neue Plattenfirma suchen muss.“

Jan: „Wir haben einfach gemerkt, dass die Platte bei LAge D’Or nicht so rauskommen kann, wie wir das für angemessen halten. Wir kennen den Laden ja gut genug. Das war dann der Punkt, wo uns klar wurde, dass wir nach etwas Neuem Ausschau halten müssen. So schade das ist, nach so langen Jahren.“

Haben euch Indebendent-Labels nicht oder weniger gezogen?

Dirk: „Das klingt jetzt etwas eitel, aber das war wahrscheinlich so.“ Arne: „Man hat durch diese enge Verbindung ja auch eine Verantwortung gespürt. Natürlich war es total traurig, diese Trennung zu vollziehen. Aber im Nachhinein fühlt es sich ganz richtig und angenehm an, weil man interessiert?

Dirk: „Heute ist das nur noch ein Verkaufsargument, eine Schein-Alternative zum angeblich bösen Mainstream. Viel wichtiger ist, dass man als Künstler auch ein grundsätzliches Potenzial an Verweigerungshaltung oder Selbstbestimmung besitzt. Für uns war es auch eine Bürde, bei Lado zu sein. Wir waren die größte Band des Labels, die Sache stand und fiel oft mit uns.“

Du meinst, ihr habt den Kürren mehr

auch so viel Freiheit dazugewonnen hat. Lado gibt’s ja noch, und man versteht sich wunderbar, aber wir mussten halt einige Schritte machen.“

Und so kommt es, dass das achte Studioalbum von Tocotronic am 6. Juli 2007 bei Universal erscheint. Wirklich geändert hat sich wenig- schließlich wurden schon in den Neunzigern einzelne Alben über die Universal-Tochter Motor vertrieben. Und inhaltlich ist „Kapitulation“ ohnehin die logische Weiterführung von „Pure Vernunft darf niemals siegen“, nur das sich die Band diesmal eine breite stilistische Vielfalt gönnt. Doch noch immer schwelgen die Texte in romantisch symbolistischen Bildern, wie beim traumverlorenen „Harmonie ist eine Strategie“. „Das werden wir nie live spielen“, tönt Rick und empört sich über die viele Arbeit, die das Stück im Studio gekostet hat, weil es nicht wie die anderen live eingespielt wurde, sondern mit vielen Overdubs. „Das ist das einzige Stück, das ich ohne Musik geschrieben habe. Ich war in Tanger und bin dort viel herumgelaufen und habe… das klingt jetzt vielleicht kitschig…“ Das Ende von Dirks Satz geht im allgemeinen Gelächter unter, man scheint die Geschichte zu kennen. Von Lowtzow mag zwar der alleinige Songwriter sein, und man lässt ihm auch einiges an Exzentrik durchgehen, doch wenn es gar zu schwelgerisch romantisch wird, greift die freiwillige Selbstkontrolle des kollektiven Frohsinns. „Er war in Marokko auf dem Markt und hat die toten Hähnchen…“ prustet es erneut aus Rick heraus, doch schon wieder endet alles in kicherndem Gelächter.

„Ich hab den Text im Hotelzimmer im Prosa-Stil auf Hotel-Briefpapier geschrieben. Das Stück hat etwas Narratives, einen Hörspiel-Charakter“, sagt Dirk jetzt ohne Unterbrechung. Und Rick ergänzt: „Da ist Glockenspiel drin. EPiano, Harmonium…“- „…Pauken und Trompeten!“, versucht Arne noch einen Witz. Doch der Sänger will nun endlich den Song zu Ende erklären: „Es gibt eben immer Stücke, wie auch ,Free Hospital‘ vom ,Weißen Album‘, die diese traumhafte Struktur haben, wo man ganz bewusst mit Schichtungen arbeitet und so etwas wie ein „Klangkunstwerk“ erschafft, mal ganz wertungsfrei gesagt, das, wenn man es aufführt, nicht mehr funktioniert.“

Ist der Titel „Kapitulation“ als Provokation gemeint?

Arne: „Zuspitzung ist ja etwas, dass wir schon sehr lange betreiben. Sachen auf den Punkt zu bringen und darüber hinaus…“

Dirk: Der Titel kam uns ebenfalls provozierend vor, auch das Stück selber, weil es einem ein bisschen den Boden unter den Füßen wegzieht. Aber genau das fanden wir so unglaublich schön – die Idee dieser Selbst-Aufgabe.“

Die Lust am eigenen Untergang…?

Dirk: ,Ja, genau. Das ist auch so ein campy Thema, das wir spannend finden. Das hat natürlich etwas sehr Unmännliches. Außerdem ist dieses Feiern der Kapitulation natürlich immer auch ein sehr anti-nationalistisches Statement, im weitesten Sinne.

Jochen Distelmeyer war von dem Fahnenrausch der Deutschet! im letzten Sommer so betroffen, das der im letzten Blumfeld-Song „Deutschland der Deutschen“ ausgesprochen bitter beschreibt. Hat die Fußball-WM bei „Kapitulation“ auch eine Rolle gespielt?

Arne: „Da waren wir schon fertig mit den Songs und haben bereits geprobt.“

Dirk: „Als Songwriter hat mich das nicht tangiert, weil mich die WM, im

Guten wie im Schlechten, überhaupt nicht interessiert hat.“

Jan: „Übelkeit entstand bei mir eher durch die Rezeption in den Feuilletons, wie das dort aufgearbeitet wurde. Das Fahnenschwingen selber habe ich, als jemand, der im weitesten Sinne in St. Pauli wohnt, nicht als so nationalistisch empfunden. Ich finde „Kapitulation“ einfach auch als Wort sehr schön. Und als Plattentitel.“

Was für eine Idee stand denn hinter „Sag alles ab“, dem schnellsten und aggressivsten Tocotronic-Song seit vielen Jahren?

Arne: „Welche Idee dahinter stand, muss Dirk erzählen, aber es hat einen natürlich sehr gefreut, dass man wieder ein Stück hat, das ein gewisses Tempo hat und auch eine gewisse Dringlichkeit und Aggressivität.“

Dirk: „Hinter dem Stück steht der in Herman Melvilles ,Bartleby, der Schreiber‘ formulierte Impuls, sich zu entziehen und einfach etwas nicht machen. Das ist ja die extremste Form des Arbeitskampfes, dass man sagt, ich mache einfach gar nichts. Das ist eine wahnsinnig beglückende Utopie. Wenn man diese Utopie des absoluten Nichtstuns als extremen Appell vorträgt, ergibt das natürlich eine ganz schöne Reibung.“

Der Schreiber Bartleby, von dem Dirk spricht, ist eine der aufregendsten und subversivsten Figuren der amerikanischen Literatur. Die Novelle des „Moby Dick“-Autors Herman Melville spielt Mitte des lo.Jahrhunderts in der New Yorker Wall Street. Ein rätselhafter, junger Mann wird in einer Kanzlei als Kopist eingestellt. Schon bald verweigert Bartleby, so heißt der blasse Junge, die Ausführung bestimmter Arbeiten mit den Worten „I would prefer not to“!

Diese Verweigerung erscheint sinnlos, und obwohl sich der Anwalt geradezu rührend um seinen störrischen Mitarbeiter kümmert, ist sie von gnadenloser Konsequenz: Am Ende wird Bartleby im Gefängnis sterben, doch das Vakuum der Irritation, das er um sich erzeugt hat, bleibt bestehen.

Der Philosoph Gilles Deleuze hält Bartlebys „I would prefer not to“ für eine raffinierte Formel, „die jedem den Kopf verdreht“, denn sie unterstellt, so utopisch das auch sein mag, eine Freiheit der menschlichen Handlungswahl: Niemand kann uns zwingen, gegen unsere Wünsche und Interessen zu handeln. „Die Formel“ kann uns Verbündete schaffen, in letzter Konsequenz kann sie aber auch tödlich sein. Eine ausgesprochen romantische Version von Widerstand. „Dieses Thema des Sich-Entziehens, wie man es bei ,Bartleby findet, durchzieht Kapitulation‘ in verschiedenen Spielarten“, erklärt Dirk. „Mal kommt das Entziehen so pompös daher wie bei .Mein Ruin‘, mal führt man Krieg gegen das eigene Ego, wie in .Verschwör dich gegen dich‘. Wenn man die Stücke schreibt, merkt man, wie sich die Sachen aufeinander beziehen. Es gibt also einen roten Faden. Aber mir geht es im Moment wie Werner Herzog, als er in einem Interview gefragt wurde, warum, um Himmels Willen, er in ,Fitzcarraldo‘ das verdammte Schiff über den Berg schleppen ließ. Er konnte nur mit den Schultern zucken und sagen: Ich weiß, dass ich das getan habe – aber warum und wofür?“ Da lachen alle, und Dirk erzählt noch schnell, dass einer seiner Lieblingskünstler, Marcel Duchamp, auf die Frage nach seinem Beruf antwortete: „Ich atme.“ Gibt es eigentlich manchmal Einwände gegen Dirks Texte? Jan: „Es ist eine Gratwanderung, weil die Musik schon stark über die Texte rezipiert wird. Da hat man als Mitmusiker natürlich schon diesen Eiertanz, dass man dahinterstehen muss. Deshalb gibt es da natürlich auch Diskussionen! wenn man zu Dirk sagt: Das finde ich jetzt aber komisch.“ Arne: „Oder: Was meinst du damit?“ Und wie verhält sich Dir dann?

Jan: „Er ist eigentlich sehr uneitel und ändert Sachen schnell. Bei uns gibt es auch so etwas wie ein basisdemokratisches Veto-Recht: Wenn einer sagt, das kann ich nicht machen, dafür halte ich mein Gesicht nicht hin, dann machen wir das auch nicht.“ Gibt es ein Beispiel vom aktuellen Album?

Jan: „Das Titelstück. Da wurde zwar nicht viel geändert, aber es gab von allen, inklusive Dirk, reichlich Diskussionsbedarf. Was bedeutet das? Was sagt das‘ – oder besser: Was kann das sagen? Das passiert komischerweise immer bei den Titelstücken, bei der letzten Platte war es ähnlich.“

Tocotronic können immer noch gut miteinander streiten. Ein Streit ist ja nur dann etwas Unangenehmes, wenn er zum Konflikt wird. Doch hier gerät die Auseinandersetzung eher zur lustvollen, verbalen Rauferei. Die Interessen der einzelnen Musiker mögen inzwischen stärker auseinanderdriften – doch es gibt immer noch eine genügend große Schnittmenge. Auch in ihrer Haltung, gegenüber einer neuen Generation deutscher Popmusiker, sind sie sich einig! Die ehrlichen Kumpel-Typen gefallen ihnen ebenso wenig wie die dressierten Stehaufmännchen in „Popstars“, die längst nicht mehr träumen, sondern nur noch einem Arbeitsplatz im Showgeschäft suchen. Nur, dass Einstellungsgespräch und Eignungstest einem Millionen-Publikum vorgeführt werden.

„Für uns war die Entscheidung, Musik zu machen, ja eine Flucht aus dem Berufsleben“, sagt Dirk. „Für viele der jüngeren Bands ist das heute genau umgekehrt. Die betonen ja immer: Das ist unser Beruf, und das haben wir ja auch wirklich gelernt.“

Da halten es Tocotronic doch lieber mit Bartlebys sanftem „I would prefer not to“ und dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Dessen Aufsatz „Zauberei und Glück“ hat Dirk sehr beeindruckt: „Agamben verfolgt in dem Text die schöne Idee, dass man das wahre Glück nicht durch harte Arbeit erlangen kann, sondern nur durch Zauberei und Schwindel – wie die Wunderlampe oder der goldene Schlüssel im Märchen.“ So mancher gestresste Arbeitnehmerund Ein-Euro-Jobber wird dem sicher bedingungslos zustimmen können.

Und letztlich sind ja auch Tocotronic Zauberer und Schwindler, im besten Sinne freilich. Ihre „Kapitulation“ist in Wirklichkeit ein Triumph über die Schwerkraft des Alltags, der auch die Rockmusik längst heimgesucht hat. Denn wer möchte heute noch Teil einer Jugendbewegung sein?

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