Tonträger 2001

Krise? Welche Krise? Die Umsatzzahlen sanken zwar, zumal nach dem Tag im September, aber die popmusikalische Ernte 2001 ist eine exquisite.

Auf der Plattenhülle sah man ein Hinterteil, wahrscheinlich weiblich, ferner einen schwarzen Handschuh – und der gebildete Musikhörer dachte sogleich an Spinal Tap und deren fiktives Album „Smell The Glove“. Anders als Spinal Tap waren die Strokes jedoch nicht für den Arsch und auch noch real, und ihre Drei-Minuten-Gassenhauer auf „h Thislt“waren die Entdeckungen des Jahres. In den USA mussten die Strokes das Cover ändern – und sie bestraften ihre Landsleute mit der scheußlichsten Grafik, die je ein Meisterwerk zierte. New York, New York – die Heimatstadt derfünfBurschenwardie Kapitale des Rock, bevor das Inferno losbrach.

„New York, New York“ heißt auch der erste Song auf Ryan Adams‚ Album „Gold“, das demonstrativ die Stars 8C Stripes auf dem Cover hat, davor der verrenkte Adams als eine Art Anti-Springsteen, 17 Jahre nach „Born In The USA.“. Wie Bruce reist Ryan durch ein ambivalentes, verwundetes Amerika, aber anders als damals klingt es nicht wie eine Triumphfahrt und also nicht missverständlich. Adams‘ Eklektizimus gemeindet auch Nashville und die Stones ein, und wenn er mit „The night makes moves“ anhebt, dann ist da wieder die Magie eines Films von Peter Bogdanovich, Paul Schrader oder Martin Scorsese. „Gold“ führt ins finstere Herz Amerikas und endet mit „Goodnight, Hollywood Blvd“ auf dem Boulevard der Dämmerung. Und wenn auch diesem Jahr jeder Romantizismus ausgetrieben wurde – diese Mystik lassen sich die Amerikaner nicht nehmen (und wir uns ebenso wenig).

Für den klassischen loser und drtfter war 2001 ein Jahr wie jedes andere: Will Oldham, mal wieder als Bonnie „Prince“ Billy unterwegs, gelang mit „Eose Down The Rood“ eine seiner schönsten, geschlossensten Platten. Mark Eitzel scheiterte als „The Invisible Man“ an elektronischen Experimenten, blieb als selbstironischer Parade-Versager aber intakt. David Berman alias SUver Jews und The Handsome Family besangen das Amerika des Hinterlands, das unheimliche, verwunschene darkland der Alpträume und Schauergeschichten. Ron Sexsmith war wieder der fragile „Blue Boy“, Stephen Malkmus gab auf seinem ersten Solo-Album nach Pavement wieder den kleinen Gott der intellektuellen Indie-Gemeinde. Granfaloon Bus, Rieh Hopkins, The Walkabouts, Continental Drifters spielten wie immer vor allem für die deutsche Roots- und Atnericana-Gemeinde, natürlich bewährt und beseelt. Komisch, wie der Gemeinplatz vom Propheten im eigenen Land von kleinen deutschen Labels stets bestätigt wird, die sich soviel amerikanischen Traum (und amerikanisches Träumen) leisten wollen. Wobei auch diesmal kein ganz großer Wurf dabei war – zu gemütlich knistern die Lagerfeuer, traben die Gäule und heulen die Coyoten bei dieser Heimatmusik.

„Quiet is the new loud“ wurde zwar ohne Konkurrenz zum Slogan des Jahres, doch bei allen Variationen des Dummspruches (auch wir sind schuldig!) ereignete sich beim dazugehörigen Programm kaum Umstürzlerisches. Turin Brakes, Kings Of Convenience, I Am Kloot, Simian und Alfie hatten wenig Kraft und gar kein Charisma – auch ein Grund für die anhaltende Depression in England.

Dort reüssierten nur Damon Albarns alberne Gorillaz – mäßig lustig, mäßig gute Songs, aber endlich die Jugend und die Werbung auf ihrer Seite. Blur-Gefahrte Graham Coxon setzte mit „Crow Sitting On A Blood Tree“ gleich ein weiteres Werk der klinischen Depression dagegen. Oasis feierten Zehnjähriges ganz ohne Lärm und ohne Platte. Die irischen Berufsjugendlichen von Ash dagegen, in den großen Tagen der Gallaghers nur zweite Power-Pop-Klasse, hatten genug gute Songs für^reeAUAngels“, den diesjährigen Freibad-Begleiter für Freunde der britischen Gitarre. Die Schotten triumphierten mit „The Invisible Band“ vonTravis, wenn auch „The Man Who“ kommerziell nicht übertroffen wurde. Die vier großen walisischen Bands nahmen allesamt überzeugende Platten auf: Manie Street Preachers, Stereophonics, Super Furry Animals und Catatonia retteten den Insel-Pop über die Runden – wobei Catatonia nach Cerys Matthews‘ Alkoholexzessen endgültig auseinanderfielen. Ein Original weniger (und was für eins).

Pulp, genuin britische Helden, sanken in der heimatlichen Gunst so tief, dass nicht einmal Jarvis Cockers Konterfei auf die Titelblätter der Musikzeitschriften kam. Auch „We Love Life“ fand kaum Anhänger bei der Kritik – verblüffend bei einem so ingeniös produzierten Album mit elaborierten Sounds und fein ziselierten Songs, gescheit, gewitzt und apokalyptisch zugleich. Jawohl: zu viel!

Prefab Sprout, in Deutschland verehrt, in England missachtet, legten mit „The Gunman And Other Stories“ ein hübsches, freilich nah am Kitsch gebautes Konzept-Album vor: Paddy Mc-Aloon als Westerner, als der Junge, der ihr das Herrz gestohlen hat Eine wahrlich pubertäre Vision eines Mittvierzigers, aber eben auch ein unterschätztes Pop-Album. Die Tindersticks sind zwar nicht mehr die Alten, aber „Can Our Love…“ signalisiert mit sparsamer Instrumentierung und ein paar Tonnen Emphase weniger, wie es weitergehen kann, wenn schon alles gesagt ist. Wo früher Oscar Wilde die Songs von Tom Waits und Townes van Zandt mit Kammerorchester sang, gibt Stuart Staples heute den mühsam kontrollierten Soul-Crooner.

Radiohead haben schon zuviel gesagt: Für „Amnesiac“ ernteten sie noch einmal Aufmerksamkeit, mit dem Live-Dokument „I Might Be Wrong“ Verabschiedeten sie sich vermutlich für länger. Die ehedem (beinahe) größte Band der Welt: ein Workshop. Doch strapazierten die Eierköpfe allzu sehr die Nerven auch der Wohlmeinenden.

Auf das Debüt von Starsailor mussten wir lange warten – und als es schließlich kam, war es natürlich nur eine Erweiterung der exzellenten, immer auch weinerlichen Singles der Band. Keine Enttäuschung, aber eben auch keine Erschütterung mehr. James Walshs Organ verleidet einem manchmal das Leiden. Einzelkämpfer Luke Haines brachte zwei idiosynkratische, schwer eklektizistische Plattenheraus, denen man die monomanische Heimarbeit anhört. Die Beschäftigung mit Disco führte bei Haines naturgemäß zu ganz anderen Ergebnissen als bei Kylie Minogue, deren „Fever“ ohne „Can’t Get You Out Of My Head“ längst nicht so viele Männer fiebrig gemacht hätte. Aber wie Kylie es seit zehn Jahren schafft, ihrer Vergangenheit zu enteilen, ist ohne Beispiel in der Popmusik.

Der Vergangenheit wollten New Order gar nicht entkommen – und deshalb ist „Get Ready“ so vollkommen entspannt, angenehm alte Schule und hymnisch wie früher. Nicolette Krebitz stand der Band für die Coolness zur Seite. Ein Comeback (wie das von Roxy Music, die aber ohne LP) der guten Art, ohne Reue.

2001 war allemal und vielleicht zuvörderst das Jahr des Furz-Rock: Alien Ant Farm, Sum 41, Blink-182 – die Saat des Fred Durst gebar neue Ungeheuer. Die rülpsenden Rüpel wurden angeführt von Kid Rock, der gegen Ende des Jahres zur Offensive blies. Ernsthaftere Modern-Rock-Vertreter wie Incubus und Staind – in der Tradition jugendlicher Grübler mit lauten Gitarren – fanden trotz ordentlicher Erfolge weniger Gehör. Ebenso die frömmelnden Pfeifen von Creed: Kaum eine Band macht so aggressiv wie die dumpfen Pathetiker mit ihrem grunzenden Schweinerock. Unaufdringliche Könner wie Weezer und Jimmy Eat World, die Power-Pop mit Hardcore-Gestus versöhnen, machten fabelhafte Platten und gelangten in Deutschland mühelos in die Charts.

Die White Stripes wurden in England zur Speerspitze der Detroit-Szene erklärt – bloß folgte kein Detroit. „White Blood Cells“ ist ein später Triumph des Basteins, Frickelns und Zitierens – der seltsamste Hype dieses Jahres, dabei ganz unspektakulär.

Wenig erbaulich endete das Jahr für die so genannten Superstars: Michael Jacksons „Invincible“ fiel nach einer Woche Nummer eins überall ins Bodenlose und kann diesmal wohl nicht mit Notmaßnahmen aufgefangen werden. ‚N Sync verfehlten in Amerika bei weitem frühere Erfolgsmarken. Die Backstreet Boys brachten nur mehr ein „Best Of‘ heraus. Mariah Carey strauchelte und verschwand im Sanatorium. Und Schätzchen Britney stürzte auch in der Gunst der deutschen Plattenkäufer: Zu omnipräsent ist mittlerweile die unentwegt schwatzende eiserne Jungfrau, die sonderbarerweise so promiskuiti v wie abgebrüht wirkt und die Wonnen des Shoppens preist. Auslaufmodell.

Ein „Celebrity Death Match“ gegen den Angstgegner Eminem musste die Dame Spears zu ihrem Glück nur verbal schlagen, die Platten kamen sich nicht in die Quere. Der HipHop-Cousin der Furz-Rocker segelte mit seiner alten „Marshall Mathers LP“ noch einmal hoch in die Charts, gedieselt vom Radio-Hit „Stan“, der Eminems Duett-Partnerin Dido ebenfalls zu einem Top-Ten-Album verhalf. Auch den alten Freunden D-12 („Devil’s Night*) brachte die Eminem-Verbindung Glück und Geld – überraschenderweise muss man den White-Trash-Rapper plötzlich ernst nehmen, der im post-pubertären Duktus mehr Hörer anspricht, als zu vermuten war. Sogar Elton John.

Das Jahr im HipHop prägten ansonsten alte Kämpen wie der Wu-Tang Clan, Jay-Z, Snoop Dogg und DMX, denen solche Breitenwirkung jedoch nicht glücken kann. Neben kreativen Vögeln wie dem Slam-Poeten Saul Williams oder dem Londoner Roots Manuva, der auch über gebackene Bohnen und chipshops rappt, gaben vor allem Big Boi und Dre von OutKast aus Atlanta Grund zur Hoffnung: Ihr eigentlich abgelaufenes Album „Stankonia“ rutschte (ähnlich wie bei Eminem) durch den Erfolg der Single „Ms. Jackson“ weit nach oben und brachte Siebziger-Funkyness und gelassenen Humor in die sonst bärbeißige Rap-Liga.

Eine große Ankunft in der Black Music: Um die „neuen Diven“ wurde viel Bohei gemacht, doch Alicia Keys erfüllt das Klischee nicht. „Songs In A Minor“ ist eher eine Wunderkind-Platte, und Epigoninnen wie Olivia sind weit entfernt von Alicias Talent. Verkable Old-School-Diven wie Mary J. Blige und Missy Elliott waren zwar mit provokativen Alben präsent, profitierten aber nicht vom Gewese um die jungen schwarzen Hoffnungen. Dabei ist Missy gerade 30 Jahre alt. Macy Gray, die noch vor zwei Jahren zu schönsten Hoffnungen berechtigte, versank trotz aggressiver Reklame mit „The Id“, Kelis konnte sich mit eigenwilligen Songs erwartungsgemäß nicht durchsetzen. R&B ist in den USA ein etabliertes Genre, auch in der modernen, pervertierten Form. Doch je selbstbewusster, lauter und enthemmter die Grazien auftreten, desto mehr verabschieden sie sich vom Konsens, den Diana Ross oder Tina Turner stets beachteten: sexuell nicht allzu dominant erscheinen und Liebhaber nicht als „One Minute Man“ stigmatisieren, wie Missy Elliott es wagte.

Die Songschreiber-Frauen hielten sich in diesem Jahr zurück: Melissa Etherdige restaurierte ihren Bauernhof-Rock mit elektronischen Sperenzchen, Heather Nova modifizierte den gefällig gesäuselten Darling-Pop, Aimee Mann schrieb Lieder auf hohem Niveau, aber absichtlich unterkühlt. Eva Cassidy triumphierte posthum mit „Songbird“, erst in England, dann auch in Deutschland. Ahnlich verhielt es sich mit der Seelenmassage von Enya, die nach dem 1L September stark gefragt war. Lucinda Williams, die Schotter-Heroine des gelebten Folk-Songs, brachte mit „Essence“ wiederum eine meisterliche Platte heraus. Zwar gilt dem Puristen „Car Wheels Ott A Gravel Road“ als wichtiger, doch Williams‘ herbe Geschichten über unerwiderte Liebe und sehnsüchtige Landpomeranzen ergänzen das Amerika-Bild von Ryan Adams aufs beste.

Amerikas größte und früher wichtigste Band blamierte sich mit „Rereal“ nicht: R.E.M. spielten plötzlich unverkrampft und frühlingshaft auf; Michael Stipe sang deutlich und gut gelaunt wie nie. Keinen Konsens-Platte mehr, kein Meisterwerk – doch ein erstaunliches Spätwerk ohne Prätention und Bombast.

Was ebenfalls gilt für die Alben von Bob Dylan, Paul McCartney, Merk Haggard, Leonard Cohen, Mick Jagger und Iggy Pop: Die so genannten Legenden schlugen sich nicht nur tapfer, sie gingen mit einem Elan und einer Radikalität ans Werk, mit denen sie fast alle Jüngeren überfügelten. Popließ bei schlamperten Garagen-Rock die Gitarren bratzen, McCartney spielte ohne Schlock präzise Songs und Melodien, Jagger stellte sich hübsch hymnische Refrains zusammen und schrieb auch noch ein paar Texte dazu. Haggard nahm wunderbare Songs von Lefty Frizzell auf und konnte also nichts falsch machen; Cohen ließ seine Poeme von Sharon Robinson vertonen und verorgeln – eher tragikomisch. Dylan aber produzierte „Love Aitd Theft“ als erste eigene LP überhaupt selbst und erreichte einen Sound, wie man ihn nur noch sehr alten Platten entlocken kann. Wie ein Güterzug aus der Ferne rumpelt „Tweedle Dee And Tweedle Dum“ heran, und wer die geschichtsseligen Songs dieser Platte merkwürdig findet, der wird auch den Humor in den Liebesliedern und den Katastrophenszenarien nicht verstehen. Um Macht gehe es in diesen Stücken, sagt Dylan, was natürlich zunächst nichts heißt Aber es könnte auch bedeuten: um dich und deinen Platz in der Welt, um die alten, überlieferten Geschichten vom „Po‘ Boy“ und anderen Typen – Archetypen. Dylan singt die Songs begnadet – für jedes Stück eine Stimme. Jede tönt zu uns hinüber als die Stimme von einem, dessen Geist außerhalb der Zeit ist. Um so geistesgegenwärtiger klingt sie dafür.

Wenn Dylan das mit Songs schafft, die teilweise auf den Folk des 19. Jahrhunderts Bezug nehmen, muss man sich kurz fragen, warum viele Verarbeitungen der achtziger Jahre, die 2001 erschienen, so antiquiert klangen. Eine kaum reflektierte Dekade, deren Oberflächenmerkmale von Zoot Woman und Ladytron, Felix Da Housecat und Daft Punk aus pur ästhetischer Motivation heraus benutzt wurden. Zumindest Daft Punk machten mit „Discovery“ eine gewitzte Patchwork-Platte – Fans der alten, beinbetonten Stücke hörten lieber ,Jiooty“ von den englischen Housern Basement Jaxx. Der wunderliche Aphex Twin hielt das Niveau mit „Drukqs“, aber die eigenwilligste und zugleich sinnlichste Elektronik-Platte kam von den Avalanches aus Australien: gewebt aus Hunderten von Samples, luftig, verspielt und ohne einen einzigen hippen Verweis. Sogar ein kleiner Hit, aber sowas schafft nur MTV.

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