Tragödien auf Asphalt

Jetzt mal ehrlich: Wer von euch hat denn noch wirklich auf der Straße gespielt? Und was war daran so toll? Außer dass ihr jung und einigermaßen unschuldig wart, die Mauer noch stand, das Geld noch was wert war und das Streichfett Gute Butter hieß? Wie oft schon wurde „der letzte Straßenfußballer“ besungen, immer mit der scheinheiligen Träne des Weißclowns auf der Wange, weil früher ja noch alles so ehrlich und geradeaus war und heute alles total durchgestylt und korrumpiert ist.

Klar, es sind putzige Bilder, wenn man einen Haufen Jungs mit Fassonschnitt auf einer dreckigen Straße eine Lumpenkugel hin und her kicken sieht, im Hintergrund einen Förderturm oder ein paar rauchende Schlote und alles sowieso in Schwarz-Weiß, als würde gleich der ganz junge Belmondo um die Ecke kommen oder wenigstens Horst Buchholz. Aber so wie man vor ein paar Jahren bei einer Grubenfahrt auf Bergwerk West in Kamp-Lintfort auf die Frage, wie viele Bergleute das Angebot der Frühverrentung in Anspruch nähmen, die trockene Antwort „Hundert Prozent“ bekam, findet man heute kaum einen, der sich die Zeit zurückwünscht, als Muttern die Wäsche bei Westwind nicht nach draußen hängen konnte, weil die Bettlaken dann schwarz wurden, auch nicht den dazugehörigen Fußball, sondern allenfalls die Tatsache, dass man noch jung und schön war und das Gefühl hatte, von hier an würde es nur bergauf gehen.

Straßenfußball hätte an der Alleestraße in Bochum, wo ich aufgewachsen bin, das sichere Todesurteil bedeutet, denn das war und ist eine schwer verbaute vierspurige Hauptverkehrsstraße, und auch auf dem mit Split übersäten Kundenparkplatz des Kauf hauses Wertheim direkt neben unserem Haus hätte nie jemand gepöhlt, nicht zuletzt weil da ständig notgeile Familienväter in ihren hart ersparten Ford Taunussen drüberbretterten, auf dem Weg zum „Eierberg“ genannten Puff-Bezirk.

Wir spielten auch nicht auf die sprichwörtlichen Garagentore, weil die Autos unserer Väter auf der Straße standen, damit es für die richtig problematischen Kinder und Jugendlichen leichter war, die Außenspiegel auf der Bürgersteigseite abzutreten. Wer was auf sich hielt, tat das aber auf der Fahrerseite, am besten zur Hauptverkehrszeit.

Dem Straßenfußball am nächsten kamen wir im Innenhof eines Neubaus, ein paar Meter stadtauswärts. Der Hof bildete den Übergang vom Haus zu einer kleinen evangelisch-methodistischen K i r c he. Das eine Tor war die Garagendurchfahrt, das andere der Raum zwischen zwei Vorsprüngen,

wo die Fenster des Souterrains mit Gittern geschützt waren, die einen Höllenlärm machten, wenn man einen Treffer erzielte. Das erschwerte das Singen der Seniorengruppe da unten und bewies uns, dass auch praktizierende Christen eine Menge Schimpfwörter auf Lager hatten.

Straßenfußball hieß für uns allerdings vor allem Wiesenfußball. Die Wiese vor der Arnold-Schule am Springerplatz war unser Hauptspielort. Die Tore wurden von Jacken markiert oder von in den Boden gerammten Zweigen, wenn nicht gerade mein Kumpel Mücke den Platz auf baute, denn der steckte die provisorischen Torpfosten am liebsten in einen der nicht wenigen Hundehaufen, weil er uns zeigen wollte, dass wir alles verweichlichte kleine Memmen waren und er als harter Hund mit saufendem Vater und kleinkriminellem Bruder einfach schon viel zu viel im Leben gesehen hatte, als dass ein bisschen Hundekacke ihn hätte aus der Ruhe bringen können. Die Wiese war so etwas wie die Stammkneipe der Viertel-bis Halbwüchsigen. Hier konnte man auch hingehen, w en n man nicht verabredet war, und fand immer ein paar Kinder zum Pöhlen. Klar, einige von denen waren Asis oder frech oder doof, aber immer noch besser als Hausaufgaben.

Der übliche Ablauf war jedoch, dass man bei einem Kumpel klingelte und dann das Treppenhaus hoch brüllte: „Kommt der Dirk/Andi/Markus/Thomas/Thorsten raus?“ Rauskommen – das klang nicht umsonst nach Haftentlassung oder wenigstens Freigang, denn die Dreieinhalbzimmer-Wohnung der Eltern war der Knast, und viele hatten nicht mal eine Einzelzelle, sondern auch noch die bescheuerte Schwester oder den nervigen Bruder im Stockbett über oder unter sich.

Raus ging es gleich nach den Hausaufgaben, und nach Hause musste man, „wenn die Laternen angehen“, aber wenn man wegguckte, während Mücke alle Laternen mit einem Tritt auf den Anschlusskasten ausschaltete, ging es auch noch etwas länger. Im Tor standen die Dicken (ich) und die, die keine Angst hatten, sich „zu schmeißen“ (nicht ich), oder die, bei denen die Mutter keinen Ärger machte, wenn sie mit verdreckten, kaputten Hosen nach Hause kamen (wieder ich, danke Mama!).

Den Begriff ‚mannschaftsdienliches Spiel‘ kannten wir zwar, praktiziert wurde dies aber nur von technisch limitierten Luschen, auch ‚Krampen‘ genannt, die irgendwie dazugehören wollten, aber, um keinen Ärger zu bekommen, den Ball, der meist nur aus Versehen bei ihnen landete, möglichst schnell wieder abzuspielen versuchten. Passen war was für Weicheier.

Selbstverliebte Dribbler gaben den Ton an: Vier Gegner ausfummeln, den Ball auf die Linie legen, dann auf die Knie gehen und ihn mit Kopf drüber drücken: Das war der Gipfel des Triumphs beziehungsweise der Demütigung. Mücke bekam das immer wieder hin, wurde aber ösig (Ruhrdeutsch für ’sauer‘, siehe auch ‚knatschig‘), wenn andere das machten. Da war mal ein Junge, der neu in unsere Gegend gezogen war und der noch besser fummeln konnte als Mücke. Der machte uns nass ohne Ende und guckte sich dann von Mücke die Sache mit dem Bodenkopf ball ab. Beim dritten Mal war Mücke so genervt, dass er die Urheberrechte an dieser Aktion dadurch unterstrich und einforderte, dass er den Ball mit dem Vollspann ins eigene Tor trat. Dass der Kopf des anderen Jungen dabei in Mitleidenschaft gezogen wurde, verbuchte Mücke unter „internationale Härte“. Der fremde Junge rannte brüllend nach Hause und tauchte nie wieder auf.

Zu den Höhepunkten der Saison gehörten die Straßenspiele -die nicht auf Asphalt stattfanden, sondern unter Bewohnern unterschiedlicher Straßen ausgetragen wurden, wobei es schon zu frühen Transfergeschäften kam, wenn einer aus der Schmidtstraße bei denen von der Alleestraße (uns) mitmachte, weil er auf keinen Fall zu den Prolls vom Griesenbruch gehören wollte, immerhin hatte sein Vater eine Bäckerei, war also quasi Unternehmer, so wie meiner, der einen Ein-Mann-Elektroinstallationsbetrieb hatte, was in unserer Gegend schon beinahe Hautevolee war.

Straßenspiele begannen oft mit bösen Blicken und Verbalinjurien. Das heute gängige „Isch fick dei Mudda“ (bisweilen auch verkürzt zu „dei Mudda“) hieß damals „Geh dô na Hause, nach Mamma, Titti lutschen!“. Freistöße gab es praktisch nicht, weil es keine Fouls gab, sondern nur mädchenhaft empf indliche Gegenspieler. Genau deshalb wurde auch die Regel „Drei

Ecken, ein Elfer“ eingeführt, damit es überhaupt mal zu Standardsituationen kam -obwohl wir den Begriff damals noch nicht kannten. Nicht selten endeten die Straßenspiele dann mit Prügeleien, meistens aber nur zwischen Mücke und dem Großmaul der anderen Mannschaft, während die anderen sich an der nächsten Bude eine After-Match-Capri-Sonne oder zwei Pullen Dreh und Trink besorgten.

Eine besondere Spielart des Wiesenfußballs waren die Klassenspiele, die heute mit großem Ernst unter der Aufsicht von wohlmeinenden Grundschulpädagoginnen auf gepflegten, von der Stadt oder vom DFB eingerichteten Bolzplätzen abgehalten werden und früher auf dem tiefen Geläuf vorm Bergbau-Museum (Heim) oder auf der Schmechtingwiese (Auswärts) stattfanden. Auf Letzterer standen sogar Metalltore, vor denen sich grasfreie Kuhlen gebildet hatten, die so tief waren, dass in den nach ausgiebigen Regengüssen entstandenen Pfützen Kleintiere ertrinken konnten. Klassenspiele waren, jedenfalls bei uns, friedlicher als Straßenspiele, weil man oft gegen Kumpels spielte, mit denen man eigentlich ganz gut zurechtkam. Da wurde dem Gegner bei eigener Sechs-Null-Führung auch mal generös nach grobem Foulspiel ein indirekter Freistoß zugesprochen.

Meine Zeit als Straßen-bzw. Wiesenfußballer endete, als ich bei der Schülerzeitung mitmachte, in die Theater-AG eintrat, Schülersprecher wurde und auch noch von einem Nachbarsjungen zum Handballtraining mitgenommen wurde und sechs Jahre (C-, B-, A-Jugend) dabeiblieb, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich hier mangelnde Schnelligkeit durch rücksichtslose Brutalität wettmachen konnte.

Wiesenfußball gibt es so gut wie gar nicht mehr. Vor dem Bergbau-Museum liegen stählerne Kunstwerke im Gras, nur auf der Schmechtingwiese w i r d manchmal noch gekickt, und im Stadtpark sieht man auf dem Grün vor der Lutherkirche bisweilen Studenten mit Hipsterbärtchen und Real-Madrid-oder Liverpool-Trikots. S o wie ihr restliches Leben ist auch die Freizeit der Kinder straff organisiert und zufallsbefreit. Verabredungen zum Fußball laufen nicht übers Treppenhaus, sondern über Telefon oder WhatsApp, ausschließlich bei gutem Wetter und nur dann, wenn man eine gerade Anzahl zustande bekommt.

Früher spielten nur die im Verein, die wirklich gut waren, und auch die erst ab der D-Jugend, also so ab elf Jahren. Heute gibt es Bambini-und Pampers-Ligen, und der Bedarf an Jugendtrainern ist so groß, dass die Vereine praktisch jeden nehmen, sogar übergewichtige Autoren, die nie im Verein gekickt haben. Seit 2011 bin ich Trainer bei der DJK Arminia Bochum 1926 und coache die Mannschaft meines älteren, jetzt dreizehnjährigen Sohnes.

Im Verein wird zweimal die Woche trainiert, in den besseren sogar dreimal, am Wochenende finden Meisterschafts-und Pokalspiele sowie Turniere statt. Die Spielberichte werden elektronisch erfasst, es gibt Vorschriften für lange Unterhosen im Winter und für die Farbe der Schienbeinschonerhalter. Na gut, vielleicht ist allein die Existenz von Schienbeinschonerhaltern schon albern, da kommt es auf eine bescheuerte Vorschrift mehr oder weniger auch nicht mehr an.

Aber es ist nicht alles schlecht. Dass Aschenplätze zunehmend durch Kunstrasen ersetzt werden, ist eine begrüßenswerte Entwicklung. Dieses ewige „Auf Asche, das war noch echter Fußball!“ geht einem doch irgendwann auf den Geist. Die Glorifizierung von nässenden Schürfwunden, an denen nachts das Bettlaken festklebte, hat was von Oppas El-Alamein-Legenden. Du trainierst wie ein Bekloppter, damit sie lernen, was der „freie Raum“ ist und was der „Deckungsschatten“ und wie sie den Ball in der Bewegung mitnehmen sollen, aber dann spielst du auf einem buckligen Acker gegen eine Kloppertruppe aus Halbstarken, Sieger ist am Ende der Zufall, und einer der echten Kerle am Spielfeldrand quengelt nur, das sei doch früher immer so gewesen und man solle sich nicht so anstellen.

Auf Kunstrasen gibt es keine Schürfwunden, aber immerhin Verbrennungen, und in zwanzig Jahren werden sich ehemalige D-Jugendliche voller Melancholie daran erinnern, wie dieses braune, aus geschredderten Autoreifen bestehende Granulat, das über den Platz verteilt war, den Ball schwarz färbte, sodass er im Winter, unter dem nie wirklich ausreichenden Kreisliga-Flutlicht, bei langen, weiten Pässen oft nur schwer zu sehen war, und wie die Mutter jammerte, weil man das Zeug pfundweise in den Schuhen und in den Rillen der Stutzen mit nach Hause brachte. Jede Zeit gebiert ihre Legenden von Wehmut und Mangel.

Die echten Dramen bleiben unveränderbar. Erst gestern ging wieder ein von uns überlegen geführtes Spiel mit gefühlt zweihundert Torchancen 1:4 verloren. 1:4! Nicht mal der gegnerische Trainer konnte das erklären. Eigentlich hatten die nur dreimal auf unser Tor geschossen. Und dass Deniz gegen Hedefspor Hattingen beim Stande von 1:2 den Strafstoß verschoss, weil Robert, der etatmäßige Schütze, sich „nicht sicher fühlte“, das bleibt so gleich wie das geile Gefühl, ein enges Spiel auf den letzten Metern noch gedreht zu haben und dann kaputt und verdreckt in der Kabine zu sitzen und einander anzugrinsen. Und wenn der Dreck von den geschredderten Autoreifen kommt, dann ist das dann doch wieder irgendwie Straßenfußball.

FRANK GOOSEN, 58, ist Schriftsteller, Pott-Melancholiker, Jugendtrainer bei DJK Arminia Bochum und Mitglied im Vorstand des Vf L Bochum

SPIELER

Top 5

Cristiano Ronaldo, Supersuperstar des Weltfußballs mit Künstlerkürzel CR7 ist angeblich echt, wirkt aber – optisch wie spielerisch – wie aus der PlayStation entsprungen. Vielen gefällt das, andere finden es beängstigend.

Bastian Schweinsteiger ist ratzfatz nicht mehr Schweini, sondern Leader. Als Teil der Schaltzentrale Doppel-Sechs -wenn er denn auf läuft. Der Prototyp des früh überspielten und krass verletzungsanfälligen Top-Kickers.

Neymar, der Jungstürmer schlechthin, muss Tore machen. Schließlich ist Brasilien bei einer WM in Brasilien Favorit. Anders gesagt: Wie einst Pelé, Ronaldo, Ranaldinho usw. usf. Zwischenbilanz: fünf brasilianische WM-Triumphe.

Shinji Kagawa, einst big beim BVB, nicht mehr ganz so big in Manchester, gut wäre jetzt, big für Japan zu sein. Der kreative Spieler könnte den Unterschied machen, damit Japan bei seiner fünften WM mal mehr ist als ein dankbarer Gegner.

Iker Casillas hütet für Real Madrid in der Champions League sowie für die spanische Auswahl das Tor. Sein Modell von Altersteilzeit ist nicht schlecht: Gewonnen hat er alles, was zählt. Doppelweltmeister wäre was Neues.

SPIELORT

Rastlos in Rio

Brasilien freut und ärgert sich gleichermaßen über die WM. Party gibt es sowieso

Als ich vor einer woche die wohnung unseres Nachbarn an der Copacabana verließ, wurde ich Zeuge einer Schießerei in der angrenzenden Favela Pavão-Pavãozinho. Eine Nacht zuvor wurde dort der Tänzer Douglas Rafael da Silva Pereira tot aufgefunden. Hatten ihn Polizisten gefoltert und ermordet? War er ein Drogenkurier? Oder sorgt die Rückkehr des lokalen Bandenchefs in die Favela für erneute Unruhe? Drei Jahre war er inhaftiert, nun soll er sich hier wieder einquartiert haben. Wer schießt gegen wen? Polizisten gegen Demonstranten, Drogendealer oder Waffenhändler? Auf welcher Seite steht die Polizei? Ist ein neuer Bandenkrieg eröffnet? Viele Spekulationen kursieren. Je nach Absender der Information.

Auch nach achtmonatigem Aufenthalt in Rio fällt es mir schwer, die Grenzen von Normalität und Kriminalität zu erkennen. Rio kann eine gefährliche Stadt sein. Ich erlebte in Ipanema am helllichten Tage einen Überfall einer Jugendbande auf einen Bus und sah Gewalttätigkeiten von Polizisten auf offener Straße. Täglich höre ich von neuen Korruptionsfällen: aus der Presse oder von Bekannten, die unmittelbar betroffen sind. Alltag in Rio.

Doch die Cariocas, die Bewohner Rios, bleiben erstaunlich gelassen. Wo sonst auf der Welt gibt es diese Kombination aus Lebensfreude, Strand, Musik, Tanz, Sonne, Sexiness und der berauschenden Schönheit der Natur? Und Events sind Standard: Millionen von Touristen rücken regelmäßig zu Silvester, zum Karneval oder zu außerordentlichen Veranstaltungen wie Papstbesuch oder Rolling-Stones-Konzert an. Da ist der Streik der Müllabfuhr beim letzten Karneval nur eine kleine Fußnote. Auch wenn der Gestank bei 45° Hitze noch immer tief in der Nase sitzt.

Ein Wunder war die rechtzeitige Fertigstellung des Maracaña-Stadions. Doch der Charme wurde wegsaniert. Statt Stehplätzen nun Sitzplätze. 1950 fanden beim Endspiel Brasilien-Uruguay 200.000 Zuschauer Platz. Jetzt sind nur noch 80.000 zugelassen. Nach der Renovierung wurden die Eintrittspreise für die Ligaspiele radikal erhöht. Die Quittung: gähnende Leere auf den Rängen. Das erste Finalspiel des Rio-Cups zwischen Flamengo und Vasco verfolgten gerade mal 21.000 Zuschauer. Zur WM wird das Stadion immerhin wieder ausverkauft sein: Alle Tickets sind vergriffen.

Das deutsche Team wird hier als Mitfavorit gehandelt. Clever das Design des deutschen Zweittrikots: Die Farben sind an die von Brasiliens beliebtestem Fußball-Club, Flamengo, angelehnt. Sympathiepunkte bei geschätzten 45 Millionen Fans. Die Folge: verstärkte Präsenz deutscher Trikots in Rios Straßenbild.

Kurz vor der WM hält sich das Fußballfieber hierzulande noch in Grenzen. Die Unsicherheit, ob Streiks, Gewalttätigkeiten oder sonstige Vorfälle die Spiele begleiten könnten, beherrschen die Schlagzeilen. Und ob wir dann auch ein brasilianisches „Wintermärchen“ erleben dürfen, hängt maßgeblich vom Abschneiden der Seleção ab. Für die Brasilianer zählt nur der Titelgewinn. Ein vorzeitiges Ausscheiden könnte viele unabsehbare Folgen haben. Sogar die Zukunft der Präsidentin Dilma Rousseff wird am Erfolg des brasilianischen Teams gemessen werden. Im September finden Neuwahlen statt.

Unser Autor war bis 2013 Geschäftsführer bei Universal Music Classics &Jazz. Jetzt studiert er die brasilianische Musikszene und schreibt ein Blog: ChristianKellersmann.de.

SPANNUNG

Acht vierergruppen, die zwei Erstplatzierten kommen weiter. Damit liegt das Drama-Queen-Potenzial in Gruppe B: Von Titelverteidiger Spanien, Geheimfavorit Chile und den immer irgendwie chancenreichen Niederländern wird einer scheitern. So Australien gute Tage hat, was vorkommen kann, sogar zwei. Dagegen ist die Gruppe E – Frankreich, Schweiz, Honduras, Ecuador -ein gespielter Witz.

HYMNEN

Top 10

Die Songs zum Spiel

1. UDO ALEXANDER – Eventuell, vielleicht, bestimmt Arnd Zeigler dichtet den ersten Fußball-Song, bei dem jede Zeile stimmt

2. STROMAE -Ta fête Schrulliger Beitrag der Fritten-Nation, erdacht vom Electro-Dance-Star

3. ROTFRONT -German Dance Heimliche Kicker-Hymne der Balkan-Ska-Truppe aus Berlin

4. GARY BARLOW – Greatest Day UK-Kickersongs können nie ganz schlecht sein, früher waren sie besser

5. ARLINDO CRUZ – Tatu Bom De Bola Altherren-Samba des offi ziellen Gürteltier-Maskottchens Fuleco.

6. RICKY MARTIN – Vida Fröhlicher Brunftgesang wie in der Bacardi-Werbung. Uga-Uga mit Schmiss

7. PITBULL FT. J. LO – We Are One Muntere Clubmucke mit Quoten-Brasilianerin. Mitpfeifen erwünscht!

8. ONEREPUBLIC – Love Runs Out Radiorockiger ZDF-Song des Schwiegermüttermusik-Quintetts aus Colorado

9. SANTANA & WYCLEF – Dar Um Jeito Offizielle „Hymne“ der bösen FIFA. O-ho-ho-hoo-Stadionsamba für Stinos

10. MELANIE MÜLLER – Auf geht’s, Deutschland schießt ein Tor Für Bierzelte und Partymeilen, denen Sportfreunde Stiller zu kompliziert sind

TRAINER

Top 3

Marc Wilmots hieß als Spieler einst Willi das Kampfschwein. Nun ist er belgischer Nationaltrainer und hat es mit seiner leidenschaftlichen Bulligkeit geschafft, dass Flamen und Wallonen sich tatsächlich gemeinsam freuen, weil ihre recht bunte Truppe zum windigen Kreis der Geheimfavoriten zählt.

Volker Finke, der ehemalige SC-Freiburg-Coach, nahm nach Kamerun den Umweg über Japan: Wenn man in Afrika glaubt, es ginge nicht mehr, kommt ziemlich oft von irgendwo aus Europa ein Trainer her. Nachhaltig war der postkoloniale Transfer von Fußball-Know-how aber bislang nirgendwo in Afrika.

Jürgen Klinsmann, so die in der fußballhistorischen Forschung reifende Erkenntnis, spielte neben Joachim Löw eine entscheidende Rolle dabei, das kleine deutsche Fußballästhetik-Wunder auf den Weg zu bringen. Nun könnte California-Klinsi als Trainer der USA sein eigenes Frühwerk in die Krise schießen lassen.

TRIKOTS

Es war ein knappes ding: Die Wahl des schönsten und des hässlichsten Trikots des Turniers. Während die meisten mit dem Nike-Designerstück der Equipe Tricolore d’accord gingen, fand der lahme deutsche Adidas-Remix zumindest einige „Geht so“-Stimmen.

SYSTEM

3-2-2-3 würde man heute im tresendiskurs das system nennen, mit dem Deutschland (West) 1954 Weltmeister wurde. Seinerzeit und nach wie vor sagt man aber lieber ‚WM-System‘, was irgendwie den Titelgewinn schon zu implizieren scheint, tatsächlich aber meint, dass die Formation der Feldspieler aussah wie ein W über einem M. Bis Systemfragen ins allgemeine Fußballfan-Bewusstsein rückten und nicht mehr länger nur vermeintliche Geheimnisse sogenannter Trainerfüchse waren, sollte es in Deutschland (Gesamt) noch ein paar Jahrzehnte dauern, genauer gesagt bis zur Einführung der Viererkette und damit des 4-4-2-Systems in den 90er-Jahren. Seit einigen Jahren ist nun 4-2-3-1 Mainstream. 4-1-4-1 ist als beliebte Variante hinzugekommen, populär jüngst auch das Spiel mit sogenanntem falschem Neuner, jedenfalls in Teams, deren Ausrichtung (nicht zu verwechseln mit System) das schnelle Kurzpass-Spiel ist. Die Rückennummer 9 für den Stürmer stammt noch aus der WM-System-Zeit. Damals gab es nominell drei (echte) Stürmer, mit dem falschen Neuner heute keinen mehr. Dieser spanisch inspirierte Hype ist aber möglicherweise fast schon wieder vorbei. Was also wird state of the art bei der WM? Variabilität. Kein starres System mehr, das durch Auswechslungen bloß der Lage, der Führung oder dem Rückstand angepasst wird, sondern Fomationen im Fluss, die der Trainer als Mastermind am Spielfeldrand permanent verändert.

LOCATION

SCHRÄGER SPIELORT Manaus

LEKTÜRE

Das buch „o jogo bonito. brasilien – eine fußballverrückte Nation in Bildern“ vermitttelt auf 233 Seiten mit kenntnisreich ausgewählten großformatigen Fotostrecken Einblicke in die voll reale Kickergeschichte des Landes. (Spielmacher, 35 Euro)

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