Trash für Millionen: Benjamin von Stuckrad-Barre traf Christoph Schlingensief

Ein historischer Text aus unserem Sonderheft zum ersten Todestag von Christoph Schlingensief: Stuckrad-Barre traf Schlingensief im August 1998. Ein bisweilen irres Gespräch über Kohl und Tod und andere Abgründe.

Zur aktuellen 200. Ausgabe des ROLLING STONE veröffentlichten wir ein Sonderheft mit den besten Beiträgen aus 17 Jahren. Den vollständigen Inhalt des Sonderhefts finden Sie hier. Zum ersten Todestag von Christoph Schlingensief, der am 21. August 2010 an den Folgen seiner schweren Krebserkrankung starb, haben wir nun noch einmal unseren Text von Benjamin von Stuckrad-Barre aus dem Archiv geholt.

August 1998. Es waren die letzten Tage der Ära Kohl, Christoph Schlingensief wollte mit einem Heer von Arbeitslosen den Wolfgangsee fluten. Aus heutiger Sicht lässt sich aus unserem Gespräch mit dem Sponti, Mahner, Agent Provocateur eine beklemmende Todesahnung ablesen. Und das zeigt, wie sehr sein wacher Geist in diesem Land fehlt. Schlingensief starb am 21. August 2010.

Hier der Original-Text:

Das Klischee vom wohlbehütet aufgewachsenen Apothekersohn, dessen Schreckensinszenierungen auf Bühne, Leinwand und Bahnhofsterrain gerade auch deshalb so verwirren, weil er ja so nett aussieht, wird ihm noch ewig anhängen, denn auch mit 37 sieht Christoph Schlingensief selbst nach wochenlangem, erschöpfendem Wahlkampf aus wie ein netter Student, der einem im Supermarkt die aus der Tüte gepurzelten Orangen einsammelt. Die Bühne, auf der Schlingensief sein neuestes Stück „Chance 2000 – wähle Dich selbst!“ präsentiert, ist in den Grenzen von 1989 ziemlich groß: 80 Millionen Statisten sind am Start, und der Mehrakter mit offenem Ende, zum Mitmachen für alle, schlägt Wellen bis nach Österreich. Dort wollte Schlingensief am 2. August mit seinen mantragleich dauerzitierten „sechs Millionen bislang unsichtbaren Arbeitslosen“ baden gehen, in genau dem See, an dessen Gestaden der bisherige Kanzler dann just zu Urlauben gedenkt. Aufstand in Österreich, ins Fäustchen lachen in Berlin.

Du wirkst in der letzten Zeit oft ein wenig erleuchtet. Heute eher so ein bisschen erloschen.
Ach, ich habe Hunger, ich habe heute erst ein Hörnchen gegessen, und gleich geht schon die Sonne unter. Und im Moment ist alles durcheinander, wir sind fast pleite. (seufzt) Es herrscht eine große Hysterie, auch wegen dem Sammeln der Unterschriften, außerdem wird gerade entschieden, ob wir als Partei überhaupt zugelassen werden. Da müssen Langfristigkeit des Projekts und auch dessen Ernsthaftigkeit von uns als „Chance 2000“ glaubhaft gemacht werden – nicht so einfach.

Die Ernsthaftigkeit wirst Du unbedingt bestätigen, aber tatsächlich auch die Langfristigkeit? Endet nicht das Kunstwerk, die Partei, am Tag der Wahl?
Nein. Wir sind die einzige Partei, der es nicht um Machterhalt geht, sondern darum, erst mal Macht zu erlangen.

Um sie dann zu erhalten.
Erst mal ist das ein klarer Vorteil: Wir haben gar nichts und wir sind gar nichts. Wir müssen also was vorlegen. Und das bedarf dieser ganzen Formalebene, dieser Genehmigungen und so.

Wenn ihr also nicht in den Bundestag einzieht, was ja durchaus auch passieren kann, dann geht es trotzdem weiter?
Eine Landtagswahl würden wir sicherlich noch mitmachen, das sollte man einfach auch mal probieren. Aber wir sammeln jetzt erst mal Argumente, indem wir nicht die APO imitieren und gleich vorauseilend gehorsam in die außerparlamentarische Opposition gehen, sondern indem wir 90er-jahre-mäßig gleich reingehen ins System. Vielleicht sind wir auch nachher darin gefangen, kommen nicht mehr heraus, oder wir sammeln nur Argumente und sind dann die APO 2.

Bei all dem Chaos – hat der Vorsitzende Schlingensief noch den Überblick?
Nö, den hatte ich nie. Aber ich habe schon ein großes Verlangen danach, vor Ort zu sein oder auch nur abends im Internet nachzulesen, was die Landesverbände so machen. Da gibt es natürlich latente Ängste eines Vorsitzenden – „Was macht der da jetzt für ’nen Scheiß!“ Gestern kam aus München der Vorschlag, den Wolfgangsee umzubenennen in „Helmut-See“, und da dachte ich gleich: superbillig, blöd usw. Aber da kann man nichts machen, alle machen überall irgendwas, Hauptsache Aktion! Ich finde es faszinierend, wie das Geflecht anfängt zu wuchern …

… und unübersichtlich wird. Weißt du, was deine Partei übermorgen Abend in Schweinfurt macht?
Nö, keine Ahnung.

Da ist „Filmabend mit Wahlprogramm“.
Ahja.

Es ist ja ohne Weiteres möglich, in eurem, letztlich deinem Namen unheimlichen Blödsinn zu veranstalten. Es gibt ja nicht mal ein verbindliches Partei-Programm.
Es gibt bloß die Auflage, so frei damit umzugehen, dass diese Freiheit eben Inhalt wird, dieses Vakuum. Wenn jemand anfängt, sich auf ein Ziel festzulegen, wird es ja scheiße. Das muss ja dann scheitern.

So ein offenes Forum ist natürlich auch ein Sammelbecken für Idioten.
Oh ja. Für mich ist es gerade sehr spannend, all die Landesverbände zu besuchen: Die müssen Unterschriften sammeln, und ich muß mich als Wahlhelfer auf deren spezifische Eigenheiten und Regeln einlassen. In Mecklenburg-Vorpommern läuft es zum Beispiel miserabel, die Leute sprechen kaum, die sind alle alkoholkrank, habe ich den Eindruck. Die gucken und hängen rum, da passiert nichts.

Und dann mischst du das auf?
Ich brülle ins Mikrofon, mache mich zum Affen, egal, Hauptsache, wir kriegen die Unterschriften zusammen. Eben nicht nur der Event, der lustige Abend, die tolle Filmnacht und sonst was Verrücktes, und das war’s dann. Sondern den Leuten klarzumachen, dass es erst mal nur um die verbissene Einhaltung einer Formalie geht, bevor man dann überhaupt inhaltlich und kreativ werden kann. Es geht schlicht darum, 20 Minuten lang Leute zu agitieren, egal wie. Mit Programmen wie „Die obszöne Amöbe ist geboren, Sie können sich selber wählen, Schluss mit der Politik“ …

Da wird man dann ja wohl verrückt, so als Marktschreier.
Ja, absolut, ich bin die Versuchsratte im Freilandversuch. An mir kann man jetzt beobachten, ob man sich als künftiger Bundeskanzler (grinst) oder als Politiker schlechthin verändert. Und man verändert sich, das spüre ich: Ich rede anders, wenn ich 20 Minuten lang da in jeder Art und Weise versucht habe, mitzureißen, irgendwie, einfach am Stück rede, ja! (Die Augen leuchten) Textstrecke erzeugen, Emotionen erkämpfen.

Dann wächst also mit dem steigenden Druck dein Verständnis für hirnkranke Politikdarsteller.
Jaaaaa. Meine Einstellungen ändern sich grundlegend. Ich kann heute einen Behinderten anbrüllen, das ging am Anfang des Projekts noch nicht.

Was brüllst du da?
Ich sage dem meine Meinung, er soll die Schnauze halten, ich will es nicht mehr. Sein Kapital, seine Behinderung sieht man permanent, aber was ist mit meiner, vielleicht nicht gleich sichtbaren Behinderung? Und man nimmt die Leute ja dann ernster, wenn man sie alle auf die gleiche Weise behandelt, ohne Rücksichten.

Was hat sich noch geändert?
Theater etwa kriegt in meinem Kopf einen ganz anderen Stellenwert, Politiker sind für mich in einer Inszenierung gefangen. Als ich in der letzten Woche zu einem Wahlkampftermin fuhr, erfuhr ich plötzlich per Telefon, dass der Vater meiner Freundin verunglückt ist. Da sind wir sofort nach Frankfurt geflogen, ins Krankenhaus. Meine Freundin und ihre Mutter redeten mit ihm, obwohl er schon tot war! Sie haben trotzdem auf ihn eingeredet. Seit dem Beginn dieses Projekts habe ich nicht mehr heulen können. Ich war immer einerseits emotional aufgewühlt und andererseits überaus selbstbeherrscht, habe mich zur Ordnung gerufen. Und in diesem Moment, angesichts von 15 Hirntoten auf einer Station, da brach alles zusammen und aus mir heraus. Da kriegte ich plötzlich mit, dass das hier (rupft sich am engkarierten Waldarbeiterhemd) eine Hülle ist, ein Kostüm. Und dass die Paranoia dir ins Ohr schreit: „Zieh das aus!“ Und so ist es bei den Politikern: Hintze an der Zapfsäule, Waigel beim Verkünden irgendwelcher Zahlen Ω die schreien innerlich. Aber das hören die selbst nicht mehr. Das setzt sich dann in Polypen im Darm fest oder so was.

Huch.
Ja, da bin ich ja irgendwie esoterisch – die Rechnungen bleiben offen, sind nicht zu begleichen, das ist meine Erkenntnis. Bei allem, was du verdrängst, wo du schadest, Macht erhalten wirst. Und dafür muss man irgendwann geradestehen.

Kling nach jüngstem Tag.
Nicht ganz oben, nee nee, das passiert hier unten, das machen wir.

Wir, das Volk?
Ja. Ich denke mal so an Darmkrebs in der katholischen Kirche, da ist die Rechnung, da will sie bezahlt werden, aber der Preis ist zu hoch. Und jetzt wollen wir eben sagen, dass Leute wie Schröder Hülle sind. Der hat doch sehr gute Leute in seinem Stab, und die überlegen doch jetzt schon, da bin ich ganz sicher, was ist, wenn das Kind von Frau Köpf am 10. September Selbstmord begeht. Oder was ist, wenn seine Mutter plötzlich stirbt oder ihre. Da sehe ich schon zwei Psychologen mit einem Quix auf diese Nachricht warten, die dann da hinrasen und die Frau zur Seite führen, in den Nebenraum – „Legen Sie sich da mal hin!“ – und anfangen, die zu betreuen. Und er kommt rein und redet dann genauso wie am Rednerpult. Filme und Artikel interessieren sich immer nur für den „Weg zur Macht“. Viel interessanter ist doch, wie es sich anfühlt da oben, wie man damit umgeht.

Chance 2000 unterscheidet zwei Systeme: Das vorherrschende, zu kippende ist System 1. Und die Protagonisten dieses Umsturzes und potent-iellen Nachfolger, ihr, das ist System 2. Wenn System 2 dann erst mal im System 1 Platz genommen hätte, wie ginge es dann weiter?
Als Bundestagsabgeordneter wäre es natürlich reizvoll, dann wieder Theater zu machen. Einfach zu sagen: „Was soll das jetzt sein, wollt ihr mich zwingen?“ Oder irgendjemandem seine Redezeit schenken, einem Arbeitslosen, der da einfach redet, und ich stehe daneben und schlafe oder so.

Auf dem Weg dahin muss freilich System 2 gegenwärtig erst mal die Spielregeln von System 1 befolgen. Um überhaupt mitspielen zu dürfen, bemerkt zu werden, also den ganzen Formularterror erdulden. Das Feld von ziemlich weit hinten aufrollen.
Das ist zum Kotzen, aber so ist es.

Sich selbst wählen ist ja anti-parlamentarisch, schafft das Parlament ab, den Gedanken des Volksvertreters.
Klar. Unser erster Parteitag war noch so wie Stammtisch, fürs Volk sprechen. Plötzlich waren da lauter Menschen, die irgendwas vertraten: Frauenrechte, Internet, Sport – bloß sich selbst nicht. Das ist dieser Irrglaube, dieses Klassensprechersyndrom: für andere sprechen. Ich selbst finde drei Themen, die ich mir an den Hals hänge, schon ziemlich viel. Mehr kann ich nicht. Ich kann nicht für die Einäugigen in Thüringen reden.

Ist Staat dann nur noch …
… Verwaltung, ja. Müll abholen, Trinkwasserversorgung aufrechterhalten, Bäume pflanzen, so was. Und die Globalisierung außer Kraft setzen. Da sind Leute, die zehn Themen vertreten, weltweit, ist mir ein Rätsel, wie das glaubhaft sein soll. So wie man Kapital im Globalisierungsprozess verschwinden lässt, so lässt eine Person mit zehn Themen tatsächlich die Themen verschwinden. Die sind dann weg.

Angenommen, der Abgeordnete Schlingensief begegnet dem Abgeordneten Peter Hintze in der Bundestagskantine. Was passiert da?
Ich drücke ihm eine Mark in die Hand und sage: Hier, aber lass mich bitte in Ruhe, mach nur weiter, mach einfach, du wirst schon sehen, aber lass uns in Ruhe.

Wenn ein Arbeitsloser sich vom System 1 lossagt, dann hat der ja einfach nächste Woche nichts mehr zu essen und darf sich nicht mehr beim Roten Kreuz alte Jacketts abholen, muss aus seiner Sozialwohnung ausziehen. Arbeitslossein ist ja nicht eine Haltung, sondern eine Notsituation, ein Ausgeliefertsein, angewiesen auf staatliche Zuwendung.
Das Weltkapital reicht für eine Mindestversorgung, meinetwegen 1000 Mark pro Person und Monat. So. 1000 Mark, egal, wer man ist. Und wer will, kann ja mehr verdienen, sich was ausdenken. Unsere zwei Hauptbegriffe sind Entglobalisierung und Transparenz.

Und Arbeitslosigkeit soll „ab Beruf anerkannt“ werden, so steht’s im Schlingensief’schen Manifest („Wähle Dich selbst“, KIWI518).
Es gibt einfach keine Möglichkeit mehr zur Vollbeschäftigung. Man kann das so hinbiegen, mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, morgen um 8 Uhr geht jeder auf die Straße und putzt mit einer Zahnbürste den Rinnstein, alle haben zu tun, kriegen dafür 13 Mark, klar, das geht. Komischerweise glauben die Leute dann ja wirklich an eine Trendwende, an einen Aufschwung, trotz so billiger Tricks. Das ist eine Inszenierung, eine Täuschungsmaschine.

„Erst reden, dann handeln“ verlangt dagegen Chance 2000. Ist mit dieser Methode mehr drin, als das Scheitern aufzuführen, zu zeigen?
Vollhaftung, jawohl. Wir sind ja auch gar nicht so weit weg von Marktwirtschaft.

Am Ende der intendierten allgemeinen Überforderung, meisterhaft vorgeführt in „Talk 2000“ steht dann – was?
Gegenwärtig läuft doch alles hinaus auf eine völlig verschanzte träge Masse mit lauter Krebsgeschwüren, offenen Rechnungen, wo ein Funke reicht, dass das irgendwann bald implodiert oder explodiert, nach innen oder außen, ist egal. Sicher frage ich mich nach einer Möglichkeit, sinnvoll zu existieren, nicht nur in einer Funktionalisierung oder Degradierung, sondern sinnvoll zu existieren. Aber da sagen wir nun: Geh ins Risiko, mach was – und wenn du scheiterst, hast du es immerhin probiert. Das ist die einzige Möglichkeit.

Zum Wolfgangsee-Baden am 2. August verabreden sich dann im Internet Menschen mit „Gitarre, Zelt und jeder Menge guter Laune“. Ist das dann nicht schon dicht an der Klassenfahrt mit der Ausrede „Politik“?
Natürlich sind da auch Leute, die merkwürdiges Zeug verzapfen. Ich glaube, dass sich da im Moment all die verbünden, die wissen oder ahnen, dass sie wirklich an einem irreparablen Schaden leiden.

Wenn man sich so umsieht, müssten das ja viele bis alle sein.
Ja, und wenn man sie persönlich darauf anspricht, sehen das auch alle gleich ein, aber diese Lebenslüge, die sie sich aufgebaut haben, die ist erstmal übermächtig. Eine Flasche Bier, die man sich abendlich aus dem Kühlschrank holt, um damit Barbara Eligmann anzugucken – das reicht schon aus, um zu verhindern, dass die Leute einsehen: Ich bin schwer krank. Die Eligmann ist sowieso auch schon tot, gerade weil sie formal das blühende Leben darstellt. Leute, die ihren Tod ahnen, entwickeln eine letzte Hyperaktivität.

Also stirbst du bald?
Ja, ich bin kurz davor, das habe ich öfter gedacht in der letzten Zeit.

Deinem Freund Helge Schneider, dem du im Umgang mit Erwartungen sehr ähnelst, wird in wirklich jeder Betrachtung bescheinigt, „aber ein sehr guter Musiker“ zu sein. Ist analog Schlingensiefs unbestreitbares Talent, ein sehr guter Dramaturg zu sein, jemand, der perfekt inszeniert, mindestens sich selbst?
Ich habe ein Talent, sehr gut zu diagnostizieren. Ich habe bei Freunden alles Mögliche, bis hin zum Pfeifferschen Drüsenfieber, richtig erkannt, auch wenn Ärzte das zunächst übersehen haben. Krankheitsbilder lesen, das kann ich. Ich würde das aber als Arzt wahrscheinlich so falsch bekämpfen, dass der Patient dann an was anderem sterben würde. Ach, eigentlich gibt es nichts, was ich wirklich gut kann. Und die Leute merken das auch, die sind sich nicht sicher. Teilweise ist es ja auch so, dass gerade in dieser Medieninstallation …

Ui, die Medien. Was dir gerade beispiellos gelingt, ist eine Verwässerung der Grenze zwischen Kunst und Realität. Das fing an mit der „Bahnhofsmission“ in Hamburg …
Das war schon bei der Documenta so, bei meiner Verhaftung nach dem vermeintlichen „Mordaufruf“ gegen Kohl. Ach ja, alle finden uns klasse, aber Geld gibt keiner, außer Joop. Wir sitzen da jetzt mit minus 70.000!

Wer wird das Konto am Ende ausgleichen?
Ich bin der Vorsitzende und für die ganze Sache haftbar. Es steckt auch schon Geld von mir drin. Bei meiner gewachsenen Bekanntheit ist ja das Problem, dass das nicht gleichzeitig mehr Geld für mich bedeutet. Man hat mir zwar Werbung angeboten für Hustenschleimlöser, was ich toll fand –„letzte Chance für meine Bronchien“ oder so. Aber das hat dann der Konzern doch bleiben lassen, weil sie mittels einer Umfrage rausgekriegt hatten, dass ich „inzwischen zu politisch“ bin. Dann gibt es noch „NIL“-Zigaretten, aber das ist dann so im Stile Leander Haußmann, das ist dann nicht so doll. Aber wenn die akzeptieren, dass ich mit einer Gasmaske dastehe, fotografiert von Jim Rakete, und Werner Brecht sitzt vor mir und raucht und hat Asche auf dem Bauch, dann mal gucken. Wenn die dann unser Konto ausgleichen und mit dem Foto werben, da bin ich dabei. Aber die wollen eher „was Verrücktes, was Witziges“, und das ist natürlich nix.

Können da nicht die Vereinsmitglieder Biolek und Joop einspringen?
Biolek ist für meine Eltern, die immer noch für mich eine wichtige Rolle spielen, ein seriöser älterer Herr, der wahrscheinlich homosexuell ist, das haben sie mal gehört. Der will natürlich nichts mit einer Partei zu tun haben, sondern nur mit dem Verein, was okay ist, aber richtig Geld hat er noch nicht überwiesen. Und der Joop ist halt terroristisch veranlagt, der hat als einziger richtig Geld reingesteckt. Der will auch wirklich was. Am besten ist er eigentlich, wenn er gar nicht unbedingt den Ehrgeiz hat, alles zu verstehen. Er hat einfach Spaß an dem Prozess teilzunehmen, denn er sieht es im Grunde auch so, dass er eigentlich Helmut Kohl ist.

Joop ist Kohl?
Ja, auch Joop hat sehr viel geschafft, hat Geld ohne Ende, aber er hat nicht unbedingt dieses Gefühl von Glück oder auch nur Teilhabe, Reibung. Der kann (reißt ein leeres Schnapsglas vom Tisch) dieses Glas nehmen, „Joop!“ draufschreiben, schon kostet das Glas 85 Mark oder so. Aber das wäre es halt nicht. Mit Joop ist es alles sehr indifferent, manchmal frage ich mich auch, was macht der denn nun schon wieder, was hat der schon für ’ne Scheiße gelabert: Die Models sollen in den Bundestag einziehen, die Süßmuth soll eine Briefmarke rausbringen, damit sie endlich auch mal von hinten geleckt wird, solche Sätze sagt er, aber ich finde diesen Moment klasse, wo einfach was passiert. Und die Super-Prominenten sind sehr wichtig. „Wolfgang Joop sagt: „Arbeitslosigkeit muß als Beruf anerkannt werden – weg mit den Politikern.“ Irre. Da bleiben alle stehen. Wir brüllen ja alles mögliche durchs Megafon.

Das ist dann also wieder gaga.
Irritation, und einfach nur die Tatsache, dass wir die Unterschriften brauchen. Jedes Mittel ist dazu recht. Natürlich gibt es auch bei uns schon Gruppierungen, die dann anfangen zu diskutieren und lange rumzureden. Sich selbst verschanzen und Fluchtmodelle entwerfen, Rechtfertigung für die eigene Lahmarschigkeit. Da habe ich keine Lust zu, das bringt mir nichts.

Gerhard Schröder sagt, und nach der WM sagen es auch alle Fußballfans: Das Land will den Wechsel. Sind G. Schröder und G. Netzer, womöglich G. Horn gar, der Wechsel?
Nein, Schröder ist ja eigentlich noch schlimmer als Kohl. Der redet nämlich plötzlich so superchip. Der ist nur auf der Suche nach dem Superchip, und der Superchip, der macht das dann. Bis zum Superchip ist alles Innovation. Und das ist eine völlige Fehlinterpretation von Innovation. Innovation heißt Wurschteln. Natürlich würde ich gerne Jack Lang von Deutschland werden, da würde ich natürlich auch reihenweise Theater schließen. In jeder Stadt gäbe es zwar weiterhin ein Theater nach alter Schule mit schöner Sprechausbildung und dass auch der Kostümnäher genug zu tun hat, aber das richtige Geld würde ich in Innovationsbühnen stecken. Meinetwegen acht Bühnen pro Haus mit acht Einaktern pro Abend, warum nicht? Das ist schon inflationär, klar, aber immerhin tausendmal wertvoller als diese ganze Täuschung. Irritation ist die Wahrheit.

Und Schröders Wechselwahn ist bloß die Illusion von Bewegung?
Ja, ich unterstütze natürlich Kohl. Denn der Vorteil dabei ist: Die Leute sollen es gefälligst selber mal wollen, mal bewusst den Abgrund angucken oder über ihre Krankheit sprechen, nicht immer auf wen anders übertragen, auf einen Superchip oder so. Wir brauchen jetzt ein Bild des totalen Stillstandes in Deutschland. Eine stillstehende Bundesrepublik. Wo plötzlich am Wahlabend 0,05% nur noch die FDP gewählt haben. Und da stehen dann die Politiker und werden ganz hibbelig und fragen immer, wo denn die Prozente bleiben. Die kommen aber nicht mehr, warum geht denn die-se Säule nicht hoch, keine Sitze, was ist da los – das wäre das Beste, sich auseinandersetzen mit der Frage: was nun?

Du bist 37 Jahre alt. Kannst du dich nach nun 16 Jahren Kohl an Helmut Schmidt erinnern?
Bei Schmidt kann ich mich immer nur an extremen Hyperernst und Seriosität erinnern. Und wie er einmal bei Wolfgang Korruhn im Fernsehen saß und Korruhn ihn immer fragte, ob er sich denn auch immer im Griff habe, nie ausraste, sich gar nicht verändert habe durch das Amt – und da hat Schmidt immer nur geschnupft und gesagt, alles bestens, da könne der Korruhn alle fragen, Königin Elisabeth und den Papst, die könnten das alle bestätigen, alles im Griff, keine Veränderung, volle Kontrolle. Da dachte ich, das sei eine Satire, aber es war schon ernst.

Aha. Und nun der direkte Vergleich …
Bei Kohl haben wir ja eine Deformation, die als Krankheitsbild tatsächlich schon Blasen wirft. Ich finde schon, dass wir einen Bundeskanzler haben, der unsere Krankheit sehr gut darstellt, von daher ist das kein schlechtes theatralisches Element, das Kostüm stimmt, und das ist ja schon mal viel wert. Schröders Kostüm, das er für den Superchip braucht, ist noch nicht so hundertprozentig, und die Köpf passt da gleich gar nicht.

Chance 2000 ist C. Schlingensief – ziemliche Ämterhäufung. Aber manchmal hat man das Gefühl, du reißt Projekte nur an, schlägst Schneisen, die andere dann bewässern sollen.
Ich bin zwar stolz auf diese Partei, die ich nun mal gegründet habe, aber ich bin nicht so mit der geschwollenen Brust unterwegs, ich bin eher so ein Leptosome.

Also ein dünnes Hemd.
Genau. Aber voll bei der Sache.

Du willst in die Grenzbereiche. Heulen auf der Bühne, sich spüren, sich bemerkbar machen, „Mehr Emotion“ war ein Schlachtruf. Die Leute bei Meiser und Arabella — spüren die sich? Immerhin sind diese Sendungen ein Forum für viele, eigentlich auch eine Art Chance 2000.
Aber der Moderator ist fehl am Platze. Oder er muss so debil sein, so asynchron …

Wie du es probiert hast in „Talk 2000“?
Meinetwegen – einfach auch mal heulen, aufstehen, weggehen, nichts sagen. So wie der zweite Bundestag, den ich auf jeden Fall fordere. Auf der einen Seite sind da alle Darsteller, Politiker und machen da einen am Pult klar, und versuchen darzustellen, was ja eigentlich gar nicht da ist, beschimpfen sich und so, meinetwegen. Aber man braucht eben den zweiten Bundestag – für das Volk. Das wird parallel live übertragen, auf 150 Kanälen von Leo Kirch vielleicht. Da gibt es weder Moderation noch Organisation, da kommt man einfach hin, kann da auch essen, da gibt es auch zehn Mikrofone, und da gibt es einfach einen Blick in die Wahrheit. Die Moderatoren machen ja die Sendungen kaputt, das ist so traurig und langweilig. Und Täuschung – aber nicht Aufklärung, das ist einfach gar nichts, null, null, null.

Genau wie Musicals. Aber da gehen die Leute hin, und zwar ohne masochistischen „Heute mal Kultur“-Zwang, das ist ein Bedürfnis. Somit eventuell ein gutes Medium, Leute zu erreichen, oder?
Man erreicht ja die Leute da auch nicht. Du erreichst sie nur, wenn du im Flugzeug eine Lautsprecherdurchsage machst: „Die Triebwerke sind ausgefallen, das war’s.“ Dann rasen wir einfach mal fünf Minuten nach unten, und in den fünf Minuten passiert es. Danach kann man ja auch wieder anschalten und schön landen, aber dieser kurze Moment, der ist es. Mich reizt das Ende der vorgetäuschten Kontrolle: Eine Busreise, die Leute steigen ein, und mit denen fährt man in den Wald, erzählt ihnen irgendwas, und um halb drei nachts sitzen sie plötzlich im Wald, kommen nicht mehr zum Hotel, und ich erzähle immer noch irgendwas durchs Mikrofon (lacht sich kaputt). Das sind die Momente, die mir eine Peinlichkeit einräumen, in denen ich auch Angst kriege. Die Haftung plötzlich. Wann setzt die ein?

Ist die Love Parade eine politische Veranstaltung?
Weiß nicht. Mir ist nur aufgefallen, dass in der Stadt ganz viele Leute vom Dorf waren.

Mobilisiert eine Masse, gebt ihr eine Stimme, macht gute Stimmung – klingt nach G. Horn, trifft aber auch auf Schlingensief zu. Der freiwillige Rückzug ins Private ist aber bei Horn ja ein reaktionärer Akt.
Die „Bunte“ hat mich gefragt, ob Guildo Horn gesellschaftsfähig ist. Da habe ich gesagt: „Es kommt immer ganz auf die Anstalt an.“ Aber die Anstalt ist unergiebig. Für mich ist es ja wichtig, dass die Leute nicht nur sagen, wir haben einen tollen Abend gehabt und alle gesungen und der auf der Bühne hat sich ausgezogen, das fände ich grauenhaft. Mein Wahlversprechen ist auch nur, dass ich die Menschen bitterlich enttäuschen werde, das sage ich allen. Das beste Programm bist du selbst. Und Chance 2000 als angst- freie Projektionsfläche ist natürlich auf Angst gebaut: Angst, sich zu äußern, Angst, kritisiert zu werden und so weiter. Aber man macht’s trotzdem …

Und die Leute projizieren also allerlei in dich, den Parteivorsitzenden, den Anführer, hinein – Sehnsucht nach …
… nach einer Lösung, klar. Wenn ich sage: „Kommt, wir gehen alle da hin“, und alle kommen mit, dann rufe ich aber schnell: „Haha, da wo wir jetzt alle hinlaufen, da geht aber gleich eine Bombe los!“ Und dann rast keiner mehr. Das sabotiere ich also, allerdings nicht pädagogisch, sondern einfach für mich als Erkenntnisprozess. Ich sage, ich gehe einen Weg, und den kann man mitgehen, aber ich fordere alle auf, ihn jederzeit zu unterbrechen.

Du übernimmst keine Verantwortung?
Für mich total. Aber für andere? Ich werde einen Teufel tun. Beispiel Wolfgangsee: Ich habe kein Geld, da hinterher ein Klärwerk hinzubauen oder für eine Million Müllmänner nach dem großen Badespaß. Da kann jeder für sich hinfahren. Und ich werde auch da sein, natürlich. Außerdem hat ein Parteimitglied ausgerechnet, dass selbst sechs Millionen Arbeitslose nicht ausreichten, um den Pegel um zwei Meter ansteigen zu lassen. Da bräuchte man noch ziemlich genau 60 Millionen Arbeitslose aus Russland, aber dann auch 100 Millionen Schnorchel, damit die Arbeitslosen, die unten stehen, nicht ertrinken.

Das hat der also ausgerechnet.
Aufs Komma, unter Einbeziehung der Durchschnittstemperatur Anfang August.

Ist Radikalität 1998 eventuell: unzynisch sein?
Zynismus ist natürlich auch eine Krankheit, nämlich Desinteresse an allem. Es ist schon sehr anstrengend, heutzutage nicht zynisch zu sein. Aber manchmal muss man es auch sein, damit man noch halbwegs alles abarbeiten kann und es loswird.

Du hast für „ZAK“ gearbeitet, für die Zeitschrift „Mode und Verzweiflung“ mit Thomas Meinecke, für das Theater, hast sogenannte Underground-Filme gedreht – alles Formen der außerparlamentarischen Opposition. Und jetzt willst du mittenrein. Hat alles andere nichts genützt?
Man war einfach in einem eng abgesteckten Bereich, in dem man wunderbar so tun konnte, als würde man sich für die Welt interessieren. Das ist aber eine schlechte Therapieveranstaltung: Jetzt kommt wieder ein Stück von dem und dann kommt wieder der – als würde man immer dieselben Medikamente verabreichen. Die Entmündigung ist einfach langweilig.

Bei der „Lindenstraße“ hast du mal als Aufnahmeleiter gearbeitet. Der WDR hält diese Serie für politisch hochgradig wirkungsvoll, weil da Müll getrennt wird, Nazis doof gefunden werden, Homosexuelle aber nicht, und sogar mal das Licht ausgeschaltet wurde gegen Atomstrom. Wenn ich jetzt deine Definition richtig verstanden habe, ist die „Lindenstraße“ nichts weiter  als schlecht getarnte Bewahrung von System 1.
„Lindenstraße“ ist das Letzte. Ich habe das gehasst. Und Geißendörfer, das Arschloch, hat, wenn in der Kantine einer mal erzählt hat, er kenne einen Ausländer, der aber wirklich ein Schwein sei, dann kriegte also dieser Sozialdemokrat gleich ’nen Anfall, und sein Hundetuch ist fast verbrannt am Hals.

Dein Vater ist blind. Der sieht also nicht, dass du eigentlich nett ausschaust …
Mein Vater hat große Traurigkeit in sich und hält mich dann mal unter eine Lampe, und dann dreht er mich, kann aber trotzdem nix sehen. Er ist verzweifelt. Aber meine Eltern haben sich immer gegenseitig beschützt. Mein Vater hat meiner Mutter von meinen Filmen immer nur die Landschaftsaufnahmen gezeigt.

Bei der Premiere deines zweiten Films hast du Angstblocker geschluckt. Ist das zu empfehlen fürs ganze Land?
Komischerweise macht man dann nichts mehr, man nimmt es und ist zufrieden, aber passiv. Ins Trinkwasser muss etwas anderes, etwas, das den Stuhl blutig macht, und Ärzte, die sagen, Sie haben nur noch 24 Stunden, machen Sie jetzt, was Sie wollen. Blut in den Stuhl und die Ärzte aufstacheln, das wäre gut.

Die Story zur Story:
Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: Benjamin von Stuckrad-Barre befragte Chistoph Schlingensief. Später trafen sich die beiden einmal auf Sylt, dann lud Schlingensief den Autor zu einer Reise nach Burkina Faso ein, wo er den Bau eines „Festspielhauses Afrika“ plante. Als der Aktionskünstler, Theater-Regisseur und Filmemacher im Jahr 2008 seine Krebskrankheit publik machte, verbat er sich gut gemeinte Anrufe, Postkarten und Aufmunterungen. Nachdem Schlingensiefs Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ erschienen war, schrieb Stuckrad für die „Welt am Sonntag“ eine zarte Betrachtung über die verfrühten Nachrufe und die Kunst des Erinnerns – eine Hommage an den unsentimentalen Freund, der so gern gelebt hat.

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