TUSCHE UND TALENT

Der Illustrator Felix Mertikat gehört zu den Hoffnungen des deutschen Comics. Ein Werkstattbesuch.

Die bayerische Landeshauptstadt zeigt sich von ihrer besten Seite: Son nenglast und Bodenbarock in der Ferne. Am Vorabend ist das Münchner Comicfestival zu Ende gegangen, vier Tage, allein der sogenannten neunten Kunst gewidmet, vom donaldistischen Fachvortrag über die jüdischen Wurzeln von Superhelden bis zum „Simpsons“-Zeichenkurs. Neben Ausstellungen über das 70-jährige Jubiläum des Batmobils, das Comicgastland Spanien oder „Modedesigner in Entenhausen“ gab es auch etliche Nachwuchskünstler zu entdecken, die gerade noch dabei sind, sich einen Namen zu machen. Felix Mertikat ist einer von ihnen. Seit er vor einem Jahr gemeinsam mit Benjamin Schreuder für die sinistre Fabel „Jakob“ den Sondermann-Preis als bester Newcomer erhielt, gilt er als Hoffnungsträger der deutschen Comicszene.

Auf dem Festival sind wir uns bereits bei einer seiner Signierstunden im proppenvollen Künstlerhaus am Lenbachplatz begegnet – neben ihm thronte der spanische Großmeister Miguelanxo Prado -, und dann, spät nachts, selbstverständlich noch in der Glockenbachwerkstatt auf der Party des Cross-Cult-Verlags, der sein zehnjähriges Bestehen mit Indie-Geschrammel, Balkan-Pop und Ska feierte. Flankiert wurde diese Lustbarkeit von einer Ausstellung mit aktuellen Arbeiten von Mertikat. Sie zeigen technoide, manchmal albtraumhafte Gestalten, maschinelle Implantate oder auch Studien für die Figur des „Bizarromanten“ Heinrich Lerchenwald, einem der Protagonisten von Mertikats nächstem Buchprojekt „Steam Noir“. Dabei handelt es sich um eine auf vier Bände angelegte Comicserie, die dem Steampunk verpflichtet ist – einem subkulturellen Genre, das futuristische mit viktorianischen Elementen verbindet.

Der erste Teil der „Steam Noir“-Reihe, „Das Kupferherz“ (Cross Cult, 19,80 Euro), wird pünktlich zur Frankfurter Buchmesse veröffentlicht wird. Für Texte und Dialoge ist abermals Benjamin Schreuder verantwortlich. Das düstere Setting basiert lose auf dem 2008 erschienenen Rollenspiel „Opus Anima“, das Mertikat mit einigen Freunden seit seiner Schulzeit entworfen hat. In der von Dampfmaschinen, Ätherschiffen und Zeppelinen geprägten Comicserie, angesiedelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, geht es um die übernatürlichen Ermittler des Leonardsbunds, die nach der Leiche eines achtjährigen Mädchens suchen, das in einem Kamin eingemauert worden ist. Zudem spielen „unregistrierte Seelen“ eine gewisse Rolle, die Verzerrungen im Gefüge der Realität hervorrufen, von den dunklen Machenschaften des Kalendarischen Ordens mal ganz zu schweigen.

Zum ausführlichen Gespräch treffe ich Mertikat im Hinterhof der Agentur Little Big Things, die das Merchandising für „Steam Noir“ übernehmen wird. Im dazugehörigen Büro sitzt der junge Künstler seit zwei Monaten an den letzten Originalzeichnungen (Bleistift und Tusche), an der Linienüberarbeitung und der Kolorierung seines neuesten Werks.

In einer Szene fügt er zusätzliche Figuren in den gelbstichigen Hintergrund ein, um das Panel bedrohlicher und glaubhafter wirken zu lassen, in einer anderen korrigiert er den Faltenwurf eines Kleides. Anders als bei dem von Aquarellen dominierten „Jakob“ setzt der 1983 in Esslingen geborene Illustrator und Storyboarddesigner die Farbe nun per Computer ins Bild. Trotz der hohen Temperaturen trägt Mertikat Anzug und Weste, spitz zulaufende Schuhe, Hosenträger, ein schwarzes Hemd samt schwarzer Krawatte und einen Hut, der zu einer Art Markenzeichen geworden ist.

„Als Zeichner“, sagt er, „war ich eigentlich ein Spätzünder.“ Erst mit 17 habe er mehr darin gesehen als ein Hobby. Außerdem wollte er unbedingt Biologie studieren, weswegen er sich beim Abitur mächtig ins Zeug gelegt hat. Doch nach zwei Semestern in Tübingen musste er feststellen, dass er vor, während und nach den Vorlesungen immer nur eines im Sinn hatte: zeichnen. Nach einem einjährigen Praktikum in einer Werbeagentur bewarb er sich also mit einer Mappe an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart – und wurde sang- und klanglos abgelehnt. An der Filmakademie in Ludwigsburg hingegen erkannte man sein Talent. Inzwischen hat Mertikat sein Diplom im Studiengang Animation in der Tasche. „Auch wenn ich vielleicht einer der schlechtesten Animatoren der Welt bin“, sagt er bescheiden. Seine Stärken liegen – abgesehen natürlich vom Zeichnen – eher in der Erschaffung fantastischer Welten und im Spannungsaufbau. Sein Faible für die Entwicklung gegenläufiger Dramaturgien führt er unter anderem auf den Einfluss einiger avancierter Pixar-Filme zurück. Aber auch expressionistische Stummfilmklassiker wie „Metropolis“ oder „Das Cabinet des Dr. Caligari“ haben bleibenden Eindruck hinterlassen.

Obwohl es bei „Steam Noir“ oberflächlich um das fetischisierte Verhältnis von Mensch und Maschine geht, will Mertikat, ausgewiesener Fan von musikalischen Maschinenstürmern und -anbetern wie Kraftwerk und Einstürzende Neubauten, in seinen Zeichnungen primär zwischenmenschliche Konflikte veranschaulichen. Die Charakterisierung seiner Hauptfiguren schlägt sich in ihrer ausgefeilten Körpersprache nieder, während ihm die retro-futuristische Anmutung des Steampunk-Genres als Hintergrund für eine Allegorie auf die Gegenwart dient.

Immer wieder betont Mertikat, wie wichtig es ihm sei, dem Leser vor allem eine gute Geschichte zu liefern, und wie sehr es ihn ärgere, wenn sich beispielsweise prominente Comiczeichner für zweitklassige Storykonstrukte hergeben. Sogar „Hellboy“-Schöpfer Mike Mignola, eines seiner ersten Vorbilder im Medium Comic, nimmt er von dieser Kritik gelegentlich nicht aus.

Dass er seine Werke in dessen deutschem Verlag unterbringen wollte, stand für ihn allerdings außer Frage, und dass Cross Cult ausgerechnet in Ludwigsburg ansässig ist, kommt Mertikat heute noch wie ein Wink des Schicksals vor. Ob seine Comic-Saga eines Tages den Sprung über den Ozean schafft und womöglich die Neugier von Guillermo del Toro weckt, steht freilich in den Sternen. Dass mit „Steam Noir“ endlich auch der anspruchsvolle Mainstream (aus anderer Perspektive: der massentaugliche Underground) in der deutschsprachigen Comicszene Einzug hält, ist auf jeden Fall ein gutes Zeichen.

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