Twin Peaks trifft Teen-Pop

SIE IST SPÄT DRAN – WIE anscheinend jeder, mit dem man sich in Brooklyns Hip-Viertel Williamsburg zum samstäglichen Brunch verabredet. Sie hat die letzte Nacht durchgemacht, um sich die zweite Staffel der „Sopranos“ reinzuziehen – eine Droge, die sie gerade erst für sich entdeckt hat. Als sie nach 20 Minuten endlich eintrudelt – mit Kampfstiefeln und übergroßer Army-Jacke -, macht sie denn auch gleich ihre neue Liebe („Tony Soprano ist schon wie ein Vater für mich“) für die Verspätung verantwortlich. „Sky erschien mit Verspätung zum Interview“, gibt sie gestreng zu Protokoll – und mimt das Problemkind, zu dem sie die Presse unlängst gemacht hat. Mit der Zahnlücke und ihren wasserstoffblonden Haaren könnte sie jedenfalls problemlos die junge Madonna spielen, die vor 30 Jahren die Straßen von Soho unsicher machte.

Ferreira ist 21, klein und zierlich – und hat keinerlei Ähnlichkeit mit den Personen, die man gewöhnlich auf Polizeifotos sieht. Und doch war ihr Mugshot im Internet plötzlich der große Renner. Nachdem sie im September wegen eines Verkehrsvergehens festgenommen worden war, hatte die Polizei bei ihr Ecstasy gefunden, bei ihrem Boyfriend (Zachary Cole Smith von Brooklyns Shoegazer-Band DIIV) Heroin. „Über das Thema darf ich nicht sprechen“, sagt sie, „aber dass die Cops ihre Machtbefugnisse derart überziehen, hätte ich mir nie träumen lassen. Als großer Fan von ,Law &Order: SVU‘ war ich bitter enttäuscht.“

In natura hat sie auch nicht den spröden Schmollmund, den sie vor fast jeder Kamera zieht – sei es in ihrem verstörenden Mugshot, sei es in den unnahbaren Model-Posen, in die sie sich für Yves Saint Laurent oder andere Modefürsten wirft. (Dabei seien es doch gerade ihre verschmitzt lächelnden Augen, die Modefotografen so lieben, sagt sie.) Sie trinkt einen Arnold Palmer, ihr momentanes Lieblingsgetränk (Eistee mit Limonade), und schnattert ungezwungen drauflos – vor allem über Laura Palmer, ihre langjährige Inspiration. „Night Time, My Time“, ihr Debütalbum, das nach mehrjährigen Fehlzündungen endlich veröffentlicht wurde, erhielt seinen Namen durch eine Zeile, die Palmer in „Twin Peaks: Fire Walk With Me“ spricht. „Im Film sieht man zwar ein bisschen von Lauras dunkler Seite“, sagt sie, „aber eigentlich ist sie doch dieser klassische Prom-Queen-Typ. Ich glaube aber, irgendwie muss sie das Gleiche gefühlt haben, was ich auch gefühlt habe – dieses, nun ja, Gefühl, ziemlich neurotisch zu sein.“

„Night Time, My Time“ ist mit Sicherheit eine der schillerndsten Pop-Platten des vergangenen Jahres – wenn auch vermutlich nicht das, was man sich bei Capitol vorgestellt hatte, als man 2007 einen naiven Teenager unter Vertrag nahm. Die Songs sind zwar catchy, aber gleichzeitig auch schräg und deformiert – und erinnern stilistisch an Suicide, Siouxsie Sioux und die Krautrock-Gruppe Harmonia, deren ’74er-Live-Album sie nonstop hörte, „um mich mental in Stimmung zu bringen“. Ihre Songs haben Titel wie „Nobody Asked Me (If I Was Okay)“, „You’re Not The One“ oder „I Blame Myself“ – und das sind noch die poppigeren Nummern. Ferreiras Texte suggerieren Dünnhäutigkeit und weibliche Rage (mal auf beschissene Ex-Boyfriends, mal auf die Plattenfirma-Vorhölle, in der sie jahrelang schmorte), doch dahinter blitzen auch noch hässlichere Blessuren durch.

Ihre Mutter war noch ein Teenager, als Ferreira in Los Angeles geboren wurde. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf, die als Haar-Stylistin für Michael Jackson arbeitete – und ihre Enkelin mehrfach auf die Neverland-Ranch mitnehmen konnte. (Einmal sang sie wohl auch für Jackson, der angeblich von ihrem Stimmumfang mächtig beeindruckt war.) Ihre Kindheit war trotzdem ein einziger Kampf. Sie war ein stilles, oft völlig verschlossenes Mädchen, das sich in ihre Welt zurückzog. Zwei Mal sei sie sexuell genötigt worden. Sie hasste die Schule – mit einer einzigen Ausnahme: „Auf dem Junior College gab’s eine Film-Klasse über David Lynch. Es war der einzige Kurs, den ich belegen wollte.“

Nicht zuletzt, um sich das leidige College zu ersparen, stürzte sie sich in ihre Musik-Karriere. Die schwedischen Produzenten Bloodshy &Avant waren auf die Songs aufmerksam geworden, die Ferreira bei MySpace hochgeladen hatte. Jahrelang fütterte Capitol sie durch, schickte sie rund um den Globus und veröffentlichte Singles und EPs, deren stilistische Ausrichtung sie so oft wechselte wie ihre YSL-Kleider.

Sie fasste endlich Fuß, als sie im vergangenen Jahr „Everything Is Embarrassing“ veröffentlichte – eine große Portion 80s-Pop-Sahne, die ihr die Sympathien der Indie-Gemeinde eintrug. „Ich hatte mich schon daran gewöhnt, angepöbelt oder gegängelt zu werden. Aber plötzlich waren es nicht mehr nur die Gay-Boys und Teen-Girls auf Tumblr, die meine Musik hörten. Es kam eine neue Bevölkerungsgruppe hinzu -und sie alle haben jetzt natürlich eine Meinung, was ich falsch mache oder besser machen sollte.“

Nachdem man jahrelang Material finanziert hatte, das zum größten Teil nie erschien, lehnte Capitol es ab, auch noch für „Night Time“ zu zahlen. Ferreira schlachtete ihr Sparschwein und schrieb in einem zweiwöchigen Gewaltmarsch nicht nur die Songs, sondern nahm den Großteil des Albums auch gleich auf. „Die Herrschaften dachten wohl, ich könne es ohne sie nicht schaffen“, sagt sie und zupft an den Ärmeln ihres Pullovers.

Das Album rutschte unlängst in die Top Ten bei iTunes – und das Video zu „You’re Not The One“ (inspiriert vom Vampir-Film „The Hunger“) knackte die erste Million bei You-Tube. Doch nun, nachdem das Gezeter um ihren Mugshot abgeklungen ist, fängt sie sich Prügel für ihr Albumcover ein. Das Foto, von einem guten Freund (dem argentinischen Regisseur Gaspar Noé) aufgenommen, zeigt sie mit nacktem Oberkörper in der Dusche. Sie sieht mürrisch und herausfordernd aus. „Sicher, ich bin oben ohne, aber es ist nicht eines dieser Fotos“, sagt sie. „Und wenn die Leute denn meinen, dass es Ausbeutung ist, dann beute ich mich in diesem Fall selber aus. Denn ausgebeutet werde ich so oder so. Das bringt der Job nun mal mit sich: Die Privatsphäre ist futsch.“

Es gab natürlich auch noch eine andere, sehr banale Überlegung: „Wer zum Teufel duscht schon mit Kleidern?“, sagt sie – und ihre Mascaraverschmierten Augen glänzen verschmitzt.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates