Unfrieds Urteil: Juli Zehs neuer Roman, die AfD und die Angst vor der Zukunft

Juli Zehs großartiger Roman „Unterleuten“ erklärt die Welt nicht mehr über die überkommene Bipolarität von Gut-Böse, Kapitalismus-Sozialismus, CDU und SPD. Das schlimmste Unrecht, sagt Zeh, entsteht durch Menschen, die sich im Recht fühlen.

Als wir jung waren, flohen wir aus unseren Käffern, um dort zu sein, wo die Musik spielte, wo viele unterschiedliche Leute lebten, wo Kultur, Politik, Action war. Wir wollten am Leben teilhaben.

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Heute fliehen wir aufs Land. Einige konkret, andere im Kopf. Ihre neue Sehnsucht ist Anti-Teilhabe. Lasst mich bloß mit eurem Scheiß in Ruhe. Das ist die mentale Lage eines Teils der Gesellschaft, die Juli Zeh in ihrem großartigen Roman „Unterleuten“ (Luchterhand) aufgreift, der soeben erschienen ist.

Unterleuten ist ein Dorf im deutschen Osten, abgehängt von der Welt und auch vom Staat. Nobody cares. Die Leute können selbst sehen, wo sie bleiben. Die meisten, die geblieben sind, könnten auch gar nicht weg, sie haben es schlicht nicht drauf. Der Sozialismus ist zu Ende, der Kapitalismus hat nie richtig angefangen. Es ist aus, aber es geht irgendwie weiter. Und da ziehen nun die fliehenden Städter hin mit ihren Landlust-Eskapismen im Kopf, um „Ruhe“ zu finden.

Es gibt den alten Sozialisten und Wendeverlierer, den alten Kapitalisten und Wendegewinner, die Generation der zugezogenen Dreißigjährigen mit dem schluffigen Post-Mann und der aufgerüsteten Super-Frau. Sehr lustig: Er hat sein Testosteron-Problem total im Griff und wartet stets willig, was seine Freundin entscheidet. Und sie verachtet ihn dafür.

Aber die gruseligste und auch traurigste Figur ist Gerhard Fließ, ein Dozent um die 50, der seine Uni verlassen hat und mit einer geschwängerten Studentin nach Unterleuten gezogen ist, um Kleinfamilie zu leben. Einst hat er die Grünen mitgegründet, nun kämpft er als Naturschützer gegen eine geplante Windkraftanlage in Sichtweite seines Hauses.

Die Sehnsucht der Gegenwart ist Anti-Teilhabe

Wir reden also nicht von den Abgehängten, den prekär Beschäftigten, den Kleinbürgern mit Abstiegsängsten, denen, die in den Geflüchteten neue Konkurrenz sehen, denen die schlicht fremdenfeindlich sind, die alle am vergangenen Wochenende AfD gewählt haben und denen in diesen Tagen die größte Aufmerksamkeit gilt.

Wir reden von uns. Sagen wir: Unsereins.

Mit seinem Weltverbesserungsgeschwätz, seiner permanenten „Fassungslosigkeit“ über „die Wirtschaft“, „die Medien“, „die Politik“ hat Fließ in Berlin seine 25 Jahre jüngere Studentin klargemacht, die ihn dafür bewunderte. Jetzt wird er immer militanter, weil er im Grunde alles um sich herum als feindlich begreift und sich wehren zu müssen glaubt.

Er hat Berlin aus Protest gegen die Ego-Gesellschaft verlassen und nun seinerseits die Loyalität zur Gesellschaft komplett verloren. Oder anders gesagt: Seine Eigeninteressen – kein Windrad vor der Haustür – dominieren alles. Der Nächste, der Nachbar, ist immer der Feind. Fließ glaubt, Demokratie sei die Durchsetzung seiner persönlichen Agenda des Richtigen und nicht ein schwieriger Kompromiss mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Ein klassischer Denkfehler.

Gerhard will Veränderung ausschließlich in seinem Garten. Ansonsten will er die Zeit anhalten. Weil er nicht mehr an die Zukunft glaubt. Windenergie ist für ihn nicht die Lösung, sondern eine weitere Verirrung der Moderne.

„Es gibt auch bei denen, die in den Städten bleiben, so etwas wie eine innere Emigration. Ich ziehe nicht um, sondern ich ziehe mich raus“, sagt Juli Zeh dazu im taz-Magazin zeozwei. „Ich bin allenfalls noch im meinem unmittelbaren Umfeld politisch. Und dann auch meist im Sinne einer Verweigerung. Als Opposition gegen das, was passiert, nicht im Sinne gestalterischer Teilhabe.“

Der Soziologe Heinz Bude nennt diese teilgesellschaftliche Stimmung das „Gefühl der verbauten Zukunft“, das nicht nur nach rechts kippende Kleinbürger befallen habe, sondern auch „heimatlose Antikapitalisten“, die den Kapitalismus als Problem sehen, aber keine Lösung. Diese Stimmung sei „quer zu den Parteien“.

Objektiv betrachtet ist die Endzeitstimmung abenteuerlich. Global betrachtet gehört die überwiegende Mehrheit der Deutschen zu den oberen fünf Prozent. Aber Argumente helfen überhaupt nicht, da es sich ja um eine Stimmung handelt. „Die Leute haben unglaubliche Angst vor der Zukunft“, sagt Zeh. „Und ich habe Angst vor dieser Angst.“

Unser Problem ist, dass sich jeder im Recht fühlt

Manche Literaturkritiker werden an „Unterleuten“ herummäkeln, das die Gegenwart nicht nur narrativ arbeitet, sondern auch mit Juli-Zeh-Welterklärungssätzen. Aber genau diese Sätze bringen die veränderte Welt auf den Punkt. Dennoch sind die Figuren überhaupt nicht klischiert oder satirisch-verzerrt, sondern fast alle – und es sind viele – haben eine tragische Tiefe. Wie Claudia Roth ja auch. Die größte Pointe des multiperspektivischen Romans ist es, dass jede der Figuren eine eigene Wahrheit erzählt, jede für das Gute kämpft, jeder seine Gründe hat, jeder den anderen das Schlechteste unterstellt, und sehr wahrscheinlich nichts oder wenig davon stimmt. Am Ende reißt sich der Super-Sozialist den Windrad-Deal unter den Nagel. Der kollektive Wahnsinn des 20. Jahrhunderts ist von bedingungsloser Egozentrik abgelöst.

Juli Zeh zeigt mit „Unterleuten“, dass sie zum Typus des neuen Public Intellectuals in Deutschland gehört, der die Welt nicht mehr über die bundesrepublikanische Dreifaltigkeit ’45-’68-’89 und die überkommene Bipolarität von Gut-Böse, Kapitalismus-Sozialismus, CDU und SPD erklärt.

Das schlimmste Unrecht, sagt Zeh, entstehe durch Menschen, die sich so im Recht fühlen, dass ihnen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, einen Kompromiss mit anderen zu schließen, die sich auch im Recht fühlen.

Genau darum geht es jetzt. Aber dazu muss man sein geistiges Kaff verlassen.

Peter Unfried ist Chefreporter der „taz“ und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

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