Verloren in Berlin

SELTSAM ENTRÜCKT sind die Bildwelten im Video zu „The Curse“, der ersten Single von Agnes Obels zweitem Album. Nervös zuckend wandelt die Kamera an Türen und Treppen, die in körnigem Schwarz-Weiß verschwimmen und sich kaleidoskopisch vervielfachen. Der Schnee fällt von unten nach oben. Alles ist gespenstisch verwischt. Dazu eine verträumte Pianomelodie, tiefe Cellotöne und Obels zarte, eindringliche Stimme, die in Naturmetaphern verschlüsselt von einem Fluch erzählt.

Wie schon auf Agnes Obels Debüt „Philharmonics“, das 2011 mit Platin in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und ihrer Heimat Dänemark ein Überraschungserfolg war, balancieren auch die neuen Songs stimmungsvoll zwischen Folkeinflüssen, klassischen Klavierkompositionen und schwebend leichtem Singer/Songwritertum. Gekonnt lässt Obel so Joni Mitchell und Claude Debussy, Leslie Feist und Frédéric Chopin in einen Dialog treten. Finster und rätselhaft sind die Lieder der 32-Jährigen, die das Klavierspielen bereits als Kind am Familienpiano lernte. Bekannt wurde sie mit dem Song „Just So“, der in einem Werbespot der Deutschen Telekom verwendet wurde.

„Aventine“ heißt ihr zweites Album -wie der Monte Aventino, der legendenumwobene südliche der sieben Hügel Roms, auf dem Remus – von seinem Bruder Romulus getötet – begraben wurde. In Obels mystischen Bildkosmos passte das perfekt:“Vor allem wollte ich einen Song über intuitive Prozesse schreiben“, erklärt sie das titelgebende Stück. „Ich mag es sehr, wenn ich an etwas arbeite und nicht weiß, wo die einzelnen Schritte mich am Ende hinführen. Für dieses unbestimmte Gefühl habe ich ein Bild gesucht, einen mystischen Ort wie den Monte Aventino: Seinen Gipfel umkreisen Vögel, ihn umgibt etwas Unheilvolles, ein böses Omen, das aber auch neugierig macht.“ Immer sind Obels Lieder auch Türen zu verwunschenen, verhexten Bildwelten -surreal und melancholisch.

Ein wenig wirkt Obel mit ihren eisblauen Augen und dem feenhaften, scharfkantigen Gesicht selbst wie eine Legendengestalt. Ruhig sitzt sie auf der verwitterten Holzbank vor einem Eck-Kiosk mitten im quirligen, hippen Teil Berlin-Neuköllns. Schon seit 2005 wohnt und arbeitet die Dänin in der deutschen Hauptstadt: „Berlin gibt mir Raum für meine Musik. Es ist so groß, dass man sich jederzeit in seinen Straßen verlieren kann. Und es ist gleichzeitig belebt und entspannt“, sagt sie. Hier habe sie das Gefühl, sich ausprobieren zu können wie ein Kind.

Doch obwohl ihre intuitive Arbeitsweise untrennbar verwoben ist mit der Atmosphäre in Berlin, lässt Agnes Obel die Stadt nie hinein in ihre Songs. Die klingen stattdessen nach Traumsequenzen einer dunklen Natur, nach Abgeschiedenheit und nächtlicher Einsamkeit. Während des Songschreibens lebe sie oft in einer Art Blase, sagt Obel. Dieses diffuse Gefühl der Isolation hört man ihrer Musik an. Viele Stücke auf „Aventine“ erzählen davon, wie man auch zu zweit alleine sein kann. „Words Are Dead“ heißt ein Song: „Ich wollte dieses Gefühl der Sprachlosigkeit zwischen zwei Menschen einfangen.“

Vielleicht entfaltet „Aventine“ deshalb ein geradezu kinematografisches Gefühl -als wären die Songs Musik für Filme, die es noch gar nicht gibt. Man hört „Fuel To Fire“ und ein aufziehendes Gewitter über blasser Dämmerung; man hört „Pass Them By“ und sieht schwirrende Falter im nächtlichen Wald. Melodien und Gefühle -bei Agnes Obel ist das ein und dasselbe.

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