VERSUNKEN IM HEUTE

Eher halblässig sitzt James Blake auf diesem dunkelbraunen Ledersessel. In seiner knabenhaften Art stützt er sich mal lümmelnd auf die Seitenlehne, mal legt er seine Hände scheu zu Fäusten geschlossen in den Schoß. Jugendliche Wuschelfrisur, konzentrierter Blick. Gräulich fällt das Licht aus dem Hinterhof des Berliner Altbaus durchs Fenster auf sein Gesicht. James Blake ist gekommen, um sein zweites Album „Overgrown“ vorzustellen. Zwei Jahre ist es her, dass der damals erst 22-Jährige für sein selbstbetiteltes Debütalbum als musikalisches Wunderkind der angebrochenen Dekade gefeiert wurde. Seine entrückten, geisterhaft transzendierenden Soundstrukturen verbanden damals auf eine bis dato ungeahnte Weise zwei musikalische Richtungen: die energiegeladene Bassmusik des Dubstep und klassisches, pianobegleitetes Songwriting. Auf seine außergewöhnliche Verquickung von digital verzerrtem Fistelgesang und der rhythmischen Dynamik des Dubstep konnten sich plötzlich anscheinend alle einigen: Singer/Songwriter-Typen verfielen der Sogkraft seiner Musik ebenso wie Untergrund-DJs und Elektro-Nerds, Popballaden-Liebhaber und Noise-Avantgardisten, Mütter vorm Küchenradio und Teens in Diskotheken.

Mittlerweile ist der blasse Brite von einer Avantgarde-Neuentdeckung zur festen Größe britischer Elektromusik geworden – ebenso wie sein Musikstil, der mit der losen Genreumschreibung Post-Dubstep betitelt wird. Nach dem überraschenden Erfolg seines Debütalbums drängt sich eine Frage sofort auf, wenn man den jungen Londoner sieht: Wie geht es ihm mit dem Druck, den hohen Erwartungen an sein Nachfolge-Album?“Eigentlich bin ich eher gespannt als nervös. Wie schon beim ersten Album, habe ich das Gefühl, vollkommen ehrlich gewesen zu sein: Es klingt nach der Musik, die ich wirklich machen möchte. Darum habe ich nichts zu verlieren“, sagt Blake. Den Unwillen zu Kompromissen, zur Unterordnung unter Kritikermeinungen und Massengeschmack, hat er sich erhalten. Schon bei seinem ersten Album widersetzte er sich dem Drängen seiner Plattenfirma, die Original-Tracks – entstanden in seinem Schlafzimmer in Südlondoner Stadtviertel Brixton – erneut mit einem Produzenten aufzunehmen. Diese Freiheit habe er sich auch für die Arbeit an „Overgrown“ bewahrt.

„Ich glaube, die Hörer merken es, wenn man nicht ehrlich ist. Wenn du versuchst, Musik zu machen, von der du dir den größten Ruhm, den höchsten Profit auf dem Markt erhoffst, lässt dich das am Ende wie einen Idioten aussehen“, sagt Blake. Aus deswegen sei er dankbar dafür, dass der Zuspruch zuallererst von den Hörern kam und nicht von der Industrie: „Ich habe nie versucht aus der Dubstep-Szene auszubrechen und die Musik für den Mainstream aufzubereiten.“ Die Rolle des Vermittlers zwischen den Welten -zwischen dem dynamischen Experimentierraum der Londoner Clubszene und dem gut sortierten, bürgerlichen Wohnzimmer -hat er nie spielen wollen. Musik, sagt James Blake, sei etwas, das er, seitdem er denken kann, eigentlich nur aus purer Freude gemacht hat. Aus akustischer Abenteuerlust, wenn man so will. Darum probiere er auch oft neue Effekte aus und langweile sich schnell, würde er sich nicht ständig „zwischen verschiedenen musikalischen Ideen hin und her bewegen“.

Geboren 1988 in Enfield, im äußersten Norden Londons, fließen in James Blake zwei musikalische Sozialisationsstränge zusammen, die man sich kaum konträrer vorstellen kann: Da ist zunächst die mustergültige Klavierstundenkindheit in einer Musikerfamilie -sein Vater James Litherland war Gitarrist und Sänger der Prog-Rock-Jazz-Fusion-Band Colosseum. Mit sechs Jahren beginnt der kleine James eine klassische Klavierausbildung, die er bereits mit 15 abschließt. Er spielt Klassik, Jazz und Blues und studiert später an der renommierten Goldsmith-Kunstakademie. Und dann ist da seine Arbeit als DJ und Produzent in der Dubstep-Szene, die er recht spät, erst mit 19 für sich entdeckt. Seinen ersten Besuch im Londoner Club „FWD

Aus dem Dubstep, der Anfang der Nullerjahre im rauen Londoner Süden als Mischung von Dub, Garage und 2Step hervorging, entlieh James Blake für seine Songs die räumliche Klanggestaltung, die teils überraschende, stolpernde Rhythmik und vor allem die dröhnenden, subsonischen Bassläufe. In seinen Kompositionen verkehren sich die gewaltigen Bässe und die Echoeffekte in eine stille, melancholische Innerlichkeit, die Blakes Musik so besonders macht: dichte Arrangements von sakraler Räumlichkeit.

Dass seine Musik dabei so intensiv wirkt, liegt nicht zuletzt an ihrem direkten körperlichen Zugriff: Besonders bei Live-Auftritten in Clubs mit leistungsstarken Lautsprechern graben sich die tiefen Frequenzen der Bässe buchstäblich in die Anatomie des Publikums, lassen Brustkörbe vibrieren und Nackenhärchen zittern. Imposant bebten im Berliner Admiralspalast bei Blakes Konzert vor anderthalb Jahren die Holzpaneele der rot-goldverzierten Theaterverkleidung. Stoisch schepperte das alte Holz im Takt mit Liedern des Effektmeisters aus England, als müsste es im nächsten Moment krachend unter der Wucht seiner Musik zerbersten. James Blake lacht, fragt man ihn danach: „Irgendwie ist das für mich schon zur Gewohnheit geworden“, sagt er. Das Konzertpublikum trifft es umso schutzloser. Nur wenige Veranstaltungsorte nehmen Blakes Musik auf ohne sie nicht stöhnend und ächzend in den Raum zurückzuwerfen.

Die Wucht, mit der Blakes Kompositionen 2011 in den Musikbetrieb einschlugen, war eine Antwort auf die Frage, was nach der Retromanie der Post-Post-Genres und der endgültigen Etablierung elektronischer Tanzmusik der Nullerjahre noch kommen könnte. Hatte er vorher schon in der Londoner Dubstep-Szene mit seinen unkonventionellen Kompositionen für Aufmerksamkeit gesorgt, richteten sich spätestens mit Blakes atemberaubender Coverversion von Feists „Limit To Your Love“ alle Augen auf den jungen Musiker: das klare Piano, die ergreifende Stimme, die unfassbaren Pausen, der Mörderbass! Vom Underground-Hit schaffte es das Stück aus dem Stand in die Playlist von BBC Radio 1 und wurde plötzlich zum Mittelpunkt des Pop. Wie ein Reh auf einer Waldlichtung war Blake von heute auf morgen in das Scheinwerferlicht der Popdebatte geraten: Es gibt nichts wirklich Neues mehr? Von wegen!

Viel ist in den kurzen zwei Jahren seitdem passiert. Die Aura des Neuen ist verflogen. Die Hörgewohnheiten haben sich angepasst, auch weil immer mehr Künstler mit einem ähnlich digital-melancholischen Sound immer größere Aufmerksamkeit bekommen: Burial, Mount Kimbie und Ghostpoet ebenso wie Poliça und Caribou.

Sehr viel erwachsener als damals sieht der heute 24-Jährige nicht aus: Immer noch dieselbe jungenhafte Schüchternheit, immer noch derselbe nachdenkliche Habitus. Unterkühlte, höfliche Britishness auch. Blake ist müde. Bis spät in die Nacht hinein hat er YouTube-Clips des schottischen Comedians Brian „Limmy“ Limond geschaut. Von Limmys Humor ist Blake selbst meilenweit entfernt: Ein wenig ernsthafter noch als 2011 wirkt er, fast schwermütig sein wässrig-bleicher Blick, der von Zeit zu Zeit in Leere abgleitet -als modelliere er gedanklich schon an den nächsten Soundgebilden herum. Dass viele Beobachter -ob aus Pop-Mainstream, Subkultur oder Medienwelt -seiner Musik eine fast monströse Bedeutung überstülpen, hat Blake stets schulterzuckend abgetan. „Ich denke Musik einfach nicht in solchen Kategorien. Ich verstehe Musik nur als Klangbild, als puren Sound. Ich denke, die Leute haben meine Songs einfach gemocht“, sagt er und ein kurzes Lächeln fliegt über sein Gesicht. Denn die Stärke seiner Musik liegt nicht in erster Linie an ihrer technischen Ausgefeiltheit, sondern in Blakes Gespür für Songwriting, in den verblüffend eingängigen Melodien und seiner eindringlichen Falsettstimme, die manchmal an den flattrigen Gesang von Antony Hegarty erinnert. Die Stimme ist mal digital zerfasert, mal unbearbeitet und glockenhell, mal mehrstimmig geschichtet, mal in tranceartige, ewig rückkoppelnde Schleifen gelegt. Und hält mit einem wunderbaren Gespür für Pausen irritierende Momente lang inne. Dieses digitale Zerdehnen, Stauchen und Fragmentieren bleibt aber immer nur zeitgenössische Form für den unverfälschten, eindringlichen Ausdruck eines Liedermachers. So hat er die technischen Möglichkeiten elektronischer Soundeffekte konsequent für seine Songs genutzt. Nach dem klassischen Strophe-Refrain-Muster sind nur die Coverversionen strukturiert – neben Feists Ballade auch seine herzergreifend-fragile Version des Songs „A Case Of You“ von Joni Mitchell. Blakes eigenes Songwriting ist weitaus abstrakter, aber nicht weniger ergreifend. Emotionale Aufrichtigkeit und digitale Bearbeitung werden nicht einfach ineinander verkeilt -sie sind ein und dasselbe. Das echte Gefühl – in James Blakes Soundkonstruktionen findet man es in den großen Gesten, den Basswänden und krächzenden Synthietönen, wie in den zarten Gebärden seiner Stimme.

Der egomane Weltschmerz in Blakes Musik ist natürlich nichts Neues. Aber wie er das macht! Er übersteigert das Ich, lässt es in einer Klangarchitektur aus Hall, Echos, Synthesizern und Störgeräuschen schweben, sich ausweiten und verengen, sich drehen und winden, bis es sich in sich selbst verknotet. Die zerbrechlich-wankende Stimme und die treibenden Bässe sind in ihrer Widersprüchlichkeit auch Zeitdiagnostik einer zwischen den Extremen taumelnden jungen Generation -tieftraurig und euphorisch zugleich:“You’re on your own, in a world you’ve grown“ – allein in einer selbsterschaffenen Realität -singt Blake auf seiner aktuellen Single „Retrograde“. Die „Dunkelheit der Dämmerung“, wie es weiter heißt, hintertreibt Blake jedoch mit einem lieblich-säuselnden R’n’B-Summen, das einem in seiner kristallenen Schönheit Freudentränen in die Augen treibt.

„Ich denke nicht, dass ich dieser introvertierte Junge bin, zu dem mich die Öffentlichkeit machen will. Ich bin einfach sehr konzentriert und habe schon immer viel nachgedacht“, sagt Blake, das Einzelkind, das am liebsten allein arbeitet und die Meinungen anderer aussperrt, bis seine Tracks fertig sind.

Sein zweites Album liege noch näher an seinem eigenen, individuellen Selbstverständnis als Musiker und Person, sagt Blake. Es gibt keine Coverversionen mehr, nur noch Originale, und auch die digitale Stimmverzerrung setzt er sparsamer ein. Stattdessen stechen vielstimmige Gesänge deutlicher heraus als in seinen bisherigen Werken: Seine eigene zu Multitrack-Chören vervielfältigte Stimme erinnert in den besten Momenten an die Dynamik von Gospelchören. „Ich bin stolz auf das neue Album. Vielleicht sogar noch mehr als auf das erste“, sagt Blake. „Ich glaube, es ist besser.“ Er nickt, zögert, fragt fast ein bisschen schüchtern: „Darf ich das sagen?“

Blakes Gestik, sein Sprechen über die Musik, sein Ringen um Worte, um Erklärungen -manchmal macht er mitten im Satz lange Pausen – das alles wirkt völlig unprätentiös. Er will nichts hören von seiner Rolle als Vorreiter des Post-Dubstep, verleugnet aber auch nicht seinen musikalischen Anspruch, seinen fast mathematisch genauen Perfektionismus, mit dem er an einzelnen Stücken herumfrickelt: „Meistens fallen mir Texte und Melodien sehr schnell ein und dann arbeite ich wochen-und monatelang an Songstruktur und Klang.“

So ist James Blake auch das komplette Gegenteil von Oscar Wilde, dessen Roman „The Picture of Dorian Gray“ in einer etwas zerknitterten Taschenbuchausgabe auf dem Tisch liegt, und in dem er vor unserem Interview gelesen hatte. „Literatur inspiriert mich oft mehr als Musik“, sagt der Musiker und schiebt das Buch ein paar Zentimeter zur Seite. Wilde behauptete ja, den „Dorian Gray“ in wenigen Tagen runtergeschrieben zu haben. Bei ihm war alles Pose. Der knabenhafte Blake, der ganz in Schwarz gekleidet wie ein Existenzialist und Dandy zugleich wirkt, er wäre wohl ganz im Sinne Oscar Wildes Ästhetizismus gewesen. Viel mehr noch als einfach schön ist James Blakes Musik -und darin liegt womöglich ihre geheimnisvolle Wirkung – aber vor allem eines: Eine zeitgemäße Übertragung der Gefühlswelt einer hyperaktiven jungen Onlinegeneration. Nervös zucken deren Identitäten in den zeitlichen Verschachtelungen der Informationsströme. James Blakes Musik ist eindrucksvoller und wunderschöner Ausdruck dieser fragmentierten Lebenswelt.

James Blake ist nicht allein: Eine Vielzahl von inspirierten und experimentierfreudigen jungen Künstlern ist in den vergangenen Jahren aus der britischen Dubstep-Szene gekommen. Allen voran natürlich der Londoner Produzent Burial, der verwehte Stimm-und Soundfetzen mit dräuenden Bässen und einem scherenblattartigen Rhythmusgeklapper verbindet. Mit einer Handvoll EPs und zwei herausragenden Alben, „Burial“(2006) und „Untrue“(2007), hat er die klangliche Blaupause für das gesamte Genre geschaffen. Zum Beispiel auch für Jamie Woon, der auf seinem Albumdebüt „Mirrorwriting“ 2011 zu verstolperten Rhythmen den R’n’B-Crooner gab und dabei auch schon mal „Wayfaring Stranger“ für die Gegenwart neu interpretierte. Oder für das Londoner Duo Mount Kimbie, das Dubstep-Beats mit Field Recordings und flirrenden Gitarrenflächen nach Art von Durutti Column verflicht – zu Beginn seiner Karriere hat James Blake bei ihnen als Gastgitarrist gearbeitet. Ende Mai erscheint das neue Mount-Kimbie-Album auf Warp Records. Dann gehen sie auch gemeinsam mit The xx auf Tour – jener Band, die den Dubstep bislang am erfolgreichsten zur introvertierten Singer/Songwriter-Kunst weiterentwickelt hat. Beim Hören ihrer Songs mag man freilich kaum noch glauben, dass diese Musik einst von den Tanzflächen kam. JENS BALZER

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