Vertreibung aus dem Paradies – 15 Jahre „NYC Ghosts And Flowers“

Im Sommer 1999 standen Sonic Youth, eine der einflussreichsten Rockbands der vergangenen zwei Jahrzehnte, ganz plötzlich vor dem Nichts.

Am amerikanischen Unabhängigkeitstag war im kalifornischen Orange County ein Truck mit ihrem Equipment gestohlen worden – all die seltsam gestimmten und präparierten Gitarren, die umgebauten und selbst gebastelten Effektgeräte und Verstärker waren weg, und die Band hatte somit den Schlüssel zu ihrem eigenen musikalischen Kosmos verloren.

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Es war nicht der erste Verlust, den Sonic Youth hinnehmen mussten. In den Jahren zuvor hatte die Band langsam ihr Zuhause verloren. Kim Gordon, Thurston Moore, Lee Ranaldo und Steve Shelley lebten und arbeiteten zwar noch immer in Lower Manhattan, doch es war nicht mehr derselbe Ort wie Ende der Achtziger, als hier noch eine vitale Kunstszene blühte. New Yorks Bürgermeister Rudolph Guiliani hatte mit seiner Law-&-Order-Politik nicht nur die Kriminalitätsrate der Metropole entscheidend gesenkt, durch die gestiegene Sicherheit war Manhattan plötzlich auch für Investoren interessant geworden, die Mieten stiegen und die mittellosen Künstler wurden aus dem East Village verdrängt, ein Künstlerbiotop wurde trockengelegt.

Kim Gordon um das Jahr 2000 (Photo by Lex van Rossen/MAI/Redferns)
Kim Gordon um das Jahr 2000 (Photo by Lex van Rossen/MAI/Redferns)

Zur selben Zeit starben innerhalb weniger Monate zwei der wichtigsten Vertreter der literarischen Avantgarde der Stadt, Allen Ginsberg und Williams S. Burroughs. Es fühlte sich tatsächlich an wie die Apokalypse, und davon handelt das Sonic-Youth-Album „NYC Ghosts And Flowers“, der erste Teil einer Trilogie über die kulturelle Geschichte eines untergegangen Ortes mitten in New York City.

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Besonders berückend gelingt es Lee Ranaldo im Titelstück, das Weltende in Worte und Töne zu fassen. Seine Erzählung beginnt mitten in der Nacht, das Telefon läutet, der Sänger geht ran, doch am anderen Ende der Leitung ist Stille. Irgendwie unheimlich, wie der Anruf eines Toten. Er muss an Lenny denken – an den Nachnamen kann er sich nicht erinnern.. „He’s turned to dust now, one of the chosen few“, singt er mit zugeschnürter Kehle. Seine Gedanken verlassen New York Richtung Ozean.

(Photo by Chris Felver/Getty Images)
(Photo by Chris Felver/Getty Images)

Die Bilder sind in seiner Erinnerung verschwommen, aber die Worte dafür ganz klar, sie nehmen die Form von beat poetry an, erzählen vom Strand und von den Highways, kehren dann zurück in eine Stadt, in der es Laufstege gibt statt Straßen, Stars statt echter Menschen. Die Gitarren schwellen an, bis sie klingen wie Noise-Symphonien des Komponisten Glenn Branca aus den Achtzigern. Sie übertönen die Elegie des Sängers, erzeugen einen Sog, der ihn – wie der Wirbelsturm das Mädchen Dorothy in „Der Zauberer von Oz“ – in ein fantastisches Land mitreißt, in dem all die Versprechen und Utopien des New York Underground wie Blumen blühen und die Geister von Ginsberg, Burroughs und all den anderen Poeten, Renegaten und Außenseiter zu Hause sind.

Auch die Avantgarde kann also zu Tränen rühren, wenn sie vom verlorenen Paradies erzählt. Sonic Youth büßten mit dem Album „NYC Ghosts And Flowers“ ihre Rolle als Indie-Götter ein und wurden unter Kunstverdacht gestellt. Das gestohlene Equipment tauchte erst wieder auf, als die Band bereits am Ende war. Will they ever meet again to run again thru NYC ghosts and flowers?

 

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