„Wie soll jemand über Abgründe schreiben, wenn er selbst keine hat?“ Schriftsteller Thomas Glavinic im Gespräch

Schreiben ist ja eine Aufgabe für ein klares Gehirn, sagt Thomas Glavinic. Aber über wirkliche Abgründe kann auch kein total ausgeglichener, unneurotischer Mensch schreiben. Der Wiener Schriftsteller über Grenzen, die man für ein gutes Buch überschreiten muss. Von Markus Brandstetter.

Sein letzter Roman „Das größere Wunder“ erschien 2013 – und auch wenn sich das Buch zum Zeitpunkt unseres Gesprächs in der 13. Auflage befindet, hält Thomas Glavinic das Wort „Bestsellerautor“, wie er erklärt, für fragwürdig. Zehn Romane hat er seit 1998 veröffentlicht, zählt längst als einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. ROLLING STONE traf Glavinic in seinem Stammlokal im vierten Wiener Gemeindebezirk zum Gespräch. Von Markus Brandstetter.

Magst du eigentlich Interviews?

Wenn jemand von mir die Sekundärliteratur zu meinen Büchern hören will, mag ich Interviews nicht. Meine eigenen Bücher zu interpretieren ist erstens nicht meine Aufgabe, und zweitens unmöglich. Ich verstehe sie ja selbst nicht vollständig. Es kommt bei Interviews auch an darauf, mit wem man spricht. Wenn man es zum Beispiel mit einer Redakteurin zu tun kriegt, bei der sofort ersichtlich wird, dass sie das Buch maximal schnell quergelesen hat und einem in ihren Fragen mit den ärgsten Schriftstellerklischees zu Leibe rückt: Was soll das für ein Interview werden? Das macht keinen Spaß – aber gut, bis zu einem gewissen Grad gehört auch das zum Job. Daraus entstehen jene Interviews, nach denen es wieder heißt: „Der ist aber schwierig!“ (lacht). Ich halte mich ja für überhaupt nicht schwierig. Lemmy Kilmister hat einmal gesagt: Es gibt Leute, die beleidigen deine Intelligenz und wundern sich dann, wenn du reagierst.

Und Lesungen? Als du deinen letzten Roman „Das größere Wunder“ veröffentlicht hast, hast du im Wiener Museumsquartier gelesen, das war vor einer Riesenmenge. Macht dir so etwas Spaß?

Das waren 1600 Leute, und eine solche Anzahl ist man als Schriftsteller nicht gewöhnt. Ich weiß nicht, wie Musiker das aushalten – ich hatte ehrlich gesagt die Hosen voll. Eine solche Wand von Menschen spürt man ja physisch. So nervös war ich selten. Bei einer solchen Menge ist Spaß der falsche Ausdruck. Es ist eine tolle Sache, wenn sich so viele Leute für mein neues Buch interessieren, aber es macht mich zugleich enorm nervös. Und Nervosität ist für mich keine positive Sache, das ist nicht angenehm. Ich bin dafür ein zu angstbesetzter Mensch, und bei mir kippt Nervosität einfach schnell in Angst.

Und nach ein paar Seiten wird’s dann besser?

Die Nervosität geht langsam runter. Es kommt darauf an, wo ich lese, und auch darauf, ob ich zuvor aus Nervosität einen Boxenstopp an der Theke eingelegt habe. Es hängt davon ab, wie sehr ich Herr meiner Sinne bin. Wenn ich völlig klar im Kopf bin, ist es angenehmer, als wenn ich vorher ein paar Biere getrunken habe.

Es ist nicht angenehmer, ein wenig beduselt zu sein?

Nein, das verunsichert mich. Weil ich ja weiß, dass ich dann schlechter lese. Man glaubt, man ist besser, aber tatsächlich ist man schlechter. Wenn ich zwei Bier getrunken habe, lese ich nicht so gut, und kurioserweise bin dann sogar noch nervöser. Ich bin erst nach einiger Zeit drauf gekommen, dass ich nüchtern in Wahrheit weniger nervös bin.

Nicht wie Bukowski also.

Das hat bei ihm bis zu einem gewissen Grad zu seiner Inszenierung gehört. Was man auch über Bukowski weiß: Er hat in der Nacht dreißig Seiten geschrieben, und davon hat sein Verleger erst einmal 28 wegschmeißen können. So funktioniert Schreiben nicht, Schreiben ist ja eine Aufgabe für ein klares Gehirn. Mir kann man wirklich nicht vorhalten, dass ich ein unhedonistischer Mensch wäre, aber man hat als Schriftsteller nur ein Werkzeug, und das ist das Gehirn. Das darf man sich nicht mit psychotropen Substanzen ruinieren, so lustig das auch ist. Ich hätte gerne ein zweites Ich, das ich für Exzesse auslagern könnte. Ich bin denen ja durchaus zugeneigt. Es gibt aber in mir mehrere Persönlichkeiten, und eine davon ist strenger. Die sagt: „Du musst morgen noch zwei Seiten schreiben.“ Da gibt es dann keinen Streit zwischen diesen Persönlichkeiten. Die vernünftige ist der Chef.

Aber das vernünftige Ich zehrt ja auch vom hedonistischen Ich, oder nicht?

Ja, natürlich – aber ich schreibe ja nicht nur über Orgien, im Gegenteil, eher selten. Klar, ohne Leben gibt es keine Literatur. Was man bei vielen Schriftstellern merkt. An der Inhaltsleere ihrer Bücher merkt man, welch ereignisarmes Leben sie haben. Ich meine das gar nicht polemisch. Ich lebe mein Leben ja auch nicht so, um darüber schreiben zu können, sondern weil ich es so mag. Und klarerweise ergibt es ein wenig mehr Stoff, wenn man der Lebenslust und dem Leben an sich positiv gegenüber steht.

Du hast einmal gesagt, dass man nicht über Abgründe schreiben kann, ohne selbst welche zu haben.

Ja, das geht nicht. Was soll jemand über Abgründe schreiben, der keine hat, der keine kennt? Klar, ich kann über den Mount Everest schreiben, ohne jemals dort gewesen zu sein, das ist etwas Konkretes, das sich jeder anschauen kann, etwas in das man sich hineindenken kann. Aber über wirkliche Abgründe kann kein total ausgeglichener, unneurotischer Mensch schreiben: Es wird ihm nichts Großes gelingen.

Würdest du sagen, dass Beschreiben innerer Vorgänge ist das Interessante an Literatur?

Da muss man erst eine Begriffsdefinition vornehmen. Beschreiben würde ich es nicht nennen. Man erzählt eine Geschichte, in der gewisse Faktoren eine Rolle spielen. Das können Motive sein, die etwas mit den Abgründen in uns zu tun haben: Eifersucht, Mord, Selbstmord, Verzweiflung an der bösen Welt, Drogen, Sucht, alles Mögliche. Darüber zu schreiben, ohne es zu kennen: das halte ich gelinde gesagt für ein Wagnis.

Wie lebt es sich mit dem Terminus „Bestsellerautor“?

Ich halte das Wort für ein Missverständnis. In Österreich gilt man schon als Bestsellerautor, wenn man 5.000 Stück verkauft. Umwerfend ist das nicht. Pro Buch verdient man zwei Euro – und das als jemand, der zwei Jahre an seinem Werk geschrieben hat. Ein Bestseller, der diese Bezeichnung verdient, ist ein Buch, von dem 50.000 Stück verkauft werden. Jedoch: andere Titel finden zwei Millionen Käufer, und beide werden Beststeller genannt. Ich bin durchaus zufrieden und freue mich, wenn meine Verkäufe irgendwo dazwischenliegen, aber ich bin nicht Donna Leon.

Sind deine Kolumnen für dich eine Art Durchlauferhitzer für andere Arbeiten, oder reine Auftragsarbeiten?

Das hat ausschließlich pekuniäre Gründe. Ich kann mit Geld nicht umgehen und muss deswegen trachten, möglichst viel zu verdienen, um es dann wieder für Sinnlosigkeiten zu verschleudern. Ich gebe nach Möglichkeit meine Kredit- und Bankkarte bei einer Person meines Vertrauens ab und lasse mir Taschengeld auszahlen. Eine freiwillige Teilentmündigung. Ich habe auch weder den Ehrgeiz noch das Talent zu sparen. Ich lebe sehr im Augenblick, außer beim Schreiben – da denke ich natürlich Monate oder gar Jahre voraus. In meinem Leben schaffe ich das manchmal nicht weiter als ein paar Tage.

Musst du dich zwingen, nichts zu schreiben?

Nein, ich muss mich eher zum Schreiben zwingen. Ich bin faul. Ich bin natürlich gern Schriftsteller. Aber sich jeden Tag in der Früh hinzusetzen (überlegt)… nein, eigentlich stimmt das nicht. Eigentlich mache ich das gern. Wenn es gut geht, dann mache ich das gerne.

Disziplinierst du dich dann auch mal, wenn es nicht gut läuft?

Nein, dabei kommt nichts Gutes raus. An solchen Tagen nehme ich mir frei. Man sollte zwischendurch auch einmal nett zu sich selbst sein. Es kann überdies passieren, dass man andernfalls seinem eigenen Text davon läuft. Wenn man zu schnell und zu viel schreibt, kann es sein, dass der Text und die Geschichte nicht Schritt halten, und man merkt zu spät, dass da mehr gewesen wäre. Umgekehrt: Wenn man zu langsam schreibt, verliert man den Text, oder das Interesse daran, das kann auch vorkommen. Deswegen ist es wichtig, dass man sich als Schriftsteller selbst gut kennt und weiß, wie man tickt. Wie der Prozess aussieht, in dem man ehesten in der Lage ist, das zu leisten, was man sich vorgenommen hat.

Du schreibst noch immer an der Schreibmaschine, oder?

Die erste und die zweite Fassung. Die dritte geht ins MacBook. Ich kann das nicht anders. Kolumnen schreibe ich nicht auf der mechanischen Schreibmaschine, aber einen Roman könnte ich nicht anders schreiben. Auf dem Notebook arbeite ich schneller – und schneller heißt: weniger genau. Das darf man sich nicht erlauben.

Um noch einmal auf die Phase nach der Vollendung von Büchern zu sprechen zu kommen. Nach „Das größere Wunder“ ging es es dir ja besser als nach „Die Arbeit der Nacht“, oder?

Ja, das hat damit zu tun, dass es ein positives Buch sein sollte – und glaube ich auch ist. Das klingt jetzt halbesoterisch – aber „Die Arbeit der Nacht“ ist ein dunkleres Buch, „Das größere Wunder“ halte ich für heller. Dementsprechend hat sich auch meine Stimmung entwickelt. Bei der Arbeit der Nacht: drei Jahre jeden Tag alleine auf der Welt zu sein, das hat schon psychische Auswirkungen auf den Verfasser.

Ganz was anderes: In Deiner Kolumnensammlung „Sex“ rätst du eifersüchtigen Menschen: werdet Ästheten!

Ja, Eifersucht ist etwas Schreckliches, für alle Betroffenen. Viele von uns wollen ihren Partner besitzen und tun sich schwer damit, dem anderen Raum zu lassen. Mir ist das manchmal besser gelungen und manchmal schlechter. Aber Eifersucht ist etwas buchstäblich Hässliches. Und taucht oft absurd schnell auf. Bei mir einige Male mit Frauen, mit denen ich noch nicht einmal richtig zusammen war. Man muss sich bewusst machen, dass das nicht geht. Eifersucht macht unser Leben nicht leichter. Sie ist irgendwie würdelos. In gewissem Sinne ist sie unästhetisch.

Da gibt es auch die lustige Geschichte von der Frau, die dir plötzlich total unsexy erscheint, weil sie ihre Pizza hinunterschlingt…

Solche Dinge kommen im Buch vor, und sie sind natürlich immer jemand anderem passiert (lacht). Ich wollte meine eigene Sexualität außen vor lassen. Wenn Männer über ihre Sexualität schreiben, wird das oft ziemlich unangenehm. Als Mann liest man es ja gerne, wenn Frauen über ihre Sexualität schreiben – wahrscheinlich ist da auch die Hälfte erfunden – doch das kann man ohne ästhetisches Grauen lesen. Bei Männern ist das heikler. Ich wollte meinen Lesern keine Fremdschäm-Momente zumuten, die zu Ausrufen führen wie: „Bitte, mir wird schlecht. Bitte erzähl mir das nicht, Glavinic, das muss ich nicht wissen!“ (lacht).

Wie wichtig ist für dich Musik?

Ich höre bei der Arbeit Musik. Dröhnend laut, mit Kopfhörern, stundenlang. Was ich höre, merke ich schon nach wenigen Minuten selbst nicht mehr. Aber es ist oft Stereolab, Klangschleifen – so vergisst man schnell, dass da etwas läuft. Das kapselt mich ab von der Umwelt, und das ist, was ich brauche: ich will die reale Welt ausblenden. Die Musik vergesse ich auch irgendwann, sie wird zum neutralen Hintergrund. Sie hilft mir, mich in die Stimmung zu versetzen, die ich beim Schreiben brauche, und zieht sich dann sozusagen zurück. Was für eine Art von Musik ich in der Regel höre, könnte ich schwer definieren, weil ich mich mit Musik und ihren Stilen und Richtungen nie theoretisch beschäftigt habe. Was ich mag, läuft wohl unter Independent. Derzeit höre ich viel Tired Pony, aber demnächst muss ich wieder etwas Optimistischeres finden, sonst versinke ich in Depressionen.

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