WIlcos Weg zwischen Rock’n’Roll und Experiment

Die Abkehr vom alternativen Country Ihrer Anfangstage brachte der Band nicht nur neue Fans, sondern konfrontierte sie mit stets neuen Erwartungen. Dabei wollen Wilco doch nur an die klassische Ära der populären Musik anknüpfen, wie Ihr Sänger Jeff Tweedy Immer wieder bekräftigt.

Auf dem Klingelschild eines unauffälligen alten Warenlagers im Norden Chicagos steht einfach nur „Foxtrot“. Und wenn man nicht wüsste, was sich dahinter verbirgt, man könnte es für die Adresse einer Tanzschule halten oder einer Militärakademie. Aber das hier ist das „Foxtrot“ aus „Yankee Hotel Foxtrot“, dem Titel des Albums, an dem die Band Wilco 2000 arbeitete, als sie hier einzog. Eine Art Schicksalsplatte sollte das werden. Die Band verlor durch sie ihre Plattenfirma und ihr musikalisch versiertestes Mitglied. Doch sie gewann ein neues Label und jede Menge Fans. Wilco hatten mit diesem Album endgültig das Image einer sogenannten Americana-Band abgelegt und galten von da an als Pop-Avantgarde. Ein Ruf, an dem sie mit jedem neuen Album wieder gemessen werden.

All das geht mir durch den Kopf, als ich „Foxtrot“ drücke.

Der Türsummer summt, und ich trete ein. In der dritten Etage erwartet mich Jason Tobias. Er ist eine Art Mädchen für alles hier im Loft, so nennt die Band diese Mischung aus Proberaum, Studio und Lager. Klingt allerdings viel zu mondän und schick, diese Bezeichnung. Wenn man eintritt, schaut man in eine Art studentisches Wohnzimmer. Schwarze Ledercouch, kleiner bunt gescheckter Beistelltisch auf einem blau-roten Perser-Teppich. Rechts von der Tür stehen Fernseher, Playstation, DVD-Gerät, Musiktruhe, ein Regal mit DVDs (u.a. mit den gesammelten Werken von Woody Allen) und eines mit einer Musikanlage und ein paar Schallplatten. Außerdem lehnen da drei Bücher: der „Fluxus Codex“, „Invisible Republic“ von Greil Marcus und dazwischen ein schmales Bändchen mit dem Titel „The Truth about Chuck Norris“. An den Wänden Wilco-Poster, auf dem Türrahmen ein Hufeisen. Linke Hand kann man über den Raumteiler hinweg Mischpult und Computer sehen. Daneben erstreckt sich eine Gitarrenlandschaft. Und an den Wänden weitere Regale voller Bücher, CDs, Schallplatten… Vermutlich dienten sie so manchem Wilco-Stück als Inspiration. Das alles wirkt zugleich gemütlich verramscht und überwältigend. Hier sind schließlich viele der Songs und Sounds entstanden, die einen gefangen genommen haben in den letzten neun Jahren. Und hier lagert sicher noch jede Menge unveröffentlichte Musik auf Tonbändern und Festplatten. Willkommen in der Welt von Wilco!

Um die Ecke, aus einer Nische, in der sich wohl die Küche befindet, kommt Pat Sansone, seit 2002 Gitarrist und Keyboarder bei Wilco. Er ist auf dem Weg nach Hause, will aber abends noch ein bisschen spielen hier: „Bist du später noch da, Jason?“ „Ja, klar, mindestens bis neun.“ „Okay, dann sehen wir uns noch.“

„Sieht gerade ziemlich leer aus“, meint Tobias und deutet in den hinteren Teil des Raums, wo allerlei Instrumentenkoffer und ein Stockbett stehen. „Sonst ist hier alles voll bis unters Dach, aber das Tour-Equipment ist auf dem Weg nach Spanien.“ Allmählich werde es hier im Loft ein bisschen eng. Dazu die Mobilfunkmasten auf dem Dach, deren Auswirkungen auf die Gesundheit ja auch noch nicht geklärt seien – „they’re probably microwaving our brains“. Und dann ist da noch dieses bedrohliche Geräusch, das klingt, als liefe ein Schiff auf Grund. Es kommt unten vom Hof, scheint eine Art Presse zu sein, die in regelmäßigen Abständen, wie ein Herzschlag, dumpf auf ein Stück Metall trifft. Man kann dieses Geräusch zu Beginn von „Deeper Down“ hören, einem Song auf dem neuen Wilco-Album mit dem tautologischen Titel „Wilco (The Album)“ Die Tage im Loft seien wohl gezählt, so Tobias, man suche schon nach Alternativen, die Band träume von einem eigenen Haus. Er setzt sich an einen Schreibtisch zwischen allerlei Kisten und Schränken. Angelehnt an einen Schubladenschrank steht das Resonanzfell einer Basstrommel, das den Coverstar des neuen Albums zeigt. Ein Kamel. „Das ist Alfred, er hat heute Geburtstag“, erklärt Tobias. „Er stammt aus Milwaukee.“

Es klingelt. Tobias geht zur Tür. „Hello, it’s Jeff“, quäkt es aus der Gegensprechanlage. Jeff Tweedy natürlich, Wilcos Sänger, Songwriter und mehr denn je: Kopf. Auf den habe ich gewartet. Er kommt die Treppe hochgestapft. Jeansjacke, T-Shirt, Baseballkappe, Dreitagebartinseln im Gesicht.

Sieht so „the perfect modern rock star“ aus? So nannte ihn nämlich kürzlich das amerikanische „GQ Magazine“. „Wir sind sehr sehr stylish, weltmännisch und sophisticated“, lacht Tweedy, zeigt an sich herunter und dreht sich ein bisschen. „Ich meine, schau mich an.“ Er verschwindet in der Küche und kommt mit einer Cola light zurück. Von denen trinkt er bis zu zehn am Tag, sagt er. „I could spent three dollars and sixty-three cents on diet Coca-Cola and unlit cigarettes“, sang er einst er in „Ashes Of American Flags“ auf – natürlich „Yankee Hotel Foxtrot“.

„Vielleicht bin ich so perfekt für die Leute vom ,GQ‘, weil sie sich besser fühlen, wenn sie mich sehen“, grinst Tweedy. Oder hat er vielleicht nur am Telefon mit ihnen gesprochen? „Ja. Genau (lacht). Vielen Dank auch. Ich hab, wie es heißt, ein gutes Radiogesicht.“

Dabei sieht der 41-jährige – soweit man das unter dem insularen Bartbewuchs erkennen kann – ziemlich gut aus. Gesund, fast jungenhaft. Zudem wagt er mittlerweile ja sogar ab und zu eine glamouröse Rockstar-Geste und tritt – dokumentiert in Brandon Catys und Christopher Greens Tourfilm „Ashes Of American Flags“ – in einem Nudie-Suit auf, wie ihn die Flying Burrito Brothers um Gram Parsons Ende der Sechziger trugen. Zu solch souveräner Selbstironie war er nicht immer fähig. Früher wirkte er oft linkisch und unsicher. Heftige Migräneattacken und der Versuch, diese mit allerlei Schmerzmitteln zu bekämpfen, hatten ihm einst zugesetzt und dazu geführt, dass er die Kontrolle über sich und seine Band verloren hatte. Seit er sich 2004 in Entzug und ärztliche Behandlung begeben hat, hat sich das grundlegend geändert, wie Gitarrist Nels Cline in „Ashes Of American Flags“ bestätigt. „Er hält alles am Laufen. Ich denke, letztendlich wird er immer das tun, was er will“, erklärt er dort. „Er lässt es so aussehen, als habe er Zweifel oder sei unsicher. Aber ich bin mir nicht immer sicher, ob er wirklich so unsicher ist.“

„Ich bin bestimmt ein bisschen offener geworden“, nickt Tweedy, „was wohl daran liegt, dass ich ein bisschen mehr Vertrauen habe in das, was ich tue. Da haben die einschneidenden Veränderungen, die ich in meinem Leben vorgenommen habe, sicher ihren Teil dazu beigetragen.“ Er überlegt, schüttelt den Kopf. „Die Leute machen immer noch eine große Sache daraus, dass Songwriter innere Kämpfe durchstehen und andauernd leiden müssen, um große Dinge zu schaffen. Ich glaube, das ist ein ziemlich schäbiger Mythos. Jetzt, wo es mir besser geht, leide ich zugleich viel intensiver als früher, weil ich es nämlich jetzt zulassen kann, auch schlimme Dinge an mich heranzulassen. Wenn man Frieden geschlossen hat mit dem Leiden und sich erlaubt, zu leiden, statt zu irgendwelchen Hilfsmitteln zu greifen, wird auch die Kunst besser. Das ist jedenfalls meine Überzeugung.“ Er stutzt, nimmt einen Schluck aus seiner Cola-Dose, schaut zur Decke und wackelt unter dem Tisch unruhig mit den Beinen. „Es war zunächst ziemlich beunruhigend, dass nicht alles so schwarz und weiß ist, wie ich mir das immer ausgemalt hatte. Als meine Mutter starb, war das sicher der traurigste Tag meines Lebens, aber zugleich sind an dem Tag auch einige sehr gute Sachen passiert. Die große Herausforderung scheint mir zu sein, diese unterschiedlichen Emotionen miteinander zu versöhnen. Es geht darum, die richtige Balance zu finden.“

Das gilt sicher auch für den kreativen Austausch innerhalb der Band. Seit er sich und seinen Kollegen klar gemacht hat, dass er der uneingeschränkte Chef ist bei Wilco und Ideen seiner Mitmusiker nicht länger als Angriff auf seinen Status begreift, scheint pure Harmonie zu herrschen. Früher war er da nicht immer souverän, scheute – unsicher wie er war – die direkte Konfrontation. Vor den Aufnahmen zu „Yankee Hotel Foxtrot“ setzte er ohne ein klärendes Gespräch Schlagzeuger Ken Coomer vor die Tür, wenig später kam es zum Zerwürfnis mit dem Allround-Genie und Co-Songwriter Jay Bennett, der eine Woche nach meinem Besuch im Loft, am 24. Mai 2009, unerwartet starb (siehe Kasten). „Wir sind alle tief betrübt von dieser Tragödie“, kommentierte Tweedy den Tod seines langjährigen Weggefährten auf der Wilco-Website. „Wir werden Jay für das vermissen, was uns von ihm in Erinnerung bleibt – einen wahrhaft einzigartigen und begabten Menschen, dessen Mitwirkung an den Songs und der Evolution der Band stets willkommen und signifikant war.“

Keine Frage, dass Tweedy Bennetts Anteil an Wilcos Entwicklung vom Alternative-Country zum filigranen Pop der Alben „Summerteeth“ und „Yankee Hotel Foxtrot“ zu würdigen weiß, doch seine gewundenen Formulierungen zeigen auch, dass die alten Wunden noch längst nicht verheilt sind. Wie auch, hatte Bennett die Band einen Monat vor seinem Tod noch auf Tantiemen in Höhe von 50000 Dollar verklagt. Es

war sicher weniger die Höhe des Betrages, die Tweedy störte, als vielmehr, dass Bennett mit seiner Klage auf der Welle der Aufmerksamkeit surfen wollte, die die Veröffentlichung des neuen Wilco-Albums gerade anschob. Wieder würde er in jedem Interview über die schmerzhafte Vergangenheit reden müssen. Und das, wo er sich doch gerade in der Gegenwart so wohlfühlte.

„In unserem aktuellen Line-up herrscht wirklich eine ganz erstaunliche Kameradschaft“, erklärt er mit leuchtenden Augen. „Ich glaube, jeder fühlt sich da wohl. Wir genießen es alle sehr, nach all den Jahren, die wir schon Musik machen, jetzt in einer solchen Situation zu sein. Das ist nicht die Art, wie so etwas normalerweise läuft.“

Einzig Tweedy und Bassist John Stirrat sind von der ersten Wilco-Besetzung noch übrig. Schlagzeuger Glenn Kotche stieß während der Aufnahmen zu „Yankee Hotel Foxtrot“ hinzu, nach Bennetts Ausstieg komplettierten Keyboarder Mikael „Mike“ Jorgenson und Pat Sansone die Band. Gitarrist Nels Cline ist seit der Tour zu „A Ghost Is Born“ von 2004 dabei. Wilcos Gesicht hatte sich innerhalb weniger Jahre komplett verändert. Tweedy stand musikalisch vor einem Neuanfang. Und dieses Mal wollte er alles richtig machen. „Wir haben damals wieder ganz vorne angefangen“, erklärt er. „Wir haben viel live gespielt und uns im Studio auf das berufen, was bei den Konzerten entstanden ist. Denn das ist bei Debütalben ja immer ein Problem, dass sich die Bands zu weit von dem wegbewegen, was sie eigentlich ausmacht. So entstand dann ,Sky Blue Sky‘. Und nun sollte also der nächste Schritt folgen. Nicht wenige hofften nach dem lyrisch wie musikalisch scheinbar straighten „Sky Blue Sky“ auf einen experimentellen Nachfolger, auf Krautrock-Verweise wie zuletzt auf „A Ghost Is Born“, auf Noise und Elektronik, sicher auch auf epische Gitarrenpassagen wie zuletzt in „Impossible Germany“. Erste Aussagen der Band, man habe das Studio dieses Mal als eine Art weiteres Instrument genutzt, nährten die Hoffnung auf Song-Dekonstruktionen und Sound-Spielereien. All die Erwartungen waren berechtigt – und doch ist das Ergebnis ziemlich überraschend.

Als Wilco sich im Loft zu den ersten Proben zum neuen Album zusammenfanden, hatte Jeff Tweedy bereits alle Songs geschrieben. Melodie, Akkordfolge, Bridge, Outro – alles stand. Kein Raum für Jams oder sonstige Spielereien. So hatte er seit „Summerteeth“ von 1999 nicht mehr gearbeitet. „Nachdem wir für ,Sky Blue Sky‘ immer und immer wieder versuchen mussten, den perfekten Take live im Studio zu hinzubekommen und einige Songs so oft durchspielten, dass wir auf dem Weg einige spannende Ideen einfach verloren haben, war dieser Ansatz sehr erfrischend“, erklärt er.

Diese Arbeitsweise brachte auch neue Freiheiten mit sich, denn es war nicht mehr erforderlich, dass die gesamte Band zu jeder Zeit vollständig beisammen sein musste. Als Tweedy, Stirrat, Kotche und Sansone den beißend kalten Winden des Chicagoer Winters für einige Tage entkamen und im neuseeländischen Auckland an ihrem Beitrag für Neil Finns Benefiz-Projekt „7 Worlds Collide“ arbeiteten, waren sie von der entspannten sommerlichen Stimmung so inspiriert, dass sie gleich begannen, Tracks für ihr eigenes Album aufzunehmen. „Wir mussten diese Atmosphäre einfach für uns nutzen“, so Tweedy. „Alles schien hier vollkommen unangestrengt zu laufen. Songs, an denen wir uns vorher in Chicago abgemüht hatten, sprudelten auf einmal nur so aus uns heraus. Wir fühlten uns einfach wohl in diesem Studio.“ Er grinst schelmisch wie ein kleiner Junge. „Und ich habe auch vorher noch nie in kurzen Hosen aufgenommen, was man glücklicherweise der Musik auch nicht anhört (lacht). Wir kamen jedenfalls mit ziemlich robusten basic tracks zurück.“ Cline und Jorgensen, die aufgrund anderer Verpflichtungen nicht mitreisen konnten, fühlten sich da keineswegs übergangen, betont Tweedy. „Wir haben ihnen gesagt: ,Hört euch das an, wenn es euch gefallt, machen wir hiermit weiter, wenn ihr Änderungswünsche habt, können wir’s gerne noch mal anders versuchen.‘ Aber sie waren beide ziemlich begeistert: ,Wow, wir sind ja fast fertig!'“

Es sei allerdings zunächst nicht leicht gewesen für die beiden, ihren Platz in diesen schon so weit gediehenen Stücken zu finden, meint Tweedy. „Sie wollten ja auch nichts kaputt machen. Aber ich glaube, nach einer Zeit haben sie die Möglichkeiten, die sich ergaben, sogar wirklich genossen.“

Es hat sicher nicht geschadet, dass es sich bei dem Keyboarder und Toningenieur Jorgensen und dem improvisationserprobten Jazzer Cline um die soundtechnisch wohl erfindungsreichsten Wilco-Mitglieder handelt. Sie haben den Songs schließlich eine weitere Dimension hinzugefügt. Auf Melodie und Rhythmus legten sie eine lyrische Schicht, eine komplementäre Spur zu Tweedys immer wieder um das Unaussprechliche, das Unsagbare und Unbewusste kreisende Texte. Man kann die beklemmende Aura vor einem epileptischen Anfall in „Deeper Down“ quasi spüren, in „One Wing“ erweckt erst Clines Gitarre das Bild von zwei ehemaligen Liebenden, die wie abgetrennte Flügel hilflos und ohne Wirkung weiterzuschlagen scheinen, zum Leben. Auch in „You’ll Never Know“ ist es Cline, der mit einem Zitat aus George Harrisons „My Sweet Lord“ aus einem eher nihilistischen Text ein lebensbejahendes Stück macht. Seine Gitarre scheint für Tweedy ein mindestens so guter Duettpartner zu sein, wie es die kanadische Songwriterin Leslie Feist im hübschen neuen Song „You And I“ ist.

„Die Idee gefällt mir“, meint Tweedy, als ich ihm meinen Eindruck erläutere. „Jeder in der Band scheint sich gewisser begrifflich nicht fassbarer Ideen bewusst zu sein, die sich mit Musik allerdings sehr wohl ausdrücken lassen. Sie schaffen eine Atmosphäre, die zu meinen Texten in Beziehung steht. Es ist wirklich toll, wenn man mit ein paar Jungs zusammenarbeiten kann, die diese Sensibilität besitzen, denn ich glaube, dass es sehr gewinnbringend sein kann, sich an den Texten zu orientieren. Nicht, weil sie von mir sind, sondern weil sie ein wichtiger Bestandteil der Songs sind. Wenn du sie nicht in die Musik mit einbeziehst, wirfst du ja quasi die Hälfte des Bildes weg. Es ist immer eine Herausforderung, sich zu fragen, wie eine Ansammlung von Wörtern klingt. In den meisten Fällen werden wir dabei ja nicht zu abstrakt.“

Im Gegenteil. Selbst das musikalisch komplexeste Stück, „Bull Black Nova“, das einzige, das alle Bandmitglieder gemeinsam und live im Loft aufnahmen, wirkt wie eine ziemlich anschauliche Illustration von Tweedys Text, verbindet die wirren Gedanken eines Mörders mit einem romantischen Bild der amerikanischen Landschaft. Die Musik erzeugt hier ziemlich konkrete Bilder und Stimmungen, die aufs Schönste mit den Erläuterungen korrespondieren, die Tweedy in „Ashes Of American Flags“ zu seinem Verständnis von Wilco und seiner Songkunst gibt.

Wir sehen, wie nach einem Konzert der Tourbus vorfahrt, es folgen Impressionen der vorbeiziehenden amerikanischen Landschaft bei Sonnenuntergang. Wir sehen Bäume, Berge, Vögel, den Highway, die Trucks. „Irgendwann hat die darstellende Kunst ihren Reiz für die Kritik verloren“, spricht Tweedy aus dem Off, „aber ich glaube, dass sie die Menschheitsgeschichte hindurch doch der Regelfall war. Und der Grund dafür, Musik zu erschaffen, war doch wohl zunächst: Ich möchte dir erzählen, wie ein verschmähter Liebhaber klingt oder wie diese Berge hier klingen. Ich liebe diesen Aspekt der Musik, wie sie spricht und was für lebendige Büder sie dir in den Kopf malen kann. Und ich finde es überhaupt nicht nebulös, so etwas anzustreben. Ich glaube sogar, dass es genau darum geht (lacht)… immer noch. Es passiert sogar, wenn die Leute es gar nicht versuchen. Die beste Musik hat sich die Fähigkeit erhalten, eine urbane Landschaft in deinen Kopf zu ätzen oder irgendeine Maschine.“

Wir sehen Jeff Tweedys Kopf an die Fensterscheibe des Busses gelehnt, dann den vierspurigen Interstate 65 aus dem Heckfenster. Der Bus fährt über die General W.K. Wilson Jr. Bridge. Ihre Bögen schwingen sich langsam in die Höhe, ihre Streben werfen Schatten auf den Highway. Eine perfekte Symmetrie. Die Brücke erscheint wie ein abstraktes Kunstwerk. Die Bewohner von Mobile/Alabama sehen in ihr ob ihrer kurvigen Bögen allerdings etwas ziemlich Gegenständliches und haben sie „Dolly Parton Bridge“ getauft. „Selbst die so genannte moderne Musik“, fährt Tweedy fort, „mit all ihren Trennungen und Fragmentierungen, ihrer Loslösung von der darstellenden Kunst und ihren Theorien der Abstraktion, hinterlässt in den Köpfen der Leute hauptsächlich Bilder. Also, warum sollte man das nicht anerkennen und versuchen, es für seine eigene Kunst zu nutzen? Es ist nur ein Versuch. (Jeff Tweedy erscheint wieder im Bild) Was ist falsch daran?“ Ein Schnitt auf Nels Cline, der etwas spielt, das klingt wie ein Bohrer, der auf einen zu harten Stein trifft. Jeff Tweedys akustisches Schrummeln‘ mischt sich in den Vordergrund, er beginnt zu singen: „Fill up your mind with all it can know/ Don’t forget that your body will let it all go/ Fill up your mind with all it can know/ What would we be without wishful thinking.“

„Wilco (The Album)“ ist wohl Wilcos gradlinigste Songsammlung seit „Summerteeth“ von 1999, und zugleich hat man das Gefühl, dass all die Kurven und Schlenker, die sie bei den Alben dazwischen machten, jedes verspulte Gitarrensolo, jedes elektronische Störgeräusch, hier irgendwie in der Tiefe mitschwingen, dass jedes Experiment am Ende zu diesen neuen formvollendeten, tief gründenden Songs führte. „Vor 40 Jahren war sowas im Rock’n’Roll nichts Besonderes“, meint Tweedy. „Man konnte mit Formen und Sounds experimentieren und galt deswegen nicht gleich als Teil irgendeines avantgardistischen Geheimbundes. Jedes Experiment war erlaubt, wenn es dem Song und seiner Wirkung – seinem Gefühl – diente. Genau auf diese Idee berufen wir uns. Und somit sind wir einfach eine Rock’n’Roll-Band. Nicht nach den Standards von heute vielleicht, aber nach denen von damals. Unsere Vorstellung von dem, was wir als Band sind, ist offener und weiter als heute allgemein üblich.“

Wie die Band sich selbst sieht, kann man wohl am besten auf dem Stück „Wilco (The Song)“ hören, das – wie könnte es anders sein „Wilco (The Album)“ eröffnet. Ein stampfender Drei-Minuten-Rocksong, den Nels Cline mit schlierigen Gitarrenspuren durchkreuzt. „This is an aural arms open wide/ A sonic shoulder for you to cry on“, singt Tweedy euphorisiert und dann: „Wilco, Wilco will love you baby.“

„Wir haben kurz mal überlegt, ob wir in den Text noch andere Künstler einbauen, (singt:) , J.Lo will love you, baby‘ – oder vielleicht Nick Lowe oder Devo (lacht). Denn eigentlich geht es in dem Song ja nicht um uns, sondern generell darum, wie Musik einem Kraft geben kann, einen trösten kann. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Ich meine, auf andere Leute kannst du nicht immer zählen, wenn’s dir schlecht geht, aber die Musik, die ist immer da.“

Was das alles mit Alfred aus Milwaukee, dem Kamel auf dem Albumcover, zu tun hat? „Nun ja“, meint Tweedy, „wir wollten einfach ein Bild, das man sich anschaut und denkt: Wie um alles in der Welt ist das passiert? Wir haben viele Sachen ausprobiert, aber Alfred auf einen Balkon zu stellen, war am Ende die einfachste und auch beste Lösung. Ich weiß nicht, ob ich der Einzige bin, der da sofort diesen Satz aus der Bibel assoziiert: ,Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.‘ Ich glaube, dieser Satz passt auf all die Obsessionen und das Thema dieser Platte.“

Ich schaue ihn fragend an. Er nippt an seiner ich-weiß-nichtwievielten Cola Light. „Naja, im Endeffekt sind es ja die gleichen Themen, die mich immer beschäftigen: Sterblichkeit, Trost, Identität und damit verbunden Amerika und die amerikanische Landschaft. Aber dieses Mal ist alles mehr auf den Punkt gebracht, der Ausdruck ist etwas klarer und deutlicher.“

Wilco ist mit dem neuen Album das Unmögliche gelungen. Sie haben ihre ganze Welt, die hier im dritten Stock dieses Warenhauses bereits aus allen Nähten zu platzen scheint, durch das Nadelöhr von elf Popsongs auf eine kleine Plastikscheibe gepresst.

Natürlich haben vor ihnen andere Künstler schon Ähnliches vollbracht. Jeff Tweedy wäre sicher der Erste, der daraufhinweisen würde.

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