Wochenend-Dröhnung

Beim größten Festival in der Nordheide durften normale Männer endlich wieder harte Männer sein

HURRICANE Scheeßel, Festivalgelände *****

Mittlerweile ist Grunge wieder im Nachmittagsprogramm junger Leute angekommen. Gelber Grunge. Von zwei Brüdern aus England mit gelber Oberbekleidung gespielt. Aber warum sind die eigentlich so wütend? Sie spielen „I Want To Break You In Half“, und man muss an Motörheads „Ace Of Spades“ denken, und dieser Kerl im gelben Regenmantel, Eoin heißt er, singt: „Make you run to the hills/Make you piss your pants“. Dafür haben Drenge vom „NME“ den „Best New Band“-Award bekommen. Es gibt natürlich keinen besseren Ort für solch eine Musik als das Hurricane-Festival. Denn bei diesem Rockmeeting hier und jetzt hören Männer Musik von Männern für Männer. Aber Drenge führen alle an der Nase herum. Weil die Männer-Männer diese harte Musik natürlich gut finden, Drenge selber diese Männer-Männer aber doof. Das gelbe Shirt des Drummers und der gelbe Regenmantel des Sängers sind die unsichtbaren Mittelfinger der Band in Richtung dieser Männer.

Fucked Up machen das ähnlich. Auch am Nachmittag. Es ist übrigens Freitag. Der erste Tag des Festivals. Fucked Up kommen aus Kanada. Und einen besseren Bandnamen kann man sich sowieso kaum vorstellen. Außer Fuck vielleicht. Tocotronic waren mal mit ihnen auf Tour, in Amerika sogar. Und auf den Plakaten stand „Fuck“ und in der nächsten Zeile „Tocotronic“.

Normalerweise laufen Festivalansagen ja so: Da kommt jemand wie Robin Thicke oder Jared Leto von 30 Seconds To Mars. „This song’s for all the beautiful girls“, sagen die dann. Bei den Böhsen Onkelz am Hockenheimring gab es sogar eine spezielle Titten-Kamera. Jedenfalls sagt Damian Abraham von Fucked Up einfach: „This song is for everyone that is fat“ und dann spielen sie „I Hate Summer“. Und Abraham, der einen Bauch hat, und einen Bart, und oben ohne ist, er fantasiert von orangefarbenem Laub, von halbnackten Bäumen und träumt von einem Herbst, der niemals zu Ende geht, weil er den Herbst so mag. Fucked Up sind Romantiker, Poeten, Fucked Up sind wundervoll.

Irgendwo spielen The Kooks. Dass es die noch gibt? Dass denen nicht irgendeiner dieser Typen mit AC/DC-Shirts die gute Laune auf die Fresse gehauen hat, weil die Mädchen immer noch auf Luke Pritchard stehen und nicht auf die ganze neomoderne Hartkern-Avantgarde, die draußen im Publikum begleitet wird von den üblichen schlechten Manieren, versetzt mit Billigst-Alkohol und obskuren Chemieküchen-Produkten. Vielleicht ist das der schönste Moment des ganzen Wochenendes: Der Moment, in dem Thees Uhlmann von dem Mädchen von Kasse 2 singt. Tatsächlich gibt es sogar einen Lidl auf dem Festivalgelände mit dem Motto „You Rock – We Care“, und innen steht ein Mann mit einer Steppweste, einer grünen Chordhose und Gummistiefeln. So stellt man sich einen Deichgrafen vor. Dieser Deichgraf ist Public-Relation-Manager der schwäbischen Lebensmittelkette. Missmutig schaut er einigen Typen dabei zu, wie sie versuchen, aus seinen schönen Bierdosen den Reichstag nachzubauen. Überhaupt hat sich die „Festivalkultur“ in den letzten Jahren ja auch bizarr ausdifferenziert. Neben der allgegenwärtigen Musik gibt es allerlei Gaukler-Tand, der an die Videos der kanadischen Popband Men Without Hats erinnert. „Safety Dance“ in der heutigen Version. Momente der Zerstreuung: Das Mädchen von Kasse 2 ist wirklich hübsch.

Im Dunkel der Nacht spielen Arcade Fire. Sie sind müde. Sie spielen Freude (wenig glaubhaft). Sie spielen Saxofon (gleich am Anfang bei „Reflektor“). Win Butler spielt den Frontmann (immer). Régine Chassagne die Frau des Frontmanns (manchmal). Die Bongos glitzern. Die Bühne glitzert. Alles glitzert. Sie spielen „Komm Gib Mir Deine Hand“ der Beatles kurz vor Schluss. Sie spielen das wunderbare „The Suburbs“. Und doch wirkt es wie eine Routine. Arcade Fire, die vielleicht größte Band der Welt, ist vielleicht auch die müdeste Band der ganzen Welt. Routine, Wiederholung. Sie brauchen eine Pause.

Wenn Black Francis von diesem Äffchen singt, das in den Himmel hoch fuhr, wenn Paz Lenchantin, die neue Bassistin, „Your bones got a little machine“ mit einstimmt, wenn vierzigjährige beste Freunde sich in den Armen liegen und achtzehnjährige Mädchen mit Blumenkränzen in den Haaren in der ersten Reihe stehen, wenn alle nur darauf warten, dass „Where’s My Mind“ über das Gelände schwebt, weil sie mit Sechzehn „Fight Club“ gesehen haben, und wenn dann unter einer Mütze und einer Sonnenbrille staubige Frauenhände ein Schild hochhalten „Fuck Kim/We Love The/Pixies“, dann merkt man, warum die Pixies wirklich gut sind. In diesem dissonanten, mächtigen Black Francis, in den die Saiten zerreißenden Soli von Joey Santiago liegt etwas Übernatürliches. Wie der gleichnamige Fischer kämpft er eine Ewigkeit. Der Fischer mit dem blauen Marin. Der Gitarrist mit seinen Saiten. Beide kehren am Ende mit einem Gerippe heim. Alle sechs Saiten brachte der Musiker zum Reißen. Und Joey Santiago träumt von einer niedersächsischen Dorfschönheit, als er mit dem Nightliner vom Gelände fährt.

Es ist halb eins am Morgen. Sonntag. Lily Allen tritt gleich auf der Blue Stage auf. Der Samstag war so ein Rock-Tag, ein beinharter Oi-Oi-Gabba-Gabba-Tag. Auf einer Bühne spielen hintereinander: Donots. Broilers. Dropkick Murphys. Kraftklub. Volbeat. Dadurch merkt man erst, was man an Lily Allen hat. Die hat ja nach einer Babypause ihr drittes Album herausgebracht. Es stehen also große Nuckelflaschen auf der Bühne. Aber weil man als Mutter mittlerweile auch sexy sein muss, trägt sie ein Lackrock, wie man ihn aus amerikanischen Pornos der Neunziger kennt oder wie ihn J. Lo. trägt. Lily Allen setzt sich auf den Bühnenrand. Wir hören Klavier und Stimme. Sie schwärmt von den Zeiten junger Liebe. Das kennen alle – wenn Frauen Shorts und T-Shirts des Freundes tragen, sind sie wirklich verliebt. Anfangs macht man das ja noch. Und irgendwann eben nicht mehr. Dann trägt man Lackkleider und singt zwischen Babyflaschen.

Es scheint das Wochenende der Cover auf deutsch zu sein. Erst Arcade Fire und nun Franz Ferdinands Version vom Erdbeermund. „Ich habe jetzt ein rotes Tier im Blut/das macht mir wieder frohen Mut/komm her, ich weiß ein schönes Spiel“, singt Nick McCarthy.

70.000 Menschen haben Sonnenbrand. Das Riesenrad dreht sich. Alle haben einen Kater und eine kleine Depression am Montag auf der Arbeit. Es spielen noch Fettes Brot und Seeed und James Blake und Moderat und Interpol und Lykke Li und Selah Sue. Am Ende liegen da ein Gerippe und die angeknabberte Grillfackel von Festival-Caterer Steffen Henssler.

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