Zu viele Platten: Eric Pfeils Plädoyer für die Unvollständigkeit

Lagern statt Sammeln, Hören statt Horten: Ein Plädoyer für die Unvollständigkeit – und gegen den männlichen Komplettierungswahn.

Folge 58

In den letzten Monaten war vielerorts von Büchern die Rede, in denen es ums Plattensammeln geht. Nun, das ist im Grunde ja auch nicht schlimm. Mir sind Bücher übers Plattensammeln grundsätzlich lieber als Bücher über das Sammeln von Käthe-Kruse-Puppen. Eine Frage nur: Warum wird jeder Mensch, der statt Soundfiles oder CDs weiterhin (oder wieder) Schallplatten erwirbt, reflexartig als Sammler bezeichnet? Was mich angeht: Ich bin kein Sammler, ich habe einfach nur zu viele Platten. Aber, ob Sie es glauben oder nicht: Ich kaufe das Zeug, um es zu hören. Nicht um es zu horten, irgendwelche Backkataloge sinnlos zu vervollständigen oder gar um Werte anzuhäufen.

Manchmal stehen Gäste vor meinem Plattenregal und sagen Sätze wie: „Na, das ist aber sicher ’ne Menge wert.“ Wie ahnungslos diese Menschen sind! Gar nichts ist das Zeug wert! Es ist nämlich so: Ich gehöre weder zu jenen Menschen, die amerikanische Erstpressungen alter Soul-Platten anzuhäufen pflegen, noch wird man je erleben, dass ich am Record Store Day im Gerangel um limitierten Teuer-Quatsch Kontrahenten mit dem Ellbogen niederstrecke. Noch mal: Ich habe einfach nur zu viele Platten. Darunter jede Menge Mumpitz, der – das legen Umfragen unter Freunden nahe – nur mir allein Freude bereitet (Stichwort: Wolfgang Ambros’ Frühwerk). Glauben Sie mir: Als Altersvorsorge taugt der ganze Krempel definitiv nicht.

Es ist mir schlichtweg nicht gegeben, Musik oder die Tonträger, die dieser Musik als Speichermedium dienen, mit jener Sorte Wert aufzuladen, wie sie wohl in Briefmarkensammlerkreisen einem seltenen Objekt beigemessen wird. Tonträgeranhäufung als Wertanlage – mir total unverständlich. Wann immer dieser seltsamen Sache namens Popmusik, der ich wie eine Menge anderer Leute entschieden zu viel Zeit und Herzblut widme, mit Sammlertum und Werthuberei, Raritätengegeifer und Schnäppchenschlägerei begegnet wird, muss ich mich gruselnd abwenden. Schallplattenbörsen? Grauenhaft. Es gibt wohl kaum einen Ort, an dem man mehr über die schillernde Vielfalt männlicher Körpergerüche erfährt.

Wie gesagt: Ich kaufe Musik, um sie zu hören. Was nicht mehr gehört wird, steht im Weg herum. Sammeln, this ain’t. In der tollen Dokumentation „Wader Wecker Vaterland“ über eine gemeinsame Tournee der beiden Barden, gibt es eine schöne Szene, in der Hannes Wader mit dem Filmteam in seinen Weinkeller steigt. Aha, hört man den Regisseur hinter der Kamera, Herr Wader sammele also Wein. Mitnichten, gibt Wader zur Antwort, er trinke die Flaschen alle innerhalb eines Jahres aus, es komme also gar nicht zum Sammeln. Das präzise Wort sei keineswegs „Sammeln“, sondern „Lagern“. Ich weiß, man kann das überhaupt nicht auf Platten übertragen, aber es fiel mir gerade ein.

Ich komplettiere auch nicht gerne: Selbst meine größten Lieblingsmusiker haben schauderhafte Platten verbrochen, warum sollte ich mir die in die Wohnung stellen? Ich liebe Paul McCartney, aber das ist kein Grund, „Give My Regards To Broad Street“ zu besitzen. Und manche veröffentlichen ohnehin zu viel. Sieh mal an, dachte ich neulich, eine neue Paul-Weller-Platte – ist ja ein Ding. Nichts gegen Paul Weller, aber ich finde der Mann müsste eigentlich gar keine Platten mehr aufnehmen. Ganz andere Leute aber sollten endlich mal ihr Debüt veröffentlichen. Meine Mutter zum Beispiel. Im Grunde hat diese feine Frau mit Musik gar nicht viel am Hut, aber glauben Sie mir: Wenn meine Mutter mal ihr Innerstes in Form einer gepressten Liedersammlung auf die Welt losließe – da wäre was los!

Überhaupt sollten mehr Platten von Nichtmusikern veröffentlicht werden. Fast täglich sehe ich auf der Straße Menschen, deren Musik ich sofort kaufen würde. Auch meinem Postboten traue ich ein paar wunderbare schrullige Lo-Fi-Alben mit tollen Syd-Barrett-Texten zu! Die würde ich dann auch sammeln. Bis dahin aber gilt: Nennen Sie mich von mir aus einen Hochstapler, einen Lügner, einen Idioten, aber bitte nennen Sie mich niemals Plattensammler!

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