Athens, Georgia / Birgit Fuß

„Letter Never Sent“ von R.E.M.

Es war 1984, und eigentlich schrieb Michael Stipe zu dieser Zeit selten Texte, die ganz klar und eindeutig waren. „Murmur“ hieß nicht umsonst so, und „Reckoning“ klang nicht viel anders – es waren Lieder, deren Zauber im Ungefähren lag, in der Andeutung, im Rätselhaften. Umso erstaunlicher der Song „Letter Never Sent“ auf dem zweiten R.E.M.-Album: „It’s been pretty simple so far/ Vacation in Athens is calling me”, singt Stipe zu Beginn, Peter Bucks Gitarre schrammelt sehnsüchtig, Bill Berrys Schlagzeug stolpert unverzagt voran, Mike Mills stimmt mit ein, und dann im Chorus die Behauptung: „Heaven is yours where I live!“

Wer würde das nicht sofort glauben? Zu der Zeit waren R.E.M. fast pausenlos auf Tournee, jahrelang, und natürlich hatten sie Heimweh. Vor allem aber ist Athens, Georgia seit den 80er-Jahren auch ein Sehnsuchtsort für alle, die R.E.M. lieben. Einmal das Kudzu sehen, dieses komische Gestrüpp, das auf dem Debüt-Cover abgebildet ist. Einmal die Eisenbahnbrücke von der Rückseite. Die Kirchen-Ruine, in der sie im April 1980 das erste Konzert gaben. Den 40 Watt Club. Und überhaupt: die rote Erde, den Oconee River, die Glühwürmchen, die liebenswerten Weirdos. Stipe hat uns in geheimnisvollen Bildern eine Welt gezeigt, die eindeutig in den Südstaaten verwurzelt ist und gleichzeitig weit darüber hinausweist. Wer all die konkreten Orte sehen will, findet sie in Athens tatsächlich. Wer die Augen schließt, entdeckt noch viel mehr. (Nicht nur das Pfeifen der Züge in der Ferne oder das Zirpen der Grillen.)

In „Letter Never Sent“ mischt sich die Sehnsucht nach dem Zuhause mit Orientierungslosigkeit: „When I’m moving too fast, where is my new address?” Heute wohnt Michael Stipe meistens in New York, doch Athens, Georgia wird immer eine verzauberte Adresse bleiben. Die größte Kleinstadt Amerikas.

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