Auf der Reise durch das Land der Bekloppten: Thees Uhlmann über das Bahnfahren

Thees Uhlmann über das Bahnfahren: wieso er es liebt – und über was er lieber nicht reden will

Ich möchte nicht über Verspätungen reden. Ich möchte auch nicht über defekte Klimaanlagen reden. Ich möchte nicht darüber reden, wie es angehen kann, dass es in dem einen Waggon 15 Grad warm ist und im nächsten 25 Grad. Ich möchte nicht darüber reden, wie es ist, wenn man auf dem Boden zwischen zwei ICE-Waggons sitzt, weil der Zug völlig überfüllt ist und man feststellt, dass Blaubeeren das falscheste Nahrungsmittel für einen überfüllten ICE sind. Und auch nicht darüber, wie es ist, von einer christlichen Jugendgruppe ausgelacht zu werden, wenn die Blaubeeren beim Rausholen aus dem Weekender sich wie bei einem Rockkonzert in die Luft geschossenes Konfetti verteilen. Wann sind Konfetti und Rock’n’Roll eigentlich zusammengekommen?

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Ich möchte nicht über verpasste Anschlusszüge sprechen und auch nicht über die fast groteske Unerreichbarkeit via Mobilfunk in Zügen. Nicht über die teilweise immer noch katastrophalen Umsteigemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und nicht über die Preispolitik der Deutschen Bahn, die so undurchdringlich erscheint wie der Nebel im Frühling in der Norddeutschen Tiefebene.

Tschhh­pffffff und Ppffffffffschdttt

Ich möchte darüber schreiben, dass ich finde, dass Bahnfahren das Schönste auf der ganzen Welt ist.
 Was gibt es für schöne Geräusche auf der Welt? Das Öffnen einer Bierdose. Der Schlaf eines Kindes. Die Motorsäge auf dem Kopf eines Nazis. Und es gibt das Geräusch von sich öffnenden und sich schließenden ICE-Türen. Das Öffnen – tschhh­pffffff –, Einsteigen, immer unterwegs, immer auf dem Weg, immer von A nach B und über C nach A wieder zurück.

Und hinter einem dann das Ppffffffffschdttt der sich schließenden Tür. Der Beginn der süßen Isolation. Sich mit jahrelang gelernter Kompetenz einen Platz aussuchen und in Windeseile ergattern, der a) möglichst schlecht einsehbar ist, b) in einem leeren Waggon ist, c) frei ist von Störquellen wie jauchzenden Damenausflügen und ADHS-Kids, die Filme gucken ohne Kopfhörer, oder d) auf der Seite des Zuges gelegen ist, der nicht von der Sonne geflutet wird, was Arbeiten und Lesen unmöglich macht.

Denn eine Sache tun wir nicht: Abdunkeln. WIR LASSEN DIE JALOUSIE OBEN! Wir wollen rausgucken. Wir wollen schauen, wie sich das Land verändert. Ob es schön ist, ob es hässlich ist, wie die Architektur aussieht, welche Jahreszeit sich ankündigt und welche sich verabschiedet.
Und wir müllen den Platz neben uns in Sekunden voll. Mit Magazinen, Äpfeln und Wasserflaschen, Ladekabeln. Nur damit es sofort so assig aussieht, dass niemand sich neben einen setzen möchte.
Denn wir lieben die Ruhe, die uns die Fahrt zu einem Termin verschafft hat. Wir wollen alleine sein und einer Person, die wir mögen, in Ruhe eine SMS schreiben oder unseren Gedanken nachhängen.

Ich fahre die Strecke Berlin–Hamburg so häufig, dass ich genau weiß, an welche Stelle ich auf der rechten Seite in Richtung Hamburg rausgucken muss, um an einem alten DDR-Bahngebäude den Schriftzug „AFDFHA“ (Alles für den F.C. Hansa Rostock!) zu lesen.
 Und dann denke ich an Marteria. Und dann an Hansa Rostock, und ich frage mich, wie man Fan von diesem Verein sein kann, und dann frage ich mich, ob ein Rostock-Fan gerade genau in diesem Moment dasselbe denkt, wenn er durch Hamburg geht und ein St.-Pauli-Graffiti sieht. Und dann denke ich an Hamburg und daran, wie sehr ich es immer noch vermisse, und denke darüber nach, ob ich Hamburg vermisse oder nur eine Idee eines Hamburgs vermisse, das schon lange nicht mehr da ist, und dann denke ich darüber nach, ob ich überhaupt noch Städte mag, denn der Rotwein braucht keine Subkultur und keine vierspurige Straße. Rotwein braucht nur ein Glas und einen guten Freund zum Teilen.

Kaffee, denken, Kaffee, schneller denken

Und dann schlafe ich. Diesen süßen Schlaf, in den man nur fällt, wenn der ICE einen monoton wie die schützenden Arme eines Vaters aus Stahl, Plastik und Kabeln in den Schlaf wiegt.

Und was macht man nach dem Aufwachen? Richtig! Kaffee trinken. Ab ins Bordbistro! Dall­mayr Prodomo. Ein Name, als wäre die Mauer niemals gefallen. Ich fahre schon lange Bahn, und ich trinke schon lange Kaffee in der Bahn, aber bis heute kann ich mich einfach nicht entscheiden, ob der Kaffee grauenvoll oder grandios schmeckt. Kondensmilch, das Schäbigste, was man aus Kühen machen kann, und ein Artikel, den ich mir noch nie in meinem Leben gekauft habe, läuft wie selbstverständlich in den braunen Kreislaufbeschleuniger. Trinken, schreiben, nachdenken, schneller schreiben, schneller nachdenken.

„Jemand noch einen Kaffee?“ Den zweiten Kaffee dann direkt beim mobilen Kaffeebringdienst. Und dann der Gedanke, dass die Vita eines Menschen, der in einem ICE Kaffee verkauft, wahrscheinlich genauso interessant ist wie die Vita eines international erfolgreichen Künstlers.

Es gibt den Happy Place. Oliver Polak erfand den Horny Place. Ein ICE, der mit Tempo 280 durch die Kasseler Berge schneidet, ist meine Festung der Einsamkeit, meine frei gewählte Gefängniszelle. Ich kann nicht raus und niemand kann rein. Das ist mein Home Place.

Es gibt den Knast hinter Göttingen, es gibt das VW-Werk bei Wolfsburg, es gibt das Wasserkraftwerk kurz vor Essen, es gibt die Weinberge von Saale-Unstrut.
Solange ich noch ICE fahren darf, will mir noch jemand zugucken bei dem, was wir machen. Das macht den Kühlschrank voll, das beruhigt die Nerven.

Aufregen und Akademikerbildungsausflüge

Ich bin auf einer Reise durch das Land der Bekloppten und Bescheuerten, wie Dietmar Wischmeyer es so schön auf den Punkt gebracht hat. Wenn mich jemand fragt, schreibe ich alle Horrorgeschichten auf, die man beim Bahnfahren erleben kann, allerdings folge ich ungern dem Volkssport, sich in einer anonymen Gruppe über eine Sache aufzuregen.

Denn eine Sache habe ich immer als niederträchtig empfunden. Seit einigen Jahren werden die Ansagen in der Deutschen Bahn auf Englisch wiederholt. Schaffnern und Schaffnerinnen, die schon einige Hölzerne Hochzeiten mit ihrem Arbeitgeber gefeiert haben, wurde also vom Chef mitgeteilt: „So, liebe Kartenabknipser, wir sind jetzt international. Alle einen Englischkurs belegen. Sonst Regionalexpress for life!“
 Akzeptierendes Grummeln in der Belegschaft. Man will ja weiterkommen. Und wenn dann neunmalkluge Akademikerbildungsausflüge wissend an ihren Vierertischen kichern, wenn das th sich in den Zähnen eines stark schwäbelnden Schaffners kurz vor der Rente verfängt und man hören kann, dass er eher den Klang der englischen Worte aneinanderreiht, als dass er weiß, was er da eigentlich sagt, dann drehe ich durch. Dann erinnert mich das daran, wie ich damals in Mathe ausgelacht wurde, nur weil Zahlen ein Konzept sind, das sich mir nicht erschließt. Und dann kann man mal sagen: „Schön über Leute lachen, die nicht so gut sind wie man selber, häh? Was für ein schöne Einstellung zum Leben!“ Dann ist Ruhe im Puff, wie man früher sagte.

Und dann ist es wieder still, und dann kann ich endlich wieder das tun, was ich am liebsten mache: alleine Bahn fahren.

(ROLLING STONE 10/2015)

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