Bauchgefühle: Brasilien oder Kroatien? Überschätzte Osteuropäer treffen auf genialische Latinos
Ich glaube ein bisschen weniger an die Deutschen, Turniermannschaft hin und her. Es ist zu viel passiert, es kommen zu viele Dinge zusammen - darüber schreiben wir noch an den nächsten Tagen.
Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.
Ein paar Spekulationen zum Auftakt: WM-Blog, Folge 1
Geht ja schon gut los“ meinte der Taxifahrer am Morgen, als in den Nachrichten von den Streiks des Flughafenbodenpersonals in Brasilien die Rede war. Ja, die WM… Klar, wir sind solidarisch mit den Brasilianern, die nervt, was aus den Versprechungen nach der Vergabe der WM wurde, ein paar Streiks wären auch in Deutschland gut, schon damit hier keiner einschläft. Und in Brasilien haben die Leute bestimmt auch ihre guten Gründe. Wen stört es nicht, wie der Fußball von seinen Funktionären verraten und verkauft wird, und wer würde nicht gern weiterhin an den Kitsch von den brasilianischen Straßenfußballern glauben, an die Märchen vom Tellerwäscherkicker zum Fußballmillionär?
Am Ende geht es um Fußball ganz viel um Märchen und Mythen, wie in der Politik, und so unsympathisch ist der Gedanke nicht, dass man vielleicht irgendwann einmal im Rückblick von der Fußballrevolution reden wird, von Umsturz und Revolte, die damals bei der Weltmeisterschaft ihren Anfang nahmen. „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus…“ Wenn das einer in ein paar Wochen schreiben könnte, wäre die WM bereits ein Erfolg.
Andererseits… Bitte erst nach den Spielen. Entscheidend is aufm Platz, jedenfalls ab heute. Jetzt wollen wir Fußball sehen, Siege und Umstürze auf dem Platz, Revolutionen des Spielsystems und Streiks höchstens bei der Torlinientechnik. Die deutschen Reporter sollen auch alle rechtzeitig landen, duschen und dann ab ins Stadion kommen, damit wir was zu lesen haben.
Aber einen Akt des Widerstands versprechen wir hiermit schon heute hoch und heilig: Wir werden nie mehr „FIFA-Weltmeisterschaft“ sagen. Die korrupten Rentner von der FIFA und ihre Geschäfte, die können uns mal…
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Es geht also los! Endlich. Klar, es gibt viel zu sagen zur Fußball-WM, und für eine ganze Menge davon wird hier auch in den nächsten Wochen Platz sein. Zum WM-Auftakt warten wir einfach mal ab, wie es sich anlässt. Wir wissen noch nichts, aber wir vermuten alles und haben – neben leicht ansteigendem Eröffnungsbauchkribbeln – allenfalls Bauchgefühle.
Wenn man mit dem Bauch fühlt, dann ist das so eine Sache: Meistens stimmt es doch nicht ganz, aber man muss es mal aufschreiben, damit man sich hinterher nicht streitet, wer was behauptet hat. Darum freue ich mich schon auf Leserkommentare zuhauf – aber bitte auch inklusive Mitteilung des jeweiligen Bauchgefühls.
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Ich glaube also: An Spanien, an Argentinien, an Italien. An Italien, weil sie fast immer weit kommen, und Glück haben, egal wie schlecht sie spielen. Und zweimal hintereinander scheiden sie nicht bei einer Vorrunde aus. An Argentinien glaube ich, weil die mal wieder dran sind, weil in Lateinamerika Lateinamerikaner besonders gut spielen, und weil die Argentinier nicht mal zehn Prozent so unter Druck stehen, wie die Brasilianer, von denen ja alle mindestens den Titel erwarten. An die Spanier glaube ich, weil sie gut sind, weil sie immer wieder, trotz allem unterschätzt werden. Und weil die in Deutschland besonders grassierende Tiki-Taka-Verachtung noch nie gestimmt hat. Das ist nur Verkennung der Kunst und Professionalität. Spanien hat wieder gute Chancen
Ich glaube ein bisschen weniger an die Deutschen, Turniermannschaft hin und her. Es ist zu viel passiert, es kommen zu viele Dinge zusammen – darüber schreiben wir noch an den nächsten Tagen. Für Viertelfinale sollte es trotzdem langen, oder?
Über Belgien schreiben alle. Aber erklärte Geheimfavoriten sind selten so gut, wie alle vorher glauben. Umgekehrt werden die Holländer und auch die Engländer nicht so schlecht sein, wie jetzt alle schreiben.
Brasilien weit vorne zu sehen, ist keine Kunst. Bleiben noch die Chilenen. Und ein Land aus Afrika. Aber welches?
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Heute Abend geht’s also los. WM-Eröffnungsspiele sind oft ziemlich krampfig. Wir müssen also das Schlimmste befürchten. Aber wenn die Brasilianer sich nicht vom eigenen Druck lähmen lassen, könnte es diesmal ganz anders werden. Denn zwei Fußballkulturen treffen aufeinander, deren Kombination für Offensive, für viele Tore und Löcher in der Abwehr stehen: Überschätzte Osteuropäer treffen auf genialische Latinos. Könnte natürlich auch auf viel Geriegel, kroatische Blutgrätschen und brasilianische Verkrampfung hinauslaufen. Aber seien wir mal optimistisch zum Auftakt.
Ein 5-0 für Brasilien wäre jedenfalls mein Wunschergebnis. Aber ein 1-0 tut’s auch. Das tippe ich mal aus Zweckpessimismus. Jedenfalls bitte heute Nacht keine karierten Flaggen auf dem Kudamm…